Neues von der literarischen Wiederentdeckung 2014

Andreas Latzkos „Erinnerungen“ erscheinen erstmals in deutscher Sprache

Von Johann Georg LughoferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Georg Lughofer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zuge der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs während des Gedenkjahrs 2014 wurde der Autor Andreas Latzko insbesondere vom Salzburger Germanisten Hans Weichselbaum wiederentdeckt. Zwei Neuauflagen im Wiener Milena Verlag sowie eine im Berliner Elektrischer Verlag sorgten für eine erneute Rezeption dieses Autors. Eine Konferenz in Toulouse im April 2017 unterstrich danach die verstärkte Wahrnehmung innerhalb der Germanistik. Nun liegt Latzkos Auto- beziehungsweise Biografie endlich in deutscher Sprache vor. Dass sie in der wissenschaftliche Reihe Forum: Austria des französischen Germanisten Jacques Lajarrige und der österreichisch-belgischen Germanistin Helga Mitterbauer im Verlag Frank & Timme Aufnahme gefunden hat, ist gut nachvollziehbar, richtet sie sich doch vor allem an LeserInnen mit kulturwissenschaftlichem und literarhistorischem Interesse.

Der in Budapest 1876 geborene Andreas Latzko, bürgerlich Latzkó Adolf Andór, der seine schriftstellerischen Anfänge in ungarischer Sprache hatte, wurde gegen Ende des Ersten Weltkriegs mit seinen anspruchsvollen, 1917 unter dem Titel Menschen im Krieg in Zürich zusammengefassten, antibellizistischen Novellen kurzfristig eine Bekanntheit der deutschsprachigen Literatur. Sein Stern sank allerdings bereits in der Zwischenkriegszeit – und bis 2014 bleib er ein Insidertipp.

In den Niederlanden, seinem späteren Aufenthaltsort, oder Frankreich hingegen war ihm ein größerer Erfolg beschieden. Seine autobiografischen Erinnerungen mit einer Fortsetzung durch seine Frau wurden so nur in niederländischer Sprache veröffentlicht und stellten in deutscher Sprache ein explizites Desiderat dar. Glücklicherweise liegen sie nun in der Originalsprache vor.

Der Herausgeber Georg B. Deutsch ist studierter Altorientalist und Indogermanist, der sich in seiner beruflichen Laufbahn zwar nicht der Philologie gewidmet hat, mittlerweile aber mit seinen Studien zu Soma Morgenstern in der germanistischen Welt kein Unbekannter ist. Bei Latzkos Biografie hatte er es mit einer komplizierten Überlieferungslage zu tun. Mehrere Typoskriptvarianten sowie zwei ins Niederländische übersetzte und bearbeitete Veröffentlichungen, namentlich Onderweg als Beilage der Zeitschrift De Notenkraker von 1932 und die Buchausgabe Levensreis. Herinneringen von 1950, die der Herausgeber teilweise ins Deutsche rückübersetzt hat, liegen vor. Georg Deutsch verwendete die letzten Überarbeitungen, griff aber auf alle Varianten zurück und ging dabei nicht ganz konsequent vor. So findet sich Gestrichenes der ersten Fassungen nur exemplarisch in Fußnoten oder die „unorthodoxe“ Interpunktion wurde unkommentiert verändert, was dem Leseerlebnis sicher nicht schadet. In den Fußnoten werden sonst interessante und sinnvolle Erklärungen angeboten, manchmal jedoch auch Verzichtbares erwähnt, wie zum Beispiel Lebensdaten der genannten Personen oder ähnlich leicht zu erhaltende Informationen.

Andreas Latzko selbst schrieb den ersten Teil dieses „Lebensberichts“ und beabsichtigte, diesen später zu ergänzen. Das erste Buch „Aufstieg“ handelt von seiner Kindheit und Jugend bis 1902 und enthält hochinteressante Berichte zur deutschen Schule der lutherischen Gemeinde in Budapest, den armen Klassenkollegen und deren benachteiligte Situation. Lebendig schildert er die Stimmung gegen Österreich und gegen die deutsche Sprache im Ungarn des späten 19. Jahrhunderts. Kulturgeschichtliche Wahrnehmungen wie das Fehlen des Sports und der Vergnügungsindustrie, oder die damalige Unmöglichkeit, sich einen Krieg vorzustellen, bereichern die Anekdoten.

