Die Nachkommen von Balthasar Schwerdt
In seinem groß angelegten Roman „Kronosʼ Kinder“ erzählt Sergej Lebedew vom Schicksal einer deutsch-russischen Familie über mehr als zwei Jahrhunderte
Von Dietmar Jacobsen
Von seinen deutschen Vorfahren erfährt Kirill zum ersten Mal bei einem Besuch des Deutschen Friedhofs in Moskau mit seiner Großmutter. Lina Wesnjanskaja heißt eigentlich Karolina Schwerdt, sie hat aber aus Angst, als Deutschstämmige erkannt zu werden in einem Land und zu einer Zeit, als Deutschsein Feindsein bedeutete, den Familiennamen ihres Mannes angenommen und ihren Vornamen durch das Weglassen der ersten beiden Silben russifiziert. Dass das nötig war, sieht Kirill schnell ein – denn er hat den Hass der Russen auf alles Deutsche kennengelernt, als ein halb verrückter, betrunkener Nachbar in einer Horde Gänse Deutsche zu erkennen glaubte und mit den Tieren daraufhin kurzen Prozess machte. Nun aber, kurz vor ihrem Tod, bricht die alte Frau dem Enkel gegenüber ihr Schweigen. Indem sie die Grabmale der Familien Schwerdt und Schmidt von den die Inschriften überdeckenden Flechten und Moosen befreit, „den Grind der Zeit abputzt“, öffnet sie für Kirill ganz bewusst einen Zugang zu dem Teil seiner Familiengeschichte, von dem der in der Sowjetunion geborene Nachfahre der Familien Schwerdt und Schmidt bis dahin nichts wusste.
Gegenstand der beiden bisher ins Deutsche übersetzten Romane des 1981 in Moskau geborenen und derzeit in Berlin lebenden Sergej Lebedew ist die russische Vergangenheit. Mit Der Himmel auf ihren Schultern (2013) und Menschen im August (2015) wandte sich der gelernte Geologe und spätere Journalist bisher allerdings hauptsächlich der Stalinzeit und dem Russland der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts zu. Nun, in Kronosʼ Kinder, seinem vierten Buch, erzählt er eine Familiengeschichte über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten.
Es ist zu großen Teilen die genau recherchierte Geschichte seines eigenen Herkommens. Mit dem Wittenberger Arzt Julius Schweikert (1807–1876), einem Pionier der homöopathischen Heilkunde, der einen entscheidenden Anteil an der Einführung der Homöopathie in Russland hatte, befand sich unter den väterlichen Vorfahren Lebedews ein Mann, an dessen Leben und dem seiner Nachkommen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sich sehr gut verdeutlichen ließ, wie wechselvoll sich das Verhältnis von Deutschen und Russen in den letzten 200 Jahren gestaltete.
Aus Julius Schweikert ist in Kronosʼ Kinder Balthasar Schwerdt geworden. In seinen Anfängen als ein dem Vater, einem bekannten Wittenberger Chirurgen und Geburtsheilkundler, nacheifernder Arzt ein erklärter Gegner der Homöopathie, wird er später vom Saulus zum Paulus dieser heiß umstrittenen Behandlungsmethode und etabliert sie dank des guten Rufes, den er sich als homöopathischer Leibarzt eines russischen Fürsten erwirbt, in Moskau, wo er 1883 hochgeehrt – inzwischen hat er der Homöopathie freilich wieder halbwegs abgeschworen – stirbt. Sein Sohn Andreas, neben sieben Töchtern einziger männlicher Nachfahre, „Deutscher qua Blut und Russe qua Geburt“, tritt nicht in die väterlichen Fußstapfen, sondern begeistert sich schon als Kind für die Ingenieurskunst. Durch seine Ehe mit der Tochter des in Russland lebenden Ingenieurs und Stahlmagnaten Gustav Schmidt wird er zum Miteigentümer von dessen prosperierendem Unternehmen und vom Schwiegervater später dazu überredet, gemeinsam mit seiner Frau die russische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Mit dem gemeinsamen Sohn Arsenij, mit dem das