Zeiten-Wechsel mit „Omi“

Helmut Kuhn ist mit der Romanfigur Holli Umsiedler ein warmherziger Vergangenheitsforscher gelungen

Von Renate SchauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Schauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn einer Holli Umsiedler heißt und sich seiner heimatvertriebenen Omi annimmt, klingt das nach einer schicksalhaften Verschränkung ohne Schnörkel. Tatsächlich trägt dies die Grundstimmung des Romans Omi von Helmut Kuhn, einem Autor, der sehr gewandt mit Sprache umgehen kann und von dem literarisch vermutlich noch einiges zu erwarten ist.

Nur wünscht man sich, dass er künftig seine Experimentierfreude etwas zähmt oder besser kanalisiert. Denn weil die Geschichte mit der Omi, der er gerne eine Rückkehr in die Heimat ermöglichen möchte, nicht allzu üblich geraten soll, ist ein überirdisches Wesen hineingewebt, das ungerechtfertigt Aufmerksamkeit absorbiert. Zwar ist dieses surreale Lichtmädchen namens Marylong amüsant und weist mit spitzen Fingern in futuristische anmutende Fantasie-Welten, aber der Versuch, sie mit der Welt der Heiligen von anno dazumal zu verquicken, provoziert Grinsen wie bei einer Satire. Das sollte vielleicht auch so sein, aber der wohl ebenfalls beabsichtigte Effekt, die Jugend mit ins Boot zu holen bei einer Materie, die für gewöhnlich eher ältere Semester fesselt, verliert dadurch erheblich an Wirkkraft.

Weil aber jedes Buch ein Alleinstellungsmerkmal braucht, kann man die Kunstfigur Marylong durchgehen lassen, obwohl sie manchmal mehr stört, als dass sie das Spiel „Zeiten-Wechsel“ wirklich gut illustriert. Dass man seitens des Verlages auf die Kombination „Familiengeschichte und Roadtrip“ (Cover) verfallen ist, weist wiederum auf das Liebäugeln mit LeserInnen unter 40 hin und entspricht Gott sei Dank nicht dem Inhalt des Romans. Wohl aber darf man den Adjektiven „einfallsreich, warmherzig und … charmant“ Glauben schenken.

Die Omi (Jahrgang 1921) hat ein Frauenschicksal, das viele ihrer Generation erlitten: kaum verliebt, verlobt, verheiratet – schon raubt der Tod den Mann. Den letzten Brief von der Front bewahrt sie im Portemonnaie auf. Dass er sich über 60 Jahre so gut gehalten hat wie dargestellt, ist wohl der künstlerischen Freiheit des Autors zuzurechnen. Holli ist bei der Omi und ihrem zweiten Mann August aufgewachsen, weil die Mutter (Jahrgang 1941)… Ja, deren Schicksal spielt keine Rolle, wobei es sich in dem hier relevanten Ausschnitt – nämlich des Verzichts auf die Erziehung ihres Sprösslings – eben aus dem Zeitgeschehen ableiten lässt, das von Katastrophen wie Krieg und Vertreibung geprägt ist.

Omi ist jedenfalls lebenstüchtig gewesen, ehe sie pflegebedürftig wurde. Die gedanklichen Reisen in die Vergangenheit unternimmt sie verbal mit ihrem Enkel. Doch als sie ins Pflegeheim muss und er ihren Haushalt auflöst, entführen ihn Briefe und andere Erinnerungsstücke ebenfalls in das Leben der Großmutter und ihre einstige Heimat, das Sudetenland. Der Autor verzichtet weitgehend auf Interpretationen, die heutzutage gerne einem Text unterlegt werden, um damaligem Geschehen aus heutiger Sicht das „politische Korrekte“ angedeihen zu lassen. Dieser Verzicht ist ein Plus des Romans. Lesende verstehen auch so, wenn zwischen privaten Briefen ein Verpflichtungsschein auftaucht: „Der Gefr. Kreuzberg verpflichtet sich für weitere zehn Dienstjahre bis zur Vollendung des 12. Dienstjahres zu allen Dienstleistungen in der Wehrmacht… Schreckliches Getrenntsein. Danke für dein Verständnis.“

Das Bedrückende erhält in diesem Roman aber nie die Oberhand. Auch nicht, wenn um die Einschränkungen durch Omis Demenz-Erkrankung geht. Die alte Frau möchte heim, weiß aber nicht mehr, wo das ist. Die Desorientierung wird genauso glaubhaft geschildert wie das Bestreben des Enkels, sie so oft wie möglich zu besuchen, ihr insgesamt nahe zu sein und gerecht zu werden.

Die Liebe zur Omi verstellt Holli Umsiedler aber nicht den Blick. Die Umstände werden nicht verklärt. „Warum ist es am Ende so würdelos?“ Kurz und knapp drückt der Enkel sein Mitgefühl und Bedauern mit dieser Frage aus. Dennoch vermag der Erzählstil ein Versinken in Beschwernis, Trost- und Ausweglosigkeit zu vermeiden, der Eindruck einer neugierigen Wanderung zwischen verschiedenen Epochen und Sphären lässt keine Endzeitstimmung aufkommen.

Es ist vollkommen unerheblich, ob Holli tatsächlich mit dem Transporter vorfährt und die Greisin, die inzwischen im Haus am Frauenberg (solche Namensgebungen würzen den Roman an mehreren Stellen) Gebisse und Gummibärchen stibitzt, zu einem Ausflug ins heutige Tschechien abholt. Die Kraft liegt darin, dass sich Rückblenden und Gegenwart abwechseln und Bewertungen entbehrlich sind. Da ist keine Befangenheit dem Gestern gegenüber, kein Gefangensein auf vorbestimmtem Pfad, sondern es dominiert die vitale Betrachtung, gelegentlich in nahezu spielerischer Manier. Jede Menge Schicksal wird vergegenwärtigt, aber der „Zeiten-Wechsel“ schwingt immer mit, denn nichts bleibt, wie es ist.

Diesem Roman merkt man an, dass sein Autor Helmut Kuhn (Jahrgang 1962) schon aus vielerlei Perspektiven die Welt betrachten konnte – unter anderem verfasste er als Co-Autor zusammen mit Murat Kurnaz Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo (2007). Er war Reporter für namhafte Printmedien und lebt heute als Autor und Dozent für Journalistik und kreatives Schreiben in Berlin.

Titelbild

Helmut Kuhn: Omi. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2016.
318 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002329

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