Viel Feind‘, viel Ehr‘

Patsy L’amour LaLove veröffentlicht mit „Beißreflexe“ einen undifferenzierten Rundumschlag gegen Queer Theory und queeren Aktivismus

Von Johannes StierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Stier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

‚Queer‘ ist ein Begriff mit einer vielschichtigen Bedeutung. Aus dem Englischen Übernommen beschreibt er auch im Deutschen immer häufiger die Gruppe all jener Menschen, die aus dem zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Raster fallen. Ähnlich, aber noch umfassender als das Akronym LGBTI, ist das Wort in dieser Lesweise zuvorderst eine Sammelbezeichnung für Schwule, Lesben und Bisexuelle, hetero- wie homosexuelle Trans-personen, Intersexuelle und Menschen, die sich mit keinem Geschlecht eindeutig identifizieren.

Darüber hinaus hat der Begriff allerdings auch verschiedene politische Implikationen. Queer, so verkündet es der Buchrücken des Sammelbandes Beißreflexe, herausgegeben von der Geschlechterforscherin und selbst ernannten „Berliner Polittunte“ Patsy L’amour LaLove, greift die heterosexuelle Normalität an. Der Begriff beschreibt also nicht nur eine Gruppe von Menschen, sondern bedeutet mit seiner Unbestimmtheit und Ambivalenz gleichzeitig eine Kritik an der vermeintlich heterosexuellen Normalität. Queer ist das Andere, das Perverse und das Unnormale. Ein selbstbewusster, queerer Standpunkt ist eine Entgegnung auf die heterosexuelle Normalität, die er kritisiert und hinterfragt und deren vermeintliche Selbstverständlichkeit er so unterläuft.  

Zumindest könnte er das sein. Allerdings stehe dem, so der Tenor der Beißreflexe, ein falsch verstandener politischer Aktivismus im Wege, der zwar vordergründig für emanzipative Ziele kämpfe, aber in der politischen Praxis nur in Sprach-, Kleidungs- und Denkverboten, sowie Kleinkriegen innerhalb der eigenen Gruppe manifestiere. Statt einer selbstbewussten Erwiderung auf heteronormative Strukturen gehe es den aktuellen AktivistInnen vor allem darum, bestimmte Begriffe, Kleidungsstücke und Verhaltensweisen entweder vorzuschreiben oder zu verbieten und all jene anzugreifen, die sich ihren Regeln nicht unterwerfen. So lautet eine der zentralen Thesen der Herausgeberin und der von ihr versammelten AutorInnen. In Beißreflexe äußern sie daher eine Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, wie es im Untertitel heißt. Zugleich ist schon der Titel des Bandes rhetorisch eine Vorwegnahme der zu erwartenden Kritik. Da die kritisierten AktivistInnen selbst auf Kritik aus den eigenen Reihen gar nicht mehr anders reagieren, als mit automatischen Beißreflexen, ist freilich auch von der Reaktion auf das Buch gar nichts anderes zu erwarten. Der Einleitung ist zu entnehmen, dass einige AutorInnen und AktivistInnen ihre Teilnahme von vorneherein abgesagt haben, weil sie sich nicht den möglichen Konsequenzen aussetzten wollten. Es scheint also ein starker und mächtiger Gegner zu sein, gegen den in den Beiträgen angeschrieben wird. Er dominiert die zeitgenössische politische Debatte innerhalb der queeren Community, hat die wichtigen Positionen innerhalb der Universitäten besetzt und prangert jene an, die sich ihm nicht anschließen wollen. Statt Einsicht gehe es um Ideologie, statt um Emanzipationen nur um Antiaufklärung. Darüber hinaus werden in dem Band noch zwei weitere Probleme innerhalb des zeitgenössischen queeren Aktivismus ausgemacht und kritisiert: Sein unkritischer Umgang mit dem Islam und ein weit verbreiteter Antisemitismus. „Unter Liberalen und Linken“, so eine weitere These, „wird der politische Islam als Problem häufig verleugnet“. Stattdessen ergeht sich die queere Community lieber im Hass auf Israel und antisemitischen Anwandlungen.

Viel Stoff also, den es zu kritisieren gilt. Ob die Form, in der die Kritik im Rahmen von Beißreflexe formuliert wird, wirklich zu einer produktiven Diskussion über die genannten Probleme führt, muss nach der Lektüre des Bandes leider bezweifelt werden. Dabei betont die Herausgeberin selber, dass es ihr darum geht, von automatischen Beißreflexen hin zu einer reflektierten Debatte zu gelangen. Die vorgebrachte Kritik ist dabei, auch wenn es in den Texten anders scheint, nicht einmal neu oder ein exklusives Phänomen der queeren Szene. Schon vor fast 30 Jahren stellte die indische Feministin und Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak in einem Interview fest, dass das Ziel von feministischer und postkolonialer Politik doch sicher nicht darin bestehen könne, ständig nur die korrekte Verwendung von Sprache und bestimmten Begriffen zu kontrollieren. Da viele der BeiträgerInnen außerdem das poststrukturalistische Fundament der Gender und Queer Studies aus einer dezidiert linken Position heraus kritisieren, sind die Texte Teil einer langen, innerlinken Debatte, die sich nach den Wahlerfolgen von rechten Parteien in Europa und dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA erneut entzündet hat. VertreterInnen einer in historischem Materialismus und kritischer Theorie geschulten Linken kritisieren einen anderen Teil der Linken, die sich offensichtlich mehr in Foucault’scher Diskurstheorie und Judith Butlers Dekonstruktion von Geschlecht zu Hause fühlen als bei Marx.

Der dabei immer wieder zu Recht geäußerten Kritik an bestimmten Vorgängen, Einstellungen und Phänomenen wird allerdings durch deren Form, Vorgehensweise und Duktus kein Gefallen getan. Das dagegen vorgebrachte Argument der Herausgeberin, dass sich Kritik doch in erster Linie mit dem Inhalt und nicht der Form und Wortwahl der Texte auseinandersetzen solle, erstaunt nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass viele Beiträge eben eine Nähe zur kritischen Theorie durchaus erkennen lassen. Und schließlich hat gerade Adorno immer wieder auf die enge Verzahnung des Inhalts mit seinem Ausdruck insistiert. Vollkommen zurecht kritisieren die verschiedenen Beiträge immer wieder die Vorstellung, dass die Autorität eines Sprechers sich vor allem aus seiner eigenen Betroffenheit ableite. Dass sich zu einem Thema nur äußern darf, wer auch selber davon betroffen ist, scheint vielleicht auf den ersten Blick nachvollziehbar, führt aber in der Rigorosität, in der diese Vorstellung stellenweise innerhalb queerfeministischen Strukturen versucht wird durchzusetzen, zu einer Hierarchisierung von Diskriminierungserfahrungen, mit der letzten Endes niemandem geholfen ist. Verhindert wird so in letzter Konsequenz sogar die eigentlich geforderte Solidarität. Till Randolf Amelung weist in seinem Beitrag vollkommen zu Recht darauf hin, dass persönliche Verletzung und individuelle Diskriminierungs- und Leidenserfahrungen sich nicht allein durch aktivistische Arbeit aufarbeiten lassen und eine Politisierung persönlicher Betroffenheit ohne kritische Reflexion und individueller psychologischer Aufarbeitung ganz konkret Gefahren für die Betroffenen birgt. Ebenfalls zu Recht kritisieren verschiedene AutorInnen beispielsweise die Richtung, in die sich das Konzept des Safe Space innerhalb bestimmter queerfeministischer Kreise entwickelt hat. Aus dem Wunsch, einen Ort zu schaffen, an dem sich marginalisierte Gruppen von Menschen sicher und frei von Diskriminierung bewegen können, wird in der Realität ein Raum, aus dem alle selbst nur eventuell potentiellen Verletzungsmöglichkeiten getilgt werden sollen. Marco Kammholz weist in seiner Kritik an dem Konzept daher folgerichtig auf die Probleme hin, die sich aus so einem Ansatz ergeben. Nicht nur ist ein vollkommen diskriminierungsfreier Raum, losgelöst von allen realweltlichen Machtverhältnissen und Beziehungsstrukturen eine reine Utopie, sondern Versuch seiner radikalen Durchsetzung einer tugendhaften Ordnung, die keinerlei Ambivalenz mehr zulässt. Zudem führt solches Verhalten nicht nur zu einer Sexualitätsfeindlichkeit, die dem eigentlichen Ziel der sexuellen Emanzipation und Befreiung entgegensteht, sondern trivialisiert in letzter Konsequenz Begriffe wie Trauma oder Vergewaltigung, indem sie begrifflich vollkommen entgrenzt und trivialpsychologisch in den verschiedensten Kontexten eingesetzt werden.

Die in Teilen also vollkommen berechtigte Kritik wird leider durch ihre sprachliche Manifestation weitestgehend unterlaufen. Wenn das Buch eine Einladung zur Reflexion und Diskussion sein soll, muss die Frage erlaubt sein, wozu dazu der häufig polemisch bis beleidigende Ton nötig ist. Die Empathie, die die Herausgeberin selber in ihren Texten einfordert, findet sich in vielen Beiträgen des Buches nicht wieder. In der Argumentation des Bandes gibt es von Anfang an vor allem klare Gegner und feste Gewissheiten. Viele Dinge sind immer wieder „selbstverständlich“ und „offensichtlich“, die Bedeutung von Wörtern ist selten vielschichtig. Wenn doch einmal auf eine unterschiedliche Verwendung bestimmter Begriffe eingegangen wird, dann nur, um die eigene als die richtige darzustellen. Die eigene Interpretation wird dann zur alleinigen Bedeutung oder Objekt der Kritik. Die Behauptung etwa, der Begriff „Queer“ würde im Deutschen vermitteln, dass man seine „Unnormalität“ nach Belieben anlegen und abstreifen könnte, steht ohne einen Nachweis oder Beweis erst einmal im Raum. Man muss wohl bereit sein zu glauben, dass der Begriff ansonsten nicht so eine Prominenz gewonnen hätte, wie es die Autorin behauptet. Immer wieder fehlen in den Texten Belege oder Quellen für die aufgestellten Thesen, die so leider Behauptungen bleiben. Wenn etwa davon die Rede ist, viele Schwule, Lesben und Transpersonen würden bestimmte (falsche) politische Ansätze in ihre Arbeit und beispielweise in Schulaufklärungsprojekten übernehmen, wird nicht ein einziges dieser Projekte genannt.

Ein Artikel schildert die persönlichen Erlebnisse einer Autorin auf einer mehrtägigen feministischen Veranstaltung. Die dort geschilderten Erlebnisse sind sicherlich zu kritisieren, allerdings stellt sich die Frage, warum gerade diese Erfahrung auf alle diese Veranstaltungen übertragbar sein soll. Hier wird genau das gemacht, was eigentlich dem Gegner vorgeworfen wird: persönliche Erfahrungen so weit zu verallgemeinern, dass sie auf einmal allgemeingültig werden. Zudem wird der ausgemachte Gegner, die queerfeministische Szene, immer wieder pauschal pathologisiert und beleidigt. Mehrfach ist zu lesen, bestimmte Ideen würden eben die geistige Kapazität der anderen AktivistInnen und AutorInnen übersteigen, Verhaltensweisen seien „wahnsinnig“, bestimmte Vorstellungen eben einfach nur paranoid und die Mehrzahl der deutschen Linken eben per se antisemitisch. Caroline Sosat etwa liefert ein abschreckendes Beispiel, wie psychoanalytische Theorie als Argument in diskursiven Auseinandersetzungen herhalten muss. Ohne Differenzierung definiert sie den Gegner als „Betroffenheitsfeminismus“ und analysiert eine ganze Bewegung, ohne sich nur einmal mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass hier ein Kollektiv analysiert wird wie eine einzelne Person. Frei von Nachweisen und Quellen wird munter drauf los psychologisiert. Und wenn die Betroffenen Wiederspruch leisten, dann selbstverständlich nur, weil man ja gar nicht anders kann, da man „kollektiv unbewusst“ handele, so dass man sich des destruktiven Verhaltens gar nicht bewusst sei. Die Autorin meint so besser zu wissen, was die anderen wollen. Dass die Kritisierten dabei häufig gar nicht der geschlossene Block sind, als die sie die AutorInnen gerne bezeichnen, fällt so natürlich unter den Tisch. Immer wieder wird beispielsweise von „den Gender Studies“ oder „der Queer Theory“ geschrieben, als wären diese akademischen Disziplinen ein homogenes Feld. Dass sich eben auch in der Geschlechterforschung unterschiedliche Ansätze und Theorien finden und dass Gender Studies bereits qua Denomination im Plural stehen, fällt dabei ebenfalls unter den Tisch. Man kann sich schwer des Eindrucks erwehren, dass an manchen Stellen bewusst missinterpretiert wird. Vojin Sasa Vukadinovic etwa geht es nicht um eine differenzierte Auseinandersetzung, sondern nur um eine ebenso scharfe wie plumpe Kritik an Judith Butler. Wenn Butler etwa im Angesicht des Wahlerfolgs von Donald Trump von einer „speziell amerikanischen Version des Faschismus“ spricht, ist das in seinen Augen eine „Verharmlosung des Nationalsozialismus“. Zitate werden aus dem Zusammenhang gerissen und die Gender Studies an deutschen Universitäten pauschal als irrelevant erklärt. Bei all dem stellt sich die Frage, warum die Kritisierten sich nach all den Beleidigungen noch mit den Kritikern zu einem konstruktiven Dialog treffen sollen.

