Kulturtipps 2022

Die Mainzer Redaktion von literaturkritik.de nennt ihre kulturellen Jahresfavoriten

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Wie bereits in den vergangenen Jahren, möchte die Redaktion von literaturkritik.de Ihren Leser*innen zum Weihnachtsfest ihre Highlights des vergangenen Jahres näherbringen. Auch 2022 beschränken wir uns dabei nicht auf die Literatur, sondern haben einen breiteren Kreis an Medien im Blick.

 

Tom Odell – Best Day Of My Life

Von Laura Harff

4.45 Uhr am Morgen. Der Heimweg nach einer Party. Im Gespräch ist die Nacht verflogen. Und dann ist es Zeit, zu gehen: 

I don‘t wanna say goodbye
It’s been so long since I
Stayed up late at night
With someone that I like 

Es ist dieses Gefühl, mit dem Tom Odells neues Album Best Day of My Life endet. Wenn man sich spät nachts mit einem Lächeln auf den Weg nach Hause begibt. Dankbarkeit empfindet, dass man diesen einen Menschen in seinem Leben hat. Und das bittersüße Gefühl des Abschieds noch auf der Zunge schmeckt. 

Man wünscht sich, die Zeit würde stehen bleiben. Wünscht sich, man könnte dieses Gefühl in einem Marmeladenglas konservieren und immer dann einen Löffel nehmen, wenn der Alltag mal wieder zu alltäglich ist. 

Best Day of My Life rekonstruiert dieses Gefühl gleich doppelt. Denn wie der perfekte Abend ist auch das Album mit weniger als 30 Minuten Spiellänge einfach zu kurz. Doch anders als im echten Leben kann man die Zeit anhalten und die zwölf nahezu perfekten Songs alle halbe Stunde von vorne abspielen. 

46 Mal habe ich Best Day of My Life 2022 laut Spotify-Jahresrückblick gehört. Dabei ist die LP, die die vielleicht schönsten Songs vereint, die der britische Singer-Songwriter, der hierzulande 2013 mit Another Love bekannt geworden ist, je geschrieben hat, erst Ende Oktober herausgekommen. „It might be my best work“, sagte Odell im September während seiner „monsters“-Tour in Köln. 

Die Songs sind minimalistischer, leiser und melancholischer als man es nach monsters (2021) erwartet hätte. Selbstgemachter Elektro-Pop, Beats und Synthesizer machen dem Platz, was Odells Musik so einzigartig macht. Sie erzeugen ein musikalisches Selbstporträt und was wäre da passender, als die Songs von allem elektronischen zu befreien und zurück zu den Anfängen zu kehren, als es nur Tom Odell und sein Klavier gab.

Best Day of My Life ist in den vergangenen zwei Monaten zu meinem Marmeladenglas geworden. Mein Komfort-Album, Gilmore Girls in Musik-Form. Wenn ich die Songs höre – manchmal auch nur eine kurze Abfolge meiner persönlichen Highlights (Best Day of My LifeFlying :)Just Another Thing We Don’t Talk AboutEnemy und Smiling All the Way Back Home) ist die Welt mit all ihren Widrigkeiten für eine halbe Stunde in Ordnung. Dann weiß ich, dass auf einen traurigen Abend ein nahezu perfekter Tag folgen kann, dass jeder Mensch mal das Gefühl hat, nicht genug zu sein, dass Probleme gelöst werden können, wenn man darüber redet. Und dass es wieder einen Abend geben wird, an dem ich mit einem Lächeln nach Hause laufen werde. 

Dann mache ich mir nur ein ganz kleines bisschen Sorgen, dass ich die Songs irgendwann so oft gehört habe, dass ich sie nicht mehr ertrage. Und weiß gleichzeitig, dass das nie passieren wird. 

 

Everything Everywhere All at Once

Von Jonas Heß

Es passt zu diesem Film, dass ich nicht einmal mit Sicherheit sagen kann, dass es der beste ist, den ich in diesem Jahr gesehen habe. Es ist allerdings ohne Zweifel der außergewöhnlichste, und das qualifiziert ihn bereits für eine Empfehlung. Denn hinter Everything Everywhere All at Once verbirgt sich, was der Titel verspricht: eine multidimensionale Handlung, eine Familiengeschichte, Kung-Fu-Action, absurder Humor und eine Steuererklärung.