Das zweite Buch „Lebenskampf“ setzt erst 1916 ein und handelt von der Zeit während des Ersten Weltkriegs, wobei – leider für die meisten Interessierten – Latzkos spannende Kriegserlebnisse nicht angesprochen werden. Immerhin notierte Romain Rolland in seinem Tagebuch – mittlerweile oftmals zitiert – von dessen Nervenzusammenbruch an der Isonzofront beim Anblick blutiger Steaks. Zwei Tage zuvor hatte Latzko nämlich einen Granateneinschlag miterlebt, der zwei Ochsen und drei Männer zerrissen hatte. Als sogenannter „Kriegszitterer“ hungerte Latzko dann nach eigenen Angaben bis auf 39 kg ab und wurde zur Rekonvaleszenz in die Schweiz gebracht. Erst von diesem Aufenthalt und seiner dort entstandenen antibellizistischen Literatur ist dann in den Erinnerungen zu lesen, die sehr fragmenthaft und memoirenartig bleiben.

Tiefere Reflexionen und Analysen der Zeit finden wir dabei nicht, ebensowenig einen breiten Blick auf die Epoche, schon gar keinen Überblick. Es sind Moment- und Detailzeichnungen. Latzko verzichtet darauf, weite Teile seines eigenen Lebens darzustellen. Zwischen 1902 und 1916 klafft ein großes zeitliches Loch. Die Aussparung dieser frühen Jahre des 20. Jahrhunderts verwundert umso mehr, denn selbst im Text wird unterstrichen: „Von sechsundzwanzig bis vierzig ist es ein großer Sprung, der Kern jedes Menschenlebens ist in diese zentrale Zeitspanne gebettet.“ Latzkos erste Frau und Kinder werden dezent verschwiegen, obwohl er sich wiederum lang und breit über seine Beziehung zu seinem Vater äußert, was im Kontext der altösterreichischen Literatur natürlich wenig überrascht. Zentrale Ereignisse seines Lebens wie eine Tropenreise 1913, bei der er sich Malaria geholt hatte, was zu einer lebenslangen Morphiumsucht führte, finden keinerlei Erwähnung. Sein eigenes Argument, dass er in diesem Lebensbericht nichts bereits in Büchern Verarbeitetes wiederverwenden will, kann man nicht gelten lassen, denn sein schriftstellerisches Werk mag vielfach autobiografische Elemente bergen, aber keine konsequenten biografischen Berichte. An anderen Stellen der Erinnerungen wiederholt er noch dazu exakt die gleichen Formulierungen aus seinem literarischen Werk, insbesondere bei seinen Äußerungen gegen den Krieg.

Latzkos geplante Herangehensweise – „es soll hier persönlichen Erlebnissen nur Raum gewährt werden, wenn der Einzelfall als Beispiel Geltung für die Allgemeinheit hat“ – wird nicht durchgehend nachvollziehbar umgesetzt. Der Autor meint zwar, er hätte weltanschauliche Abschweifungen und allgemeine Aussagen gestrichen, er hätte aber getrost noch mehr streichen können. Oft verliert sich Latzko in Details; seitenlang schreibt er davon, warum und wie er zu seinem gehassten Hauslehrer gekommen ist. Ausführlichst lesen wir  auch von unspektakulären Jugendverfehlungen. Psychologische – und wohl auch therapeutische – Dimensionen der Reflexionen, Selbstoffenbarung, Beichte und Anklage nehmen breiten Raum ein, was wohl ein zentraler Ansatz für weitere Auseinandersetzungen mit dem Text sein wird. Das Fehlen von Erklärungen, wie eine in damaligen Zeiten so wichtige konkrete Stellungsnahme, warum der links denkende Pazifist auf jegliche Kooperation mit Organisationen, Vereinen oder Parteien verzichtete, ist ebenso aufschlussreich.

Latzkos ständig implizit präsenter Ruf nach Aufmerksamkeit, die Betonung der Bedeutung seiner Arbeiten sowie die Selbstpositionierung unter bedeutenden Intellektuellen der Zeit sind für den schon damals in Vergessenheit geratenen Autor gut verständlich: Er wurde ja schon während der Zeit der Niederschrift bis 1932 in Deutschland und Österreich nicht mehr wahrgenommen und konnte seine Texte dort schon länger kaum mehr veröffentlichen. Nach einer längeren Publikationspause gelang es Latzko beispielsweise nicht, für seinen Roman Sieben Tage einen deutschsprachigen Verlag zu finden, bevor mehrere Übersetzungen – so in Amerika, Holland und Skandinavien – erschienen sind. Der Wiener Krystall Verlag war 1931 dann aber doch zur Herausgabe bereit.

