Alles andere als klein

Sophie Lichtenstein übersetzt mit Moyshe Kulbaks „Montag – Ein kleiner Roman“ ein fast vergessenes Stück Weltliteratur

Von Stefanie WeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Weiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„In der Stadt, der revolutionären, lebte ein Lehrer für Hebräisch, der ein ruhiger Mensch war – Mordkhe Markus.“ Mit diesen Worten eröffnet Moyshe Kulbak sein Buch Montag – Ein kleiner Roman. Um diesen ruhigen Mann herum toben in und um die Stadt Vilnius 1917 im damaligen russischen Kaiserreich Revolution und Bürgerkrieg. Während alledem bleibt Mordkhe Markus in seiner Dachkammer und beschäftigt sich mit metaphysischen Spekulationen. Wer bin ich? Was ist mein Ziel? Welche Politik ist die richtige? Und welchen Platz hat Religion und vor allem das Judentum in all dem noch? Das sind Fragen, die den nachdenklichen Mordkhe Markus umtreiben.

„Er ist Schwankender, Zerrissener zwischen den Welten“, beschreibt Lichtenstein ihren Eindruck von Kulbaks Mordkhe Markus in ihrem Nachwort. Während er in seiner Kammer oft über den kanonischen religiösen Texten sitzt und sich vor allem dem Buch Hiob widmet, beschäftigt er sich andererseits auch mit modernen Philosophen wie Bergson, Schopenhauer und Nietzsche. Auch scheint er zerrissen zwischen den Teilen der Revolution, die er für gut für das jüdische Volk hält und dem, was sich nicht mit seinen Überzeugungen vereinen lassen. So steht er auch zwischen der jüdischen Tradition und der Politik und fühlt sich scheinbar keiner Seite wirklich zugehörig.

Das starre Nachsinnen liebt er und die Armut und das Leben der „Armenleute“ findet er erhaben. Hier grenzt er sich klar vom aufkommenden sowjetischen Kommunismus ab, in dem die Armut keinen Platz haben sollte. Für einige Zeit lebt er selbst unter den Menschen, die er aus seinem kleinen Fenster so lange beim Betteln bewundert hatte, predigt ihnen und zieht wie eine Art Messias mit ihnen durch die Straßen. Als er sich dadurch als Konterrevolutionär verdächtig macht und sogar eingesperrt wird, fühlt er sich in seiner schlichten Zelle, in der er nur liegen und nachdenken kann, besonders wohl und würde bei seiner Entlassung am liebsten dort bleiben. Seine gewünschte „Philosophie der Negation“, die reine Passivität, das Zusehen trifft bei den anderen Figuren jedoch zumeist auf wenig Verständnis in Zeiten von Revolution und Bürgerkrieg.

In seinen Tagträumen und seinem reglosen Nachdenken, die mit der Realität einfach nicht in Einklang gebracht werden wollen, entfernt sich Mordkhe Markus mit der Zeit immer weiter vom Leben selbst. Während es draußen vor seinem Fenster tobt und Schüsse fallen, liegt er steif auf seinem Bett und verliert sich in seinen Überlegungen. „In der Stadt, so schien es, kannte ihn niemand und selbst sein Vater hatte ihn bereits vergessen, weshalb er in Ruhe auf dem Dachboden leben und sein Nachsinnen genießen konnte.“ Die einzige Vertraute ist dabei das Fräulein Gnesye, das ihn regelmäßig in seiner Dachkammer besucht und wie gebannt an seinen Lippen hängt, wenn er mal wieder vor sich hin philosophiert. So belesen Mordkhe Markus jedoch in seinen hebräischen und philosophischen Texten sein mag, die für den Leser offenkundigen Gefühle des Fräulein Gnesye bleiben für ihn unerkannt.

Auch die meisten anderen Figuren der Geschichte nehmen eine eher passive Rolle ein. Der Vater von Mordkhe Markus, Reb Yude, ein Krämer, verschläft so zum Beispiel an die Wand seines Ladens gelehnt fast alles, was in der kleinen Stadt passiert. Und während im Salon des Doktors über die Revolution diskutiert wird, spielt seine kleine Tochter zur gleichen Zeit Kammermusik am Klavier. Abschnitte wie diese lassen die Geschehnisse zuweilen wie aus der Zeit gefallen und trotz ihrer Ernsthaftigkeit fast märchenhaft erscheinen. Die verniedlichten Worte, „Zigarettchen“, „Kerlchen“ oder eine Granate, die ins „Flüsschen“ fällt, können aber nicht davon ablenken, dass es in der Stadt zu Vergewaltigungen, Schießereien und anderer Gewalt kommt. Einen Revolutionspathos vermeidet Kulbak so jedoch ganz eindeutig.

Zwischen dem Philosophieren über den Sinn des Lebens und der Revolution bleiben traditionelle jüdische Lebensbereiche und Rollen aber ebenfalls präsent. Die geschieht unter anderem durch die teils beibehaltenen jiddischen Termini, die Lichtenstein in einem kurzen Anhang übersetzt und erklärt. So lernt der Leser, dass ein „Hekdesh“ ein Asyl für arme und kranke Juden ist und welchen Stellenwert die „Tsadikim“ einnehmen. Letztere sind im jüdischen Glauben 36 fromme Männer, die mit ihrem Glauben die Welt im Innersten zusammenhalten.