Evelyn Wang ist Besitzerin eines Waschsalons, der ihr gemeinsam mit der Betreuung ihres Vaters so viel Arbeit macht, dass sie keine Zeit findet, sich mit ihrem Mann auseinanderzusetzen, der ihr eigentlich nur die Scheidungspapiere zur Unterzeichnung vorlegen will. Obendrein verhält sich die jugendliche Tochter nicht wie gewünscht und eine deftige Steuerprüfung des Salons erfordert die volle Aufmerksamkeit. In diesen dumpfen Stress eines gewöhnlichen Lebens platzt sodann das Wundersame des Multiversums.

Evelyns Mann verhält sich zunächst auffällig ungewöhnlich und kurz darauf befindet sie sich plötzlich zeitgleich vor der Steuerprüferin und mit ihm in einer Abstellkammer, wo er ihr nicht nur eröffnet, dass er aus einer anderen Dimension stammt, sondern auch, dass die unendliche Anzahl an Universen mit allen alternativen Realitäten vor der Zerstörung steht und nur Evelyn sie retten kann. Jede Entscheidung im Leben hat zu einer anderen Zukunft geführt, die nun alle nebeneinander existieren. Evelyn lernt, mit einer Folge absolut unwahrscheinlicher Handlungen auf diese parallelen Dimensionen und damit auf das unendliche Potential und die Kenntnisse ihrer ungelebten Leben zuzugreifen.

Das trifft sich ganz gut, denn Evelyns Leben ist ohnehin nicht so gelaufen, wie sie es sich ursprünglich erhofft hatte. Und so kann nun Lippenstifft gegessen werden oder der verhassten Steuerprüferin ehrlich versichert werden, dass man sie liebe, um auf das Wissen eines Lebens zuzugreifen, in welchem man seit frühester Kindheit Kung Fu gelernt hat, oder zu einer berühmten Sängerin geworden ist. Evelyns Gegenspieler haben diese Fähigkeiten natürlich auch und so entspinnt sich eine Jagd quer durch die Dimensionen. 

Dabei spielen nicht nur Evelyns Mann und ihr Vater eine zentrale Rolle. Ihre Tochter ist es, die sich zu einer mächtigen interdimensionalen Instanz entwickelt hat und in einem Anfall pubertären Weltschmerzes das Multiversum zerstören will. Die Rettung der Welt(en) scheint somit nur über die emotionale Annäherung an die eigene Tochter und die Wiederherstellung einer intakten Familie möglich zu sein.

Das Ganze ist dabei so durchgeknallt, dass man gar nicht wegschauen kann. Jede Minute muss man gespannt sein, was als nächstes passiert. Und tatsächlich haben sich die Schreiber*innen in ihrem Einfallsreichtum keine Zügel anlegen lassen. Ob es um Dimensionen geht, in denen alle Menschen Hotdogs statt Finger haben, Comic-Figuren sind oder schlichtweg Steine als Körper haben – es folgt immer eine noch absurdere Idee, die dann mit den vorherigen vermengt wird.

Schlussendlich sehen wir eine Geschichte über die alltäglichen Herausforderungen einer ganz gewöhnlichen Familie, aber auch über das Universum und das große Ganze, es ist ein Actionfilm aber auch Comedy, ein Film über die abgründige Tragik des nie gelebten Lebens und das große Glück familiären Zusammenhalts. Eben alles überall zugleich.

 

Die Discounter – Staffel 2

Von Johanna Itter

Wenn sich ein Begriff in den letzten drei Jahren eingebrannt hat, dann ist es systemrelevant. Systemrelevante Berufe, systemrelevante Orte. Wie der Supermarkt, mit der einzige Ort, zu dem wir wochenlang gehen konnten. Wer hätte gedacht, dass in diesem Mikrokosmos eine der besten deutschen Serien der letzten zwei Jahre spielt, oder besser: wer hätte es nicht.

