Eine Kampfvokabel der Moderne

Hartmut Rosa und Co-Autoren widmen sich „Theorien der Gemeinschaft“

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt keine politischere Frage als die nach dem ‚Wir‘ – diese Feststellung, zu der Hartmut Rosa und seine Co-Autoren in dem neu aufgelegten und vollständig überarbeiteten Einführungsband zu Theorien der Gemeinschaft gelangen, zeigt zugleich die Schwierigkeit an, bei der Beschäftigung mit Gemeinschaft‘ auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Wer wir sind und was wir sein wollen, aber auch, welches politische Kollektiv ‚uns‘ am ehesten entspricht – diese Fragen werden seit der Antike reflektiert und sind eng mit der Semantik des Gemeinschaftsbegriffs verknüpft.

Der insbesondere mit seiner Arbeit zu ‚Beschleunigung‘ bekannt gewordene Soziologe Hartmut Rosa, Lars Gertenbach, Henning Laux und David Strecker widmen sich im vorliegenden Band in sechs Kapiteln den verschiedenen Dimensionen von Gemeinschaft: Nach genealogischen Ausführungen zu Gemeinschaftskonzepten bis hin zu Platon und Aristoteles tragen sie im ersten Kapitel zu einer „kulturhistorischen Systematik“ des Begriffs bei, wobei hier die folgenreiche Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies und deren Weiterentwicklung (und Korrektur) bei Helmuth Plessner im Mittelpunkt steht. In diesem Zuge wird auch auf die Prozessualisierung eingegangen, die den Begriff zu Anfang des 20. Jahrhunderts erfasste und dazu führte, dass nun etwa bei Georg Simmel statt Gemeinschaft Vorgänge der Vergemeinschaftung fokalisiert wurden.

Daraufhin wird der „Wandel gemeinschaftlicher Beziehungen“ ins Blickfeld gerückt; der in der Moderne vielbeklagte Verlust von Gemeinschaft, aber auch die Wiederkehr von Gemeinschaften in der Spätmoderne bis hin zu „posttraditionalen Formen“ von Gemeinschaft. Im dritten Kapitel über „Mechanismen der Vergemeinschaftung“ wird – besonders suggestiv – das Verhältnis von Innen- und Außenseite der Gemeinschaft verhandelt, Mechanismen des Einschlusses und der Ausgrenzung. Zudem wird unter Rückgriff u.a. auf Slavoj Žižek und seine Relektüre psychoanalytischer Theoreme erläutert, inwiefern Gemeinschaften immer auch über ein Moment des Imaginären, „eine Art Phantasma“, konstituiert werden.

Die Funktionen von Gemeinschaft sind Thema des darauffolgenden Kapitels, das in diesem Zusammenhang auch die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus „um den ontologischen oder konzeptuellen Vorgang im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ rekonstruiert. Drei Funktionen werden hier unterschieden: die Konstruktion einer stabilen Identität, die Bildung von Sozialkapital und das Denken des Republikanismus als Bedingung von Demokratie. Das fünfte Kapitel widmet sich normativen Problemen einer „Politik der Gemeinschaft“, allen voran der Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien (Rawls‘ Theorie und seine Rezeption spielen hier eine zentrale Rolle), sowie dem Umgang mit Minderheiten in einer multikulturellen Umgebung.

Das letzte Kapitel schließlich ist der „Dekonstruktion der Gemeinschaft“ gewidmet, in dem ausgehend von Batailles Rekonzipierung von Gemeinschaft im Angesicht des Faschismus in den 1930er Jahren insbesondere auf Jean-Luc Nancys differenztheoretisches Gemeinschaftskonzept eingegangen wird. Zwar entfernen sich die in diesem letzten Teil aufgenommenen Konzepte von im engeren Sinne soziologischen Perspektiven, doch sind diese Ausführungen, so sehr sie auch auf empirische Funde verzichten, zusammen mit dem Kapitel über die Mechanismen der Herstellung von Gemeinschaft insofern besonders attraktiv, als hier das noch immer unerschöpfte Reservoir an Anschlussmöglichkeiten für ein Denken von Gemeinschaft unmittelbar deutlich wird.