Diese Kränkungen finden in seinem „Vermächtnis“, wie Latzko selbst die Notizen betitelt hat, ihren Niederschlag. Sehr lange lesen wir von seiner Freundschaft mit Hermann Bahr, von der Unterstützung durch Menschen wie Max Reinhardt oder Kurt Eisner. Da erscheint dann ein „Glücklicherweise unterschätze ich viel zu sehr meine Wichtigkeit“ doch ziemlich kokett.

Die Hinweise auf die Bedeutung Latzkos nehmen im zweiten, von seiner Frau Stella Latzko-Otaroff nach seinem Tod im Jahr 1943 verfassten Teil überhand. Kurze Erwähnungen in Zeitungen oder ein Erkennen Latzkos durch Arbeiter werden stolz angeführt. Neben Heinrich Mann, Georg Brandes und Romain Rolland wird insbesondere wieder Hermann Bahr als „guter Freund“ präsentiert. Von Stefan Zweig wird sogar die gemeinsame Korrespondenz ausführlich angeführt. Aufschlussreich auch hierbei, dass der offensichtlich nach Aufmerksamkeit heischende, weniger erfolgreiche Latzko vom unglücklichen Freund Zweig sprach; dass dessen „großer Erfolg […] ihn nach größeren Erfolgen“ streben ließ. „Ich erinnere mich, wie kindisch er sich freute, wenn er zu uns kam und erzählte: ,Schon die zehnte Auflageʻ – oder ,bereits 40 000 Exemplare verkauftʻ“. Immerhin sind Zweigs Briefe Glanzstellen im zweiten Buchteil, denn es ist nicht zu überlesen, dass Stella Latzko-Otaroff weder literarische Ambitionen hatte, noch Talent beweist, sich wohl auch das Deutsche als Schriftsprache nie innig angeeignet hat. Der Herausgeber Deutsch selbst merkt diplomatisch an, dass „sich ihr schriftstellerisches Talent in Grenzen“ hält.

Der inkohärente Text springt von einem Zitat zum nächsten; oft hat Latzko-Otaroff nur wenige eigene Zeilen dazwischengesetzt; viele Zitate bleiben so vollkommen unkommentiert, manche sind Wiederholungen vom ersten Teil. Wenn das alles sicher auch die große Verehrung für den Gatten und für andere Freunde widerspiegelt, wie der Herausgeber meint, bleibt es doch holprig zu lesen.

Die psychologischen Offenbarungen indes sind bemerkenswert. In Sachen Beziehungen zu dem Gatten liest man beispielsweise: „Da die Schweiz damals als Daueraufenthalt zu teuer wurde, beschloss mein Mann unseren Wohnsitz nach Salzburg zu verlegen.“ Ein „Wir“ taucht nur selten auf; insbesondere bei Ansichten zu Literatur und Politik will Stella Latzko-Otaroff offensichtlich Sprachrohr des Mannes bleiben. Leider erzählt sie rein gar nichts von sich, obwohl es sehr spannend wäre, gerade auch von ihrem Leben zu erfahren: Sie stammte aus georgischem, durch die Revolution verarmtem Hochadel, sprach viele Sprachen und hatte bereits ein Kind aus erster Ehe. Der Einbezug ihrer Biografie wäre sicher ein Gewinn gewesen.

Doch auch ohne die ausgeklammerten Themen und mit den genannten inhaltlichen, stilistischen und strukturellen Schwächen bleibt die Lektüre aussagekräftig und zumeist kurzweilig. Die verdienstvolle Arbeit des Herausgebers und Übersetzers Georg B. Deutsch, dieses Werk endlich in deutscher Sprache verfügbar zu machen, ist hoch zu würdigen. Der Band wird für viele WissenschaftlerInnen, die zur Literatur zum Ersten Weltkrieg, zur historischen und transkulturellen Situation der Schreibenden und zum Exil arbeiten, bedeutend bleiben. Deutsch erleichtert die Auseinandersetzung mit einem hilfreichen Werk- und Personenregister. Latzkos Erinnerungen reichen zwar literarisch nicht an seine Novellen in Menschen im Krieg heran, doch für den wissenschaftlichen Zugang zu seiner Person und seinem vielfältigen Umfeld ist diese Publikation eine wichtige Errungenschaft, die in germanistischen und kulturwissenschaftlichen Fachbibliotheken zu finden sein sollte.

Titelbild

Andreas Latzko / Stella Latzko-Otaroff: Lebensfahrt. Erinnerungen.
Herausgegeben und kommentiert von Georg B. Deutsch.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2017.
370 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783732903542

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