Die Mockumentary-Serie Die Discounter ist die deutsche Antwort auf die amerikanische Serie Superstore (2015–2020). 2 Staffeln à 10 Folgen à 20 hochamüsante Minuten. Es geht um den Supermarkt Kolinski Feinkost in Altona. Zu Beginn der Pandemie hätte man hier nicht hamstern können. Produkte sind wochenlang nicht vorrätig oder gar nicht erst vorhanden, Obst und Gemüse größtenteils verschimmelt, abgelaufene Produkte in jeder Regalreihe.

Thorsten Krause ist der Filialleiter, ein völlig ungeeigneter und daher pausenlos überforderter Chef und alles andere als eine Führungsperson für sein junges, unmotiviertes Team. Allein Pina, das graue Mäuschen des Teams, hat den Überblick, die Ideen und den Unternehmergeist, welche zur Leitung einer Filiale notwendig wären.

Die Serie lebt zum einen von ihrem Genre. Wie typisch für Mockumentaries wird das Geschehen in und um den Supermarkt von einer wackeligen Kamera eingefangen. Wie in einer Doku gibt es immer wieder fake Interviewsequenzen mit den Mitarbeiter:innen und Kund:innen. Toll ist auch der Einsatz des Zooms: Es ist ein Kamerablick, der Dinge erhascht und das Ertappen der Mitarbeiter:innen möglich macht, z.B. bei Flirts mit Kund:innen oder einem Quickie im Kühlraum.

Kernelement ist darüber hinaus die Improvisation. So beschränkt sich auch Die Discounter auf ein Drehbuch mit nur wenigen Eckpfeilern. Die Schauspieler:innen improvisieren größtenteils und das gelingt hervorragend. Jede:r schafft es, eine sehr authentische Figur zu kreieren, die Klischees bedient, aber durch dieses sehr natürliche, aufgeweckte Spiel, das keinem durchstrukturierten, 100% logischem Skript folgt, die Figur auch lebendig und originell macht. Und genau hier entsteht die Komik, genau hier wird von einem ins nächste Fettnäpfchen getreten – untermalt von den peinlich berührten Blicken in die Kamera von einer der Figuren.

Das Konzept haben wir den sehr jungen Drehbuchschreibern der Serie – Emil und Oskar Belton und Bruno Alexander – zu verdanken. Sie spielen gleichzeitig Haupt- und Nebenrollen in der Serie und geben ihr durch ihre Unverbrauchtheit und Naivität diesen unverwechselbaren Charme.

Zum anderen lebt die Serie von den Schauspieler:innen, alles bislang unbekannte, ungeschliffene Talente, und von der Gruppendynamik zwischen ihren Figuren. Die Serie transportiert ganz viel Alltäglichkeit. Es gibt kaum Kundschaft im Supermarkt, alles geschieht daher sehr langsam. Die jungen Mitarbeiter:innen, entweder gerade mit der Schule fertig oder schon seit mehreren Jahren dort, langweilen sich Tag ein Tag aus und sind desillusioniert von ihrer Zukunft und unsicher, ob sie jemals den Absprung vom Kassierer:innenjob schaffen werden. Doch je weniger in ihrem Alltag geschieht, desto mehr Raum wird der Gruppe gegeben. Jeder hat in ihr eine klassische Rolle, die ihnen Sinn stiftet, wenn es sonst nichts in ihrem Leben tut. 

Der Leader, der eigentlich immer noch bei Mami wohnt, der Mitläufer, die Streberin, der Loser, der Abiturient, der unter seinen Möglichkeiten bleibt, die Coole etc. Man spürt in jeder Episode: Alle können nicht mit und auch nicht ohne einander und wahrscheinlich würden die meisten so tun als kennten sie sich nicht, wenn man sich zufällig im Club nach Feierabend sieht.

Wenn man dann aber beim alljährlichen Kolinski Sommerfest gegen die Filiale im reichen Eimsbüttel antreten muss, dann bewirkt der Konkurrenzgedanke einen engen Zusammenhalt im eigenen Team. Auch durch Thorsten, der dann doch mal zeigen kann, dass er das Herz am rechten Fleck hat. Das ist dann fast schon rührend. 

