Ein Vergewaltiger auf deinem Weg

Das Manifest „Verbrennt eure Angst!“ des chilenischen Künstlerkollektivs LASTESIS plädiert für feministische Solidarität

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrer provokativen Performance Un violador en tu camino (Dt.: Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) sorgte das chilenische Künstlerkollektiv LASTESIS (Dt.: „Die Thesen“) Ende 2019 für Aufsehen. Es kam zu zahlreichen Adaptionen der Performance der vier Feministinnen in Metropolen auf der ganzen Welt: Massen von Aktivistinnen mit schwarzen Augenbinden, die die Performance nachstellten und -sangen, für eine feministische Solidarität plädierten, gegen Patriarchat, Gewalt gegenüber Frauen und Femizide protestierten. Nun ist das Manifest des Kollektivs unter dem Titel Verbrennt eure Angst! (¡Quemar el miedo!) erschienen. Hier finden sich nicht nur einige im Rahmen von Performances entstandene Songs wieder, sondern thetisch und ebenso unverblümt werden Leitgedanken der Bewegung formuliert, die zentrale feministische Gedanken u.a. von Rita Segato oder Silvia Federici künstlerisch umsetzen.

Am Anfang steht die Solidarität: „Was eine von uns erlebt, erleben wir alle“ heißt es in dem Vorwort, in dem Kapitalismus und Patriarchat als Schuldige entlarvt werden: Ob wirtschaftliche oder sexuelle Gewalt, weniger Geld für die gleiche Arbeit oder das, was Rebecca Solnit als „Mansplaining“ bezeichnet, nämlich Männer, die Frauen die Welt erklären wollen: Die individuelle Erfahrung erklärt LASTESIS zum kollektiven Erlebnis. Das Manifest besteht aus sechs Kapiteln, die sich mit der kollektiven Wut, Patriarchat und Kapital, Abtreibung, romantischer Liebe als Ausdruck eines patriarchalen Erbes, dem Transformationspotenzial von Performance oder dem repressiven Staat beschäftigen. 

Es sind vor allem zahlreiche Femizide, die die Wut auf das Patriarchat auslösen. Alles, was das Patriarchat anfasse, werde zu Brutalität. Feminismus – so heißt es im Manifest – habe die Befreiung von jeder patriarchalen Unterdrückung zum Ziel und damit das Gemeinwohl. Wie unter Rückgriff auf die US-amerikanische Feministin Silvia Federici erklärt wird, deren Buch Caliban und die Hexe auch als Inspirationsquelle für die erste Performance diente, stütze sich der Kapitalismus auf die geschlechtliche Reproduktion der Arbeitskraft und die unentgeltliche Arbeit wie Hausarbeit, Kindererziehung oder auch schlichtweg Fürsorge, die von Frauen gesellschaftlich erwartet und als typisch weiblich bezeichnet werde. Dazu passe auch der sogenannte Mutterinstinkt, der sich als soziale und kulturelle Anforderung entpuppe: „Wir wachsen mit einem Mutterbild auf, bei dem die Frau an ein Stück Würfelzucker erinnert: immer zur Hand und zur Selbstauflösung bereit.“    

Brutal erweist sich Kapitalismus vor allem durch die Fähigkeit, sich alles anzueignen: nicht nur der weibliche Körper werde vermarktet – indem die Frau zum Objekt werde, mache sich ein hegemoniales Körperbild bemerkbar –, auch der Feminismus werde zu einem Konsumartikel. Dem fatalen Bündnis Patriarchat und Kapital sei es zudem gelungen, der Frau einen Platz als „Hüterin der privaten Sphäre“ zuzuweisen. Als Ausgleich für seine Ausbeutung am Arbeitsplatz solle sie den Mann zu Hause bedienen. Diese patriarchale Diskriminierung findet allerdings nicht ausschließlich in einem neoliberalen Kontext statt, wie die Regierungszeit der Unidad Popular in Chile beweist. Im Kontext dieses linksgerichteten Wahlbündnis wurde der Arbeiter ebenfalls über die Genossin gestellt. 

Auch Jahre danach zeigt sich Sexismus unablässig in den Sphären der Macht wie das Kollektiv anhand eines brisanten Beispiels demonstriert: So lobte der chilenische Präsident Sebastián Piñera im Jahr 2013 – Abtreibung nach Vergewaltigung widersprach damals dem chilenischen Gesetz – die Aussage einer durch die Vergewaltigungen ihres Stiefvaters schwanger gewordenen Elfjährigen, das Baby austragen zu wollen. Noch bis 2017 waren Schwangerschaftsabbrüche in Chile verboten, seitdem ist eine legale Abtreibung nur möglich, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist, bei Lebensgefahr für die Mutter oder bei einer tödlichen Erkrankung des Fötus. LASTESIS fordert, den Kampf für Abtreibung als Menschenrecht unermüdlich zu führen und konstatiert eine tiefe Krise der Institutionen: „Sie offenbaren die Frauenfeindlichkeit, mit der Gesetze verabschiedet, Urteile gefällt und unsere Zukunft und Gegenwart verunmöglicht werden.“ Die betrifft nicht zuletzt auch den „bis auf die Knochen patriarchal“ angelegten akademischen Betrieb – hier ist ein Umbau von unten her, wie für alle historischen Institutionen, nötig.    

Bereits 1990 veröffentlichte Jorge González, der Sänger der chilenischen Band Los Prisioneros, den Song Corazones Rojos (Dt.: Rote Herzen), der als das erste große chilenische Lied gegen die machistische und patriarchalische Gesellschaft gilt und auf ironische Weise Geschlechterrollen, Diskriminierung und Gewalt verarbeitet. Jahrzehnte später scheint dieser Song nicht an Aktualität verloren zu haben. In der Überarbeitung von LASTESIS heißt es nun: „Gott ist auf jeden Fall ein Mann/ und wir klagen seinen Frauenhass an./ Ein Frauenhass, der unsere Geschichte zerstört/uns verunglimpft, mit Gewalt, mit Tod überzieht.“ 

Es sind zwar nicht unbedingt bahnbrechend neue feministische Gedanken, die das Manifest versammelt, aber betrachtet man die miserablen Zustände in Lateinamerika und auch dem Rest der Welt, auf die LASTESIS auch in Form ihrer Performances immer wieder aufmerksam macht, ist dieses Manifest unbedingt nötig, um den weltweiten Kampf gegen patriarchale Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit fortzusetzen.

Titelbild

LASTESIS: Verbrennt eure Angst! Ein feministisches Manifest.
Aus dem [Spanischen] von [Svenja Becker].
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
160 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974898

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