Wege aus der Wut

Jaron Lanier liefert Beistand und Argumente im Kampf gegen die sozialen Medien

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich hatte Angst davor. Ich war auf die schlimmsten Entzugserscheinungen gefasst. Nach sieben Jahren intensivster Facebook-Nutzung wollte ich aber raus. Facebook versuchte, mich während des Abmeldevorgangs einzuschüchtern: Auf dem Bildschirm erschienen Bilder von ein paar Freunden, die ich sehr mag, und die Warnung, dass ich sie verlieren würde. Da dachte ich: „Facebook ist eine dumme Pottsau. Ich werde diese Freunde nicht verlieren. Das wäre doch gelacht!“ Ich lud meine Daten herunter, soweit das ging (377.000 Wörter Messages und 72.000 Wörter Wall-Posts, ohne Kommentare, wie sich herausstellte!). Und dann – war es, als hätte ich ein Glas Wasser getrunken. Nett, ein bisschen Wasser trinken, und dann macht man was Anderes. Keine Sekunde habe ich das soziale Netzwerk vermisst. Verpasst habe ich schon vorher jede Menge, weil mich das Starren auf den Feed mit Nachrichten von Leuten, an die ich mich kaum erinnert habe, genervt, aber gebannt hat. Lektion: Du bist nicht asozial, wenn du dein Profil bei einem sozialen Netzwerk löschst.

Jaron Laniers Buch geht viel weiter: Sein Argument ist, dass das soziale Netzwerk selbst asozial ist. Und dass Facebook und Google die Hauptverantwortlichen dafür sind, dass der Mensch in den letzten fünfzehn Jahren einsamer, die geostrategische Situation brenzliger und die Lage auf unseren Straßen und Plätzen konfrontativer geworden ist. Er begründet das damit, dass das Geschäftsmodell der „sozialen Netzwerke“ algorithmisch so umgesetzt ist, dass negative Emotionen verstärkt werden, weil sie eher in der Lage sind, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Diese negativen Emotionen können von Einzelpersonen, Gruppen oder Staaten geschürt werden.

Laniers Rat ist einfach: Im Interesse der eigenen Lebensqualität soll der Leser oder die Leserin die eigenen Accounts löschen. Der Gewinn an Lebensqualität stelle sich fast umgehend ein, und die Anbieter würden über kurz oder lang zum Umdenken gezwungen. Alternative Modelle der Vernetzung seien durchaus möglich. Der Erfolg der Bezahlmodelle etwa von Netflix bezeuge, dass Nutzerinnen und Nutzer bereit seien, für Qualität Geld auszugeben. Und vieles, was Google und Facebook sich an Positivem zuschrieben, seien in Wirklichkeit positive Eigenschaften des Internets an sich und nicht dieser speziellen Anbieter.

Der Autor ist einer der Pioniere des Internets und der Virtuellen Realität. Er schreibt aus einer intimen Kenntnis sowohl der Unternehmensstrukturen als auch der Technologien und der hinter beiden stehenden Ideologien heraus. Sein Wort hat Gewicht. Er fragt uns Leserinnen und Leser eigentlich nur: Warum haltet ihr die Angebote von zwei oder drei Unternehmen für alternativlos? Warum seid ihr bereit, euren Alltag von ihnen bestimmen zu lassen? Eure Chancen im Leben? Die Fragen sind legitim.

In meinem Alltag setze ich mich sehr viel mit sehr technikgläubigen Menschen auseinander, und ich stehe ihnen kritisch gegenüber. Ich dachte also, dass Laniers Buch mir wenig Neues bieten wird. Trotzdem habe ich mir fast auf jeder Seite etwas angestrichen – Die Mitgliedschaft bei Facebook ist so, als wäre man ein Fußballverein und würde nicht nur gegen einen anderen Verein, sondern gegen alle Vereine der Welt gleichzeitig spielen; Facebook und Google verhindern durch die Personalisierung von Feeds und Resultaten, dass ich die Lebenswelt und Erfahrungsweise meiner Mitmenschen nachvollziehen kann, denen eben etwas anderes gezeigt wird; und auch ein paar Haudrauf-Formulierungen natürlich: Die großen Internetkonzerne sind weder liberal noch konservativ, sondern „nur pro Verfolgungswahn, pro Reizbarkeit und pro allgemeine Arschlochhaftigkeit“.

Warum melden sich viele Menschen nicht ab, obwohl sie es eigentlich wollen? Nicht weil ihnen die Argumente fehlen, sondern weil sie Angst vor noch mehr Einsamkeit haben. Sie wünschen sich ein bisschen Beistand während des Abmeldevorgangs. Laniers Buch liefert ihn.

Titelbild

Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst.
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Bayer und Karsten Petersen.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018.
208 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783455004915

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