Die zweite Staffel hält die Messlatte der ersten weiterhin konsequent oben. Auch das eine Seltenheit in der Film- und Fernsehlandschaft, insbesondere der deutschen. Dazu hält sie neben den komödiantischen auch kurze leise, emotionale Momente bereit. Erneut gibt es prominente Gäste und bekannte Schauspielerkolleg:innen treten auf. Darauf hätte man getrost verzichten können. Vor allem auf Influencer:innen. Die Serie ist auch so ein Juwel.

 

Alex Garland – Men

Von Sascha Seiler

Zwei Aspekte dominierten die Rezeption von Alex Garlands Film Men. Erstens: Thematisch ist es ein Film über weibliche Selbstermächtigung. Zweitens: Die durchaus ekelerregende zyklische Geburtenszene, die das letzte Drittel des Films dominiert und in der – Spoiler – jeder der zuvor agierenden männlichen Figuren aus sich plötzlich bildenden Körperöffnungen die nächste Figur gebiert, immer und immer wieder. Bis die Frau, die im Mittelpunkt des Films steht, am Ende mit ihrem Ehemann konfrontiert ist, der einen angekündigten Selbstmord begangen hatte, nachdem er ihr die Schuld für sein Leid aufgebürdet hat.

So gesehen ist das allegorische Narrativ von Men relativ simpel: Die Hauptfigur Harper begibt sich nach dem Selbstmord ihres Mannes in eine abgelegene ländliche Gegend und wird in dem Dorf zunächst herzlich aufgenommen. Doch warum sehen sich alle Männer des Ortes so ähnlich: Vermieter, Pfarrer, Polizist, die Besucher eines Pubs und sogar ein kleiner, schlecht erzogener Junge? Weil sie alle von einem einzigen Schauspieler (Rory Kinnear) dargestellt werden; selbst der Junge bekommt mittels – wohl bewusst schlechter – CGI Kinnears Gesicht auf sein eigenes projiziert.

Von Anfang an wird Harper von einem nackten, von Grünzeug bedeckten Waldbewohner gestalkt, dann gejagt und bedroht – auch er dargestellt von Kinnear. Dieser wird zwar verhaftet nachdem sie einen Notruf abgesetzt hat, doch schnell wieder frei gelassen. Er sei nur ein verwirrter Mann, der nichts Böses wolle. Doch stellt gerade dieser sich im wahrsten Sinne des Wortes als Quelle der toxischen Männlichkeit heraus, als Ursprung des Geburtszyklus’, der immer wieder neue, toxische Männer ausspeit.

Wie gesagt, diese Deutung ist naheliegend und universell angewandt worden, doch auf den zweiten Blick schlummert in Men viel mehr als eine allegorische Auseinandersetzung mit toxischer Männlichkeit. Tatsächlich sollte man den Blick auf das zyklische Prinzip der ewigen Wiederkehr legen. Garland bedient sich dabei recht offensichtlich zweier Figuren, die im heidnischen Großbritannien recht verbreitet sind: Dem Green Man sowie der sheela-na-gig und deren Kontextualisierung in christlichen Zusammenhängen. Das nennt sich „pagan survivalism“, ein Phänomen, das beschreibt, wie das Heidnische im Unterbewusstsein des christianisierten Großbritannien schlummert und auf seine Erweckung wartet. Die sheela-na-gig ist eine irische Verkörperung der Fruchtbarkeitsgöttin; der Green Man hingegen ein mythisches Wesen, das in erster Linie als Symbol der Wiedergeburt gedeutet wird und den Zyklus eines neuen Wachstums darstellt, der jeden Frühling stattfindet. Die Abbildung des Green Man ist oft als Zierelement an Kirchen, aber auch an profanen Gebäuden zu finden, und seltsamerweise sind Steinstauen der sheela-na-gig gar nicht so selten in britischen Kirchen zu bewundern, wie eben auch in Men

Und gerade wegen dieser zweiten, tieferen Ebene, ist Men ein äußerst lohnenswerter Film, auch wenn die splatter-mäßige Geburtenszene im letzten Drittel die zuvor perfekte Dramaturgie etwas aushebelt. Doch lädt Men zu einer tieferen Beschäftigung mit heute allgegenwärtigen Fragen ein, nicht allein in Bezug auf die Rolle der Frau – die ja letztlich die biologisch Gebärende ist – in der Gesellschaft, sondern auch in Bezug auf das gestörte Verhältnis von Mensch und Natur. 