In Montag widmet sich Moyshe Kulbak keinen Ereignisberichten, sondern eher der Dynamik hinter diesen. Man sollte also keinen historischen Bericht der Geschehnisse in Vilnius erwarten. Viel mehr werden die Proletarier zur gesichtslosen Masse, die wie ein einzelner Mensch handelt und von Reden elektrisiert wird, deren Themen der Leser nie erfährt. „Das Proletariat hatte den Gürtel um den Bauch geschnürt und ging um acht Uhr ins Stadttheater.“ Durch diese abstrakte Verarbeitung und den fragmentarisch wirkenden, meist kurzen Kapiteln wirkt der Text an manchen Stellen fast zeitlos, ohne dass die erzählten Ereignisse ihren Wahrheitsanspruch verlieren.

Denn wie schon die Übersetzerin des Werkes, Sophie Lichtenstein, in ihrem Nachwort feststellt: „Nichts an diesem Roman ist klein, lässt man einmal die Länge des Textes außer Acht.“ So eröffnen sich dem Leser bei wiederholter Lektüre immer wieder neue Aspekte des dicht angefüllten Werkes. Die fragmentarischen Textabschnitte mögen so beispielsweise die Zerissenheit innerhalb der Figur des Mordkhe Markus widerspiegeln.

Erst achtzig Jahre nach Kulbaks Tod wurde dieser 1926 erstmals in einem Warschauer Verlag veröffentlichte Roman jetzt ins Deutsche übersetzt. Als einer der ersten jiddischen Schriftsteller setzte Moyshe Kulbak sich mit den Revolutionen von 1917 und deren Auswirkungen auf das jüdische Leben auseinander. Wer sich mit der Biografie des Autors beschäftigt, stellt schnell fest, wie nah die Figur des Mordkhe Markus an sein eigenes Leben angelehnt war. Auch Kulbak arbeitete als Lehrer für Hebräisch und hatte neben der traditionellen jüdischen Schulbildung eine Ausbildung an der säkularen Volksschule erhalten. Als seine Literatursprache wählte er während seiner Arbeit als Lehrer bewusst das Jiddische und veröffentlichte mehrere Gedichtbände. Schon damals fand er sowohl bei Lesern als auch Kritikern große Anerkennung. Viele seiner Erlebnisse wie seine Jahre in Berlin, in denen er selbst in Armut lebte und hungernd schrieb und an jiddischen Theaterstücken mitwirkte, verarbeitete er in Montag in Form der „Armenleute“.

Noch 1917 war die Größe der jüdischen Bevölkerung im russischen Reich auf einem Höhepunkt und in den folgenden Jahren waren Jiddisch schreibende Intellektuelle sehr zahlreich und angesehen. „Jiddisch war zur Nationalsprache der sowjetischen Juden geworden.“, erklärt Lichtenstein in ihrem Nachwort. Anders als erhofft, wurde zu Beginn der 1930er Jahre die jiddische Kultur jedoch nicht durch die Sowjetunion gefördert, sondern verboten. Auch bereits bestehende Werke wurden hier der Kritik unterzogen, denn alle Werke sollten in Form und Inhalt den Idealen der sozialistischen Literatur angepasst werden. Mehrere Jahre lang arbeitete Kulbak erfolgreich für jiddische Verlage und literarische Zeitschriften und veröffentliche neben weiteren Gedichtbänden Dramen und Prosa, bis er dann im September 1937 nach einem Schauprozess erschossen und so eines der ersten Opfer des Stalinismus wurde. Ebenso wird Mordkhe Markus am Ende von Montag – Ein kleiner Roman als Konterrevolutionär an der Wand vor seinem Haus erschossen.

Auch deshalb ist die jetzt erschienene Übersetzung des Romans von Sophie Lichtenstein so wertvoll. Der Jiddistin, Literatur- und Sprachwissenschaftlerin ist es gelungen, ein fast vergessenes Werk wiederzubeleben, das besonders auch aufgrund seiner historischen Einordnung zur Weltliteratur zu zählen ist. Dabei bezeichnet sie selbst das als Roman betitelte Werk als „lyrisch-philosophisches“ Poem mit expressionistischen Zügen. Durch den in der Übersetzung beibehaltenen lyrischen Rhythmus des jiddischen Textes, mit Eigenschaften wie der dort typischen Attributnachstellung, sowie die historischen Vergleiche und Analogien vermitteln sich auch dem deutschen Leser die Eigenarten dieser alten Literatursprache.

Dieses verdichtete, mit neuen Worten, Geschichten und Bezügen angereicherte Werk bleibt gerade durch seine fragmentarische Schreibweise und den zeitunabhängigen Themen – wie den elementaren Menschheitsfragen – weiter aktuell. Durch die Beibehaltung jiddischer Termini in der Übersetzung und das gelungene und ausführliche Nachwort Lichtensteins finden eine ganze Lokalliteratur und eine bedeutende, jahrhundertealte Literatursprache sowie ein trotz seiner literaturhistorischen Bedeutung zumindest in Deutschland recht unbekannter Autor die verdiente Beachtung. Die Kürze des Textes von knapp 120 Seiten darf hier nicht über die Themendichte täuschen, die kaum beim ersten Lesen erfasst werden kann. Denn dieser „kleine Roman“ ist vieles, doch gewiss nicht klein.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Moyshe Kulbak: Montag. Ein kleiner Roman.
Übersetzt aus dem Jiddischen von Sophie Lichtenstein.
edition.fotoTAPETA Berlin, Berlin 2017.
111 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783940524614

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