Teilzeitheile Welt

Sarah Kuttners Roman „Kurt“ erzählt von einem traurigen Thema – wunderschön und letztlich optimistisch

Von Romy TraeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Romy Traeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man sagt ja, Hunde und Kinder gehen immer, wenn man etwas verkaufen will. In Sarah Kuttners nunmehr viertem Roman (nach Mängelexemplar, Wachstumsschmerz und 180 Grad Meer) gibt es Hunde am Ostseestrand und es wird über einen eigenen Hund nachgedacht, vor allem aber gibt es ein Kind. Kurt ist sechs Jahre alt, der Sohn von Kurt und Jana, die aber getrennt leben. Der große Kurt ist wegen des Sprösslings gerade mit seiner Freundin Lena in ein Haus in ländlicher Idylle nach Oranienburg gezogen, um in seiner Nähe sein zu können und ein Familienmodell zu leben, wie es dieser Tage in solchen Fällen gern praktiziert wird: Das Kind lebt abwechselnd wochenweise bei Mutter und Vater. Ein klassisches Patchwork-Modell also; so gesehen ist der Roman auch ein wenig das Abbild vieler Lebenswirklichkeiten im Deutschland des Jahres 2019. Erzählt wird aus der Sicht von Lena, die ihrerseits damit ringt, ihren Platz in diesem Modell von Familie zu finden. Exemplarisch wird das zum Beispiel an der Frage nach dem Nacktsein vor dem Kind verhandelt: „Mein Hintern gehört nicht zur Familie“. Oder was Lena denn jetzt für Kurt ist: die Mitbewohnerin, die Freundin seines Vaters, die Stiefmutter?

„Und dann fällt Kurt vom Klettergerüst“ – so nüchtern bricht mit Beginn des zweiten Kapitels die größtmögliche aller denkbaren Katastrophen über die Figuren herein. Als Leser*in ist man immerhin darauf vorbereitet, weil der Tod bereits im Klappentext angekündigt wird (es sei denn natürlich, man liest keine Klappentexte, dann sorry für den Spoiler). Damit ist man beim eigentlichen Thema des Buches angelangt: Wie trauert man als Familie, wie trauert man als Patchworkfamilie, wie trauern Einzelne? Die Erzählerin ist sich ihrer Rolle nicht sicher, denn in ihrer Wahrnehmung war die Zeit zu kurz, um wirklich anzukommen im Familienleben. Dennoch trauert auch sie um den kleinen Kurt, während der große Kurt sich zurückzieht, an seinem Leid zu zerbrechen droht und Lena befürchten muss, nun auch noch ihn zu verlieren.

Das alles ist so gut geschrieben und montiert, dass es eine große Freude ist, den Roman zu lesen – trotz oder gerade wegen des traurigen Höhepunkts. Sarah Kuttner legt einen gelungenen Text über die Millennial-Generation vor, in dem einfach alles passt: Wir treffen Menschen, die Netflix-Serien schauen, Rezepte aus ebensolchen nachkochen, Playlists auf Laptops hören, während der Fernseher nur noch ein stummes Bild liefert und deren Sprache von englischen Begriffen durchzogen ist („und weil kleine Kinder […] selten wissen, wann humoristisch der Peak überschritten ist“). Das wirkt nicht aufgesetzt, sondern ist wohldosiert, und auch Menschen, deren Familienmodell anders – oder nichtexistent – ist, werden sich wiedererkennen und schmunzeln, weinen und lachen. Einzig die Genitivkonstruktionen wirken zeitweilig ein wenig befremdlich, denn wer sagt schon ernsthaft – selbst als Journalistin – „des Nachbars Fernseher“ oder „des Tieres Brust“? Sympathisch sind dagegen die vereinzelten Dialoge im breitesten Berliner Dialekt – vielleicht eine kleine Reminiszenz der Autorin an das Fontane-Jahr?

Dass dann auch noch das Kunststück gelingt, mit den drei Kapiteln, die übrigens alle Kurt heißen, Inhalt und Struktur korrespondierend aufzubauen, ist die sprichwörtliche Kirsche auf dem Sahnehäubchen: Das erste, ziemlich genau ein Drittel des gesamten Textes umfassende, Kapitel zeichnet locker und witzig geschrieben in wenigen Sätzen ein detailliertes Bild der Situation vor Kurts Tod. Aber diese Zeit war eben auch sehr kurz, vor allem aus Sicht der Erzählerin, die das Kind zwar schon seit seinem zweiten Lebensjahr kennt, aber erst wenige Wochen mit ihm lebt und der dieses „uns in Zusammenhang mit Kurt Junior […] einfach noch nicht so gut von der Hand“ geht. Dass Kurts Leben sozusagen abbricht, wird durch den abrupten Wechsel ins zweite Kapitel symbolisiert. In diesem kämpft Lena nicht nur um ihren Freund, sondern auch mit ihren eigenen Gefühlen, wenn ihr andere Menschen sagen müssen, dass auch sie jemanden verloren hat und trauern darf.

Ein ebenso geschickter Kniff ist die Namensdoppelung von Vater und Sohn: Beim Lesen ist man regelmäßig verwirrt und muss sehr auf den Kontext achten, um zu verstehen, um welchen Kurt es sich handelt. Eine Tatsache, die gerade im letzten, nur vier Seiten langen, Kapitel hervorragend funktioniert, weil man glaubt, das Paar Lena und Kurt in der Zukunft zu erleben und erst nach ein bisschen mehr als einer Seite klar wird, dass es sich um eine Erinnerung Lenas an den kleinen Kurt handelt. Der Roman verhandelt das Problem auch selbst, wenn Lenas Schwester sie danach fragt, welcher Kurt gemeint ist, und sie antwortet: „Ich weiß nicht, ich schätze, meistens macht der Inhalt klar, wer gemeint ist.“ Dieses letzte Kapitel ist dann auch sehr optimistisch, weil es zeigt, dass es weitergeht nach dem Tod eines Kindes, aber die Erinnerungen an diesen Menschen immer da sein wird, sei sie auch noch so flüchtig (auch hier die gelungene Korrespondenz von Inhalt und Struktur).

Sarah Kuttners Roman ist so vieles: traurig, lustig, ein Gartenbauhandbuch, eine Liebeserklärung an Brandenburg, ein bisschen Gentrifizierungsbashing (aber nur ganz sanft und eigentlich auch gar nicht böse gemeint), ein Umgang-mit-Trauer-Buch, vor allem aber ist es wunderbar geschrieben.

Titelbild

Sarah Kuttner: Kurt. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974249

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