Zesens zweihörniges Einhorn und Gotthelfs schreibende Kuh

Lena Kugler, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann geben literarische und historische Quellen zur Tiergeschichte heraus

Von Adrian RobanusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Adrian Robanus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Interesse an der historischen und kulturellen Bedeutung von Tieren hat in der Geschichtswissenschaft inzwischen eine Vielfalt von Forschungsprojekten hervorgebracht. Während im ersten Band von Tiere und Geschichte mit dem Untertitel Konturen einer Animate History die Bedeutung von Tieren für die Geschichte und die Geschichtswissenschaft in Fallstudien vorgeführt und theoretisch reflektiert wird, bietet der zweite Band nun exemplarisches Quellenmaterial für eine Animate History. Es handelt sich dabei sowohl um im engeren Sinne literarische als auch allgemein-geschichtliche Quellen. Der Band ist ein innovativer Ansatz, Forschung und Lehre engzuführen: Die Quellenkommentare des Buches sind sämtlich von Studierenden verfasst, die sich mit der Thematik in zwei Projektseminaren an der Universität Konstanz auseinandergesetzt haben. Gerahmt ist der Band von einer theoretisch-methodischen Einleitung der HerausgeberInnen Lena Kugler, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann.

Das Spektrum der ausschließlich deutschen Quellen reicht dabei vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Eingeordnet sind sie in die Kategorien „Tiere und Geschlecht“, „Tiere und Gesellschaft“, „Tiere und Imperium“, „Tiere und Medien“, „Tiere und Politik“, „Tiere und Raum“, „Tiere und Wirtschaft“ sowie „Tiere und Wissenschaft“. Die heuristische Funktion dieser Kategorien und der selektive Charakter der Quellen werden auch in der Einleitung hervorgehoben. Die Anlage des Bandes setzt dabei programmatisch auf die Vielfalt der Interpretationen. Gemeinsam ist den Ansätzen, dass sie sich zum Ziel gesetzt haben, den Tieren in der Geschichte auf eine neue Weise gerecht zu werden. Das wird auch sprachlich deutlich, wenn beispielsweise statt des abwertenden Adjektivs „tierisch“ das neutralere „tierlich“ benutzt wird. Programmatisch wird vor allem betont, „dass Tiere mehr sind als rein diskursive Figuren“. Sie sollen als „materielle Wesen, die ihre historischen Spuren hinterlassen haben“, untersucht werden.

Die dargebotenen Quellentexte bieten eine Mischung aus einschlägigen und weniger bekannten Themen und Autoren. Eine Würzburger Hundeverordnung von 1811 findet sich im Korpus ebenso wie ein Ausschnitt aus E.T.A. Hoffmanns Haimatochare, Ernst Jüngers Zukunftsroman Gläserne Bienen steht neben einer Katzenfutterwerbung. Die intendierte Offenheit der Selektion der Quellen hat allerdings ihre Kehrseite in einer gewissen Kontingenz in der Schwerpunktsetzung, etwa, wenn sich sechs der neun Quellen in der Kategorie „Tiere und Gesellschaft“ auf Hunde beziehen.

Die Kommentare selbst situieren die Quellen jeweils historisch, zuweilen auch biografisch. Methodisch sind die Ansätze durch den Impetus der kritischen Offenlegung und Dekonstruktion von Zuschreibungen geprägt. Die an Tieren interessierte Geschichtswissenschaft hat die Akteur-Netzwerk-Theorie aufgegriffen, um jeweils die bisher oft vernachlässigte oder ignorierte Agency von Tieren in der Geschichte herauszuarbeiten. Dieses Interesse an der Handlungsmacht der Tiere prägt auch die Kommentare. Diese sind durchgehend darauf bedacht, Tiere nicht nur als Träger kultureller Zuschreibungen zu lesen, sondern deren eigene Mitwirkung bei der Produktion von Zuschreibungen herauszuarbeiten. Der Unterschied einer geschichtlich realen Agency (etwa des Springpferdes Meteor) und einer, vor allem literarischen Texten, zugeschriebenen Agency (etwa des Marders aus Kafkas In unserer Synagoge) bleibt dabei als implizite Spannung bestehen. Hier liegt eine Fragestellung verborgen, mit der sich die methodisch reflektierte geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Tieren sicher weiter befassen muss. In der vorliegenden Quellensammlung ist sie in den Beiträgen jeweils individuell und zumeist überzeugend gelöst. Nur an manchen Stellen entsteht der Eindruck, dass die Analysehaltung ihrerseits einen projektiv-teleologischen Charakter annimmt, etwa wenn der Hund in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als „moderner als angenommen“ interpretiert wird, da er in der Lage ist, Übersinnliches wahrzunehmen und man darin die Gemeinsamkeit von Rilkes „künstlerische[r] Programmatik“ und „den Ansprüchen der Animate History“ sieht.

Zuweilen scheint zudem die Quellenkritik etwas zu kurz zu kommen, wenn zum Beispiel im Beitrag „Wütende Hunde“ zu einem Ausschnitt aus Franz Christian Karl Krügelsteins Die Geschichte der Hundswuth und der Wasserscheu und deren Behandlung (1826) aus offensichtlich genderpolitisch projektiven Aussagen zur Beziehung zwischen Frauen und Schoßhündchen auf tatsächliche Praktiken geschlossen wird. Auch die historische, insbesondere wissenschaftshistorische Situierung der Quellen ist zuweilen etwas ungenau. So irritiert es im Beitrag zur Froschpistole von Emil du Bois-Reymond von 1874, wenn in einem Absatz die Zuckung des Froscharms mit dem Vokabular der Biochemie des späten 20. Jahrhunderts erklärt wird. Ähnliches gilt für den Beitrag „Gut gebrüllt, Löwe!“: der Rückgriff auf eine ethologische Studie von 1973 zur Gegenüberstellung des Löwen aus Gottfried Kellers Pankraz der Schmoller von 1856 und des „realen Löwen“ ignoriert die Einsicht, dass ethologisches Wissen historisch variabel ist, sodass hier wissenschaftliches Löwenwissen aus dem 19. Jahrhundert zum Vergleich adäquater gewesen wäre.

In vielen Fällen kann die Animate History aber erhellende Einsichten zu den Quellen geben, etwa wenn Maria Tauber die materiell-semiotischen Zusammenhänge zwischen dem Springpferd Meteor, den medialen Diskursen um dieses Pferd und seinem steinernen Denkmal herausarbeitet oder Beate Rippel die besondere Position von Schiffskatzen auf Schiffen als Heterotopien darstellt. Durchweg gut gelungen ist auch die Mischung aus eher informierender Kontextualisierung und dezidierten Interpretationsangeboten. Gerade deswegen ist das Kalkül des Bandes, durch seine textuellen und bildlichen Quellen „dezidiert zu einem weiteren (Ge-)Fährtensuchen“ herauszufordern, voll aufgegangen. Viele wertvolle Fundstücke animieren dazu, diese mit den Kommentaren und über die Kommentare hinaus zu interpretieren. Das ist etwa der Fall, wenn Philipp von Zesen ein Flugblatt über einen zweihörnigen Narwal drucken lässt und in den abschließenden Versen das Paradox eines zweihörnigen Tieres, das die materielle Grundlage des mythologischen Einhorns lieferte, bedichtet. Ebenso wenn eine Figur Goethes in einem Damenalmanach eine Sammlung imaginiert, in der der „Einfluß, den die geselligen Tiere auf den Menschen ausüben, in Geschichten“ dargestellt werden soll. Oder wenn Jeremias Gotthelf in seiner Käserei in der Vehfreude eine Kuh einen hochpolitischen Brief formulieren lässt. Etliche der eher unbekannten Tierstellen aus Texten kanonisierter Autoren zeigen, wie viel potenzielles Material es gerade für die literaturwissenschaftlichen Animal Studies noch zu erschließen gibt. Die Sammlung leistet hier beeindruckende Pionierarbeit.

Das Experiment einer ausschließlich von Studierenden kommentierten Quellensammlung ist somit trotz einiger Ungenauigkeiten im Detail insgesamt auf zweifach bereichernde Weise geglückt: Literarische und historische Quellen einer Animate History ist nicht nur eine erfrischend vielseitige Quellensammlung, sondern kann auch als anregende Einführung in die grundlegenden Fragen der Cultural and Literary Animal Studies, der Human-Animal Studies und der Animate History gelesen werden.

Titelbild

Lena Kugler / Aline Steinbrecher / Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Band 2: Literarische und historische Quellen einer „Animate History“.
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017.
316 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783515118705

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