Freilich birgt diese Offenheit auch Gefahren, wie die ideologische und totalitäre Vereinnahmung des Begriffs im 20. Jahrhunderts wiederholt gezeigt hat – besonders eindringlich in der Aneignung durch die Nationalsozialisten, die den Begriff für den deutschsprachigen Kontext nachhaltig diskreditierten. Es handelt sich also um einen Begriff, der nicht nur theoretisch konzipiert, sondern auch geschichtlich und – in seinen verschiedenen Formen von der National- bis hin zur Fahrgemeinschaft – alltäglich erfahrbar ist. Sowohl die Einleitung als auch das Schlusswort heben die Faszination von Gemeinschaft noch einmal hervor, die einem „mythische[n] Ort“ diverser politischer Strömungen gleichkommt.

Im Anschluss an Tönnies‘ positive Konzipierung der Gemeinschaft als Gegenbegriff zur ‚kalten‘ Gesellschaft im Kontext der sozialen Dynamisierung des 19. Jahrhunderts wurde Gemeinschaft zu einem äußerst mächtigen Begriff und darüber hinaus zu einer willkommenen Projektionsfläche; einer bejahenswerten Instanz, die dem Unbehagen an der Moderne Ausdruck gab. Sie selbst erschien als verdrängt und gar ausgelöscht von der Dynamik der Moderne, einer immer feineren Ausdifferenzierung der Gesellschaft – trotz der Versuche Helmuth Plessners, dem „Gemeinschaftsradikalismus“ seiner Zeit eine „Verteidigung der Gesellschaft“ entgegenzusetzen.

Die Tücken von Gemeinschaft sind nicht nur ideologischer, sondern auch begrifflicher Art, was für einen Einführungsband wie dem vorliegenden eine besondere Herausforderung darstellt: denn als „Grundbegriff“ ist Gemeinschaft nur schwer theoretisch zu systematisieren. So sprechen die Autoren von einem „Theoriedefizit“, das bezüglich dieses keineswegs neutralen Begriffs bestehe, der sich seit Tönnies zunehmend zu einer „Kampfvokabel“ entwickelte. Fast alle politischen und soziologischen Theorien der Moderne enthielten zwar Überlegungen zu Gemeinschaft (was an den zahlreichen Autoren deutlich wird, die der Band einschlägig zitiert), eigentliche Theorien der Gemeinschaft seien jedoch selten. Aus der Zusammenschau an Theorieansätzen leiten die Autoren am Ende ihrer Einführung dennoch drei Kriterien ab, die für Gemeinschaften eine Rolle spielten: ein gemeinsames Gut (wie z.B. Sprache, Traditionen oder ein Territorium), eine bestimmte Reichweite der Mitgliedschaft (z.B. ein Freundeskreis oder die ganze Menschheit) sowie ein normativ und manchmal auch rechtlich bestimmtes Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, das neuere Theorien auch immer wieder neu zu klären suchen.

Da es sich bei dem Band aus der bewährten Junius-Reihe um eine überarbeitete Ausgabe handelt, bleibt zu bedauern, dass nicht in einer Notiz auf Änderungen gegenüber der ersten Auflage aus dem Jahr 2000 eingegangen wird. Auch wer diese erste Edition nicht kennt, dürfte sich dafür interessieren, welche Perspektiven in der Forschung zu Gemeinschaft seit der Jahrtausendwende möglicherweise neu hinzutraten oder gestärkt wurden sowie welche Aspekte die Autoren für revisionsbedürftig erachteten oder neu aufnahmen. Inhaltlich hätten Ausführungen zum Verhältnis von Masse und Gemeinschaft (das hier hauptsächlich in eine Fussnote versetzt wird) sicherlich zur weiteren Erhellung des Begriffs und seiner Semantik im 20. Jahrhundert beigetragen. Dies schmälert jedoch keineswegs die erhebliche Leistung, einen solch vielseitigen und stark affektiv besetzten Begriff synthetisch darzustellen und in seinen verschiedenen Komponenten zu reflektieren, wobei die Autoren hier kluge Schlaglichter setzen. Zweifellos regen sie auf diese Weise dazu an, sich weiter kritisch mit Begriff und Phänomen der Gemeinschaft auseinanderzusetzen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hartmut Rosa / Lars Gertenbach / Henning Laux / David Strecker: Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung.
2. vollständig überarbeitete Auflage.
Junius Verlag, Hamburg 2018.
208 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885066675

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