Das Spannende dabei ist natürlich auch, dass der Film durch seine verschiedenen möglichen Lesarten äußerst ambivalent wird: Der gängigen Lesart des feministischen Horror-Thrillers, in dem die weibliche Selbstermächtigung und der Kampf gegen die allgegenwärtige toxische Männlichkeit im Mittelpunkt stehen, tritt eine zweite, deutlich wertkonservativere entgegen, in der ein Rekurs auf die biologische Realität im Sinne eines Einklangs des Menschen mit der Natur dargestellt wird, der sich die Protagonistin zeitlebens zu entziehen versucht. Wie ist der Film zu werten? Hier könnte die allerletzte Szene aufschlussreich sein, in der die zuvor immer nur über FaceTime auftretende, stets tiefenentspannte Freundin die Protagonistin nach deren Kampf mit den sich gebärenden Männern nach Hause holt. Sie ist schwanger.

 

Maggie Nelson – Bluets

Von Mario Wiesmann

Eine besondere Lektüreerfahrung waren für mich dieses Jahr Maggie Nelsons Bluets, die ich erst jetzt, mit 13 Jahren Verspätung, entdeckt habe. Worum es in diesem Buch geht, ist schnell gesagt: um die Erinnerung an einen Mann im Leben der Autorin, um ihre seit einem Unfall querschnittsgelähmte Freundin und um die Farbe Blau. Auch die Frage, was das miteinander zu tun hat, ist leicht zu beantworten. Blau, das ist die Farbe der Trauer. Blue ist, wer den Blues hat. In den „Bluets“ geht es ums Trauern. Aus Sicht der Autorin hat es aber offenbar mehr mit der Farbe Blau auf sich – was genau, versucht sie in den Bluets herauszufinden. Ihr Buch ist eine Spurensuche, eine essayistische Erkundung, in der Nelson mühelos von Mallarmé zu Yves Klein und dann zu Goethes Farbenlehre springt, um auf der nächsten Seite auf Joni Mitchell und dann auf Platon einzugehen. Nach und nach kommt dabei die Bedeutungsvielfalt der Farbe Blau zum Vorschein. 

Die Bluets sind oberflächlich ein Gegenentwurf zu dem, was seit dem Symbolismus als besonders literarisch gilt: dem andeutenden Schreiben, das in einem einzigen Wort eine ganze Welt enthüllt. Statt es bei einem Wort, vielleicht nur bei einer Andeutung zu belassen, wie Mallarmé es getan hätte, schwingt sich der Text zum Kommentar seines zentralen Symbols auf. In immer neuen Anläufen versucht Nelson, die Bedeutungsfacetten der Farbe Blau sprachlich einzuholen. Diese Anläufe haben mal den Charakter von Thesen, mal von Tagebucheinträgen, können sich über mehrere Seiten oder wenige Zeilen erstrecken. Durchweg sind sie aber sachlich, wenn nicht gar analytisch, verweigern sich also dem suggestiven, raunenden Sprechen. Statt anzudeuten, sollen sie ausdeuten, was sonst im Dunkeln bliebe. 

So machen die Bluets die Gegenprobe, ob sich nicht doch sagen ließe, worüber moderne Literatur sich Schweigen auferlegt hat – nur um in vielfältigen Assoziationen und Erklärungsversuchen zu demonstrieren, wie sich die Idee hinter dem Symbol entzieht. Ist Nelson also gescheitert? Ja, aber nur an dem, woran jede Deutung eines Kunstwerks scheitern muss. Die Bluets habe ich als tiefschürfende Auseinandersetzung mit Trauer und Schmerz gelesen, vor allem aber als flammendes Plädoyer für Literatur in ihrer Unaussagbarkeit.