Armut und Phantasie – paradiesische Anarchie

Thomas Kunst erschafft in seinem neuen Aussteiger-Roman „Zandschower Klinken“ ein unkonventionell aufbereitetes, skurriles Paradies

Von Julia FichtnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Fichtner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Donnerstag werden Konzentration und Fortbewegungsmagie geschult. Zwanzig Zandschower setzen an der Küste zwanzig identische Plastikschwäne aus und übernehmen zwei Stunden lang die Patenschaft über sie, indem sie sich so an Land bewegen wie die Tiere auf dem Wasser.

Bengt Claasen, Mitte 50, hat sein gesamtes Hab und Gut im Auto und landet durch gewollten Zufall in Zandschow, einem fiktiven Ort im äußersten Norden von Deutschland. Ein Feuerlöschteich im Zentrum. Wohncontainer. Plastikschwäne. Hängematten zwischen Apfelbäumen. Zandschow ist Sansibar, der Indische Ozean ist in Zandschow – ein skurriles Paradies, geschaffen trotz Armut, mit viel Phantasie. Materialismus existiert nicht, es herrscht eine Art von paradiesischer Anarchie. Unkonventionell, experimentell und andersartig. Diese Andersartigkeit des Ortes betonend findet dort vieles in „umgekehrter Reihenfolge“ statt und um den „Anschluss an die reale Welt nicht zu verlieren“, halten sich die Bewohner an einen festen Wochenplan. Der fiktive Ort funktioniert also nach anderen Regeln, er bietet die Chance – um die Genreidee aufzugreifen –, durch die (Tür-)Klinken im Romantitel aus dem Leben auszusteigen. Was nach einer paradiesischen Erscheinung klingt, wird allerdings durch indirekt thematisierte, aktuelle Bezüge etwa auf die Corona-Krise geschmälert. Dadurch büßt der Roman etwas an Leichtigkeit ein, die durch das leuchtend gelbe Cover suggeriert wird.

Autor Thomas Kunst, 1965 in Stralsund geboren, erhielt für einen Auszug aus Zandschower Klinken den Niederösterreich Literaturpreis 2018. Seine Romane wurden ebenso wie seine Lyrik vielfach prämiert, unter anderem mit dem Lyrikpreis Meran 2014. Zuletzt erschienen im Suhrkamp-Verlag ist der Gedichtband Kolonien und Manschettenknöpfe (2017). Der Geburtsort Stralsund wird einige Male im Roman genannt, was eine dezente Brücke zum Autor schlägt.

Kunst schafft es, die Andersartigkeit der Geschichte nicht nur in der Handlung zu manifestieren, sondern auch, dies in Sprache und Machart zu spiegeln. So ermüdend die vielen Wiederholungen im Schreibstil auch wirken mögen, Kunsts Montagetechnik bringt die nötige Variation in den Roman: Vertreten sind neben der Haupterzählung diverse, sich abwechselnde Textsorten wie Briefe und Bildbeschreibungen, durch die Claasens Familiengeschichte den Leserinnen und Lesern nähergebracht wird. Die Briefe sind häufig mit Jahreszahlen versehen und weisen so auf einen Zeitsprung in die Vergangenheit hin. Auch kleinere lyrisch anmutende Texte sind in den Roman eingewebt. Dennoch sorgen die vielen Sprünge in der Zeit und der ständige Wechsel zwischen den Textsorten oft für kurzzeitige Verwirrung und machten teilweise mehrmaliges Lesen notwendig.

Aus dem Schreibstil kristallisiert sich ein poetischer Charakter heraus – Kunst gelingt ein wortreiches Spiel mit Bedeutungsvariationen: „Die Zeit der globalen Haltestangen und Wegwerfleinen. Haltestangen in Zügen. Bewegungsstangen in U-Bahnen. […] Abstoßstangen in Bussen. Türöffnungsstangen. Laternenstangen. Ampelstangen.“ Daran wird auch der repetitive Stil sichtbar, der sich durch den gesamten Roman zieht und als das hervorstechendste Charakteristikum zu betrachten ist. Es werden häufig dieselben Sätze oder gar Absätze wiederholt; so entsteht eine betonende Wirkung, die unter anderem Ziel und Grund von Claasens Reise immer wieder in Erinnerung ruft. Der wiederholungslastige Stil wirkt auf zweierlei Art: Die Repetition ganzer Absätze wirkt auf Dauer ermüdend und lädt geradezu dazu ein, darüber hinwegzulesen. Doch die Wiederholung einzelner Wörter und das Spiel mit ihnen ist rhythmisierend und bleibt durch den poetischen Anklang positiv im Gedächtnis. An rhetorischen Gestaltungsmerkmalen fehlt es dem Roman also nicht – ebenso wenig wie an skurrilem Humor, wie das Einstiegszitat beweist. Die kurzen und additiven Sätze sorgen für ein hohes Lesetempo, was durch den recht umgangssprachlichen Ton – der nur an einigen wenigen Stellen ins Vulgäre verfällt – unterstützt wird.

Ebenso divers wie die Erzählweise ist auch die Erzählperspektive gestaltet. Sie wechselt stark hin und her zwischen einem Ich-Erzähler, der Du-Perspektive und einem auktorialen Erzähler. Was für Abwechslung sorgen soll, ergibt lediglich inhaltliche Unklarheiten und führt oftmals zum Unterbrechen des Leseflusses, denn man selbst muss sich bei diesen Perspektivsprüngen fortlaufend neu sortieren. Daran knüpft die phasenweise auftretende Verwirrung bei den Kapitelüberschriften an, über die jedoch das Glossar am Ende des Buches Aufschluss gibt.

Weniger aufschlussreich sind allerdings die Figuren, bei denen der Roman vieles lediglich angedeutet lässt. Abgesehen vom Protagonisten werden viele Charaktere nur genannt und bleiben somit für die Leserinnen und Leser oberflächlich. Die einzige Figur neben Claasen, die immer wieder auftaucht und eine zentrale Rolle innehat, ist Getränke-Wolf, denn alles läuft in Zandschow nach seinen Vorstellungen und Regeln. Doch auch er wird letztendlich nicht greifbar. Es kommt einem so vor, als wären die Figuren in Zandschow lediglich Mittel zum Zweck, um den Ort und die Gesellschaft näher zu charakterisieren. Auffällig ist jedoch, dass viele Figuren in Beziehungen zu Tieren gesetzt werden, verstärkt ist dies beim Reh der Fall. Durch die häufige Wiederholung des Rehs und der Quellen lassen sich eindeutig Bezüge zum Märchen Brüderchen und Schwesterchen der Brüder Grimm feststellen – hier und in anderen Passagen sind intertextuelle Relationen zu erkennen, wodurch der Roman nochmals an Literarizität und Komplexität gewinnt.

Trotz eines gewissen Verwirrungspotentials ist Zandschower Klinken mit seinem skurrilen, unkonventionellen Inhalt, der repetitiven, aber vielfältig-poetischen Sprache und der Montagetechnik ein Roman, der durch Andersartigkeit besticht und zum Aussteigen aus der Realität einlädt – ein Roman, der zu Recht als literarisches Experiment gehandelt wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Thomas Kunst: Zandschower Klinken. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
254 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429921

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch