Virtualität als Werkzeug

Jaron Lanier verbindet in „Anbruch einer neuen Zeit“ Autobiografie und Technologiegeschichte

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jaron Lanier ist einer der Erfinder und Vordenker der Virtuellen Realität. Sein neues Buch heißt auf Deutsch Anbruch einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert. Der Titel weckt hohe Erwartungen – und er führt in die Irre. Man erwartet eine große Vision oder eine umfassende Sozialanalyse. Vision und gesellschaftliches Panorama gibt es, aber konzentriert in Kapitel 19 und in Anhang 3. Schon ihretwegen lohnt sich die Lektüre.

Lanier arbeitet heraus, wie datenintensive, vernetzte Technologien den Spielraum beeinflussen, in dem sich der Einzelne entfalten und in dem er anderen begegnen kann. Diese Begegnungen und die darauf aufbauende Zusammenarbeit werden laut Lanier bis heute von einer grundlegenden Entscheidung geprägt, die keineswegs alternativlos war, nämlich von derjenigen, Vernetzung im Wesentlichen über das von Tim Berners-Lee erfundene World Wide Web zu organisieren und nicht über eine der anderen Formen des Cyberspace.

Das WWW zeichne sich dadurch aus, dass nicht jedem Link ein Gegenlink entspreche – ich setze einen Link, aber der Inhaber der von mir verlinkten Webseite erfährt davon nicht direkt. Die Netzpioniere der ersten Stunde hätten diese Entscheidung hingenommen, weil das WWW leicht skalierbar war und sich offensichtlich durchsetzen würde. Die Folge: Der virtuelle Raum sei künstlich undurchsichtig gemacht worden. Dem Nutzer sei die Aktivität anderer Nutzer nicht mehr vor Augen geführt worden. Erst dadurch sei das Geschäftsmodell von Google und Facebook überhaupt möglich geworden, die nämlich „Teile dessen kartieren, von dem es von Anfang an eine Karte hätte geben sollen“.

Die fundamentalen wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Spaltung zeichnete Lanier in Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst bereits eindrucksvoll nach. Er bringt das Kernproblem im vorliegenden Buch noch einmal auf den Punkt: Es komme im Web zu einer Zweiteilung, im Rahmen derer „die normalen Nutzer miteinander Tauschhandel treiben, während die Eigentümer der [sozialen] Medien mit sogenannten Werbekunden echtes Geld scheffeln“. Mit Blick auf die zwischenmenschliche Dimension des Lebens online ergänzt er, das WWW verspreche Netzwerke „ohne die Eintönigkeit und den Verdruss, den eine Zusammenarbeit von wahrhaft freien, einzigartigen Individuen zwangsläufig mit sich bringt“. Die Art und Weise, wie die Menschheit seit den 1980er Jahren Vernetzung organisiert hat, ist also, so lässt sich diese Aussage paraphrasieren, von Anfang an auf eine Einschränkung von Freiheit angelegt gewesen.

In den Kapiteln 1 bis 18 und 20 sowie den Anhängen 1 und 2 liefert Lanier die Hintergrundinformationen zu diesen technologischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, die er beobachtet, kritisiert und fürchtet. Den Großteil des Buches nimmt Laniers Autobiografie als Technologiegeschichte bis 1992 ein. Wenn man sich einmal von den vom Titel geweckten großen Erwartungen befreit und dem Verlag das großspurige Geflunker verzeiht, liest man gebannt, wie Nerds und Hippies das Silicon Valley erst zu dem machten, was es heute ist. Das ist nicht zuletzt im Hinblick auf die deutsche Diskussion zu Technologie- und Start-up-Förderung interessant.

Aber auch die Familiengeschichte ist bewegend (und packend erzählt): Laniers Mutter hatte ein KZ überlebt; sie kam, als Jaron sehr jung war, bei einem Autounfall ums Leben. Der Vater gab ihm viele Freiräume, sowohl was das Trauern betrifft als auch das Lernen. Eine Kindheit in einfachsten Verhältnissen, aber im Umfeld von Pionieren der Wissenschaft und der Technologie. Eine Geschichte des Mutes, des Scheiterns und der bahnbrechenden Erfindungen, mit gehörigem Understatement und auch mit Augenzwinkern vorgetragen.

Der zweite Schwerpunkt des Buches ist die Schilderung immer neuer Prototypen, früher Anwendungsfälle und konkurrierender Systeme der Virtuellen Realität. Lanier ist gerade hier bescheidener, als der Buchtitel vermuten lässt: Er ist der Meinung, dass mit der Virtuellen Realität etwas wirklich Neues erfunden worden sei – aber er bezieht die Virtuelle Realität unablässig auf die sie umgebende, mehr oder weniger vertraute „traditionelle“ Realität. Nur so könne die VR eine Funktion haben und überhaupt sinnvoll gedeutet werden. Lanier wehrt sich entschieden gegen Versuche, die eine gegen die andere Realität auszuspielen oder sie künstlich voneinander zu trennen, sei es konzeptionell oder lebenspraktisch.

Hier liegt der humanistische Kern des Buches und von Laniers Arbeit überhaupt – in der Überprüfung technologischer Neuerungen an Alltagsphänomenen, also an dem, was Bernhard Waldenfels „Sinnesschwellen“ nennt und in Analysen zu Aufmerksamkeit und Fremdheit beschreibt. Lanier: „In der VR kann man mit Freunden fliegen, und alle sind in leuchtende Engel verwandelt, die über einem fremden Planeten dahingleiten, der mit belebten Goldtürmen bedeckt ist. Überlegen Sie mal, wer da genau über diesen Goldtürmen schwebt.“

Daraus ergibt sich Laniers wache Aufmerksamkeit für soziale Verantwortung, im Rahmen derer Geräte und Netzwerke immer nur Komponenten und nie das Allheilmittel seien. Er konstatiert, dass „Nicht-Wissenschaftler die Nerven verloren, nachdem ein paar Wissenschaftler mit Anfällen von Machtrausch im Labor angegeben hatten“ und sich in religiöser Selbstüberhöhung zu Erlösern der Menschheit aufschwangen. Vor dieser Anmaßung eines Macht-, Deutungs- und Innovationsmonopols warnt Lanier.

Die neue Zeit, in der wir nun leben, ist laut Lanier also keine neue Welt – sie sei eine Welt, in der sich auf Basis neuer Technologien neue Machtstrukturen entwickeln konnten, die sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr wirklich legitimieren und an ihrem Erfolg oder Misserfolg messen lassen müssen. Kapitel 19 und Anhang 3 sind letztlich so etwas wie der Aufruf, sich die eigene Handlungsfähigkeit nicht nehmen zu lassen.

Titelbild

Jaron Lanier: Anbruch einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert.
Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Schlatterer und Sigrid Schmid.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018.
445 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783455003994

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