In dem Abschnitt „Queering Islam“ geht es in den Beiträgen schließlich sowohl um eine Kritik an homophobem Islamismus, als auch um das wahrgenommene Schweigen der Linken. Auch hier lässt der Band bei aller notwendigen Kritik jede notwendige Differenzierung vermissen. Schon im Vorwort werden Rassismus und Islam im selben Atemzug als Problem benannt. Nicht etwa eine konservative Islamauslegung oder Islamismus werden kritisiert, sondern die gesamte Religion pauschal auf eine Stufe mit Anhängern von NPD und AfD gestellt. Folgerichtig unterscheidet dann Melanie Götz beispielsweise auch klar zwischen Muslima, die Solidarität verdient haben, so lange sie aus dem Prekariat stammen, diese aber nicht mehr verdienen, sobald sie der Mittelschicht angehören. Denn diese Frauen unterstützen ja schließlich, auch wenn sie es gar nicht wissen oder wollen, durch ihre Forderungen den politischen Islamismus. Wieder einmal begegnet einem hier die Vorstellung, dass die Autorin besser weiß, was die Frauen wollen, als diese selber.  

Der Autor Tjark Kunstreich hält sich in einem der längsten Beiträge des Buches dann auch nicht lange mit Differenzierungen und Belegen auf, um in seiner Suade darzulegen, wie sich die Queere Community in seinen Augen nach dem Massaker in einem schwulen Nachtclub in Orlando dem Islam unterwirft. Wieder einmal fehlen bei diesem zum Aufsatz gewordenen Vortrag Quellenangaben oder Belege, die die Aussagen des Autors nachvollziehbarer gestalten würden. Der Mord an 49 Menschen ist in der Argumentation nicht einfach eine Form von homophober Gewalt. Vielmehr manifestiert sich für ihn darin eine spezifische Form islamischer Homophobie. Für Kunstreich ist so die Religion ganz direkt für das Attentat verantwortlich. Das ihm in dieser Einsicht nicht alle anderen betroffenen Menschen folgen, liegt in den Augen des Autors, laut dem mit viel gutem Willen noch als Polemik zu lesenden Text, an einer Lebenslüge und Sehnsucht nach Geschichtsvergessenheit der gesamten Gemeinschaft. Nur der kollektive Selbstbetrug verhindert die Einsicht, zu der der Autor schon gelangt ist. Vollkommen geschichtsvergessen kann dann auch behauptet werden, dass die christliche „moral majority“ in den USA nie terroristische Strukturen hervorgebracht hätte, ganz so, als hätte es den Terror durch Lynchmorde an der Afroamerikanischen Bevölkerung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nie gegeben oder als hätten sich rechte Terroristen wie Timothy McVeigh nicht als Vertreter eines wahren, weißen Amerikas verstanden.

Beißreflexe hinterlässt so nach dem Lesen einen durch und durch fahlen Geschmack. Die immer wieder berechtigte Kritik wird formal unterlaufen durch ihre undifferenzierte Herangehensweise. Vielfach scheint es so, als ginge es nicht um eine konstruktive Kritik. Wie ein Dialog gelingen soll, wenn man gleichzeitig alle Brücken rhetorisch so radikal abbricht, bleibt wohl das Geheimnis der AutorInnen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Patsy l’Amour laLove: Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten.
Querverlag, Berlin 2017.
240 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783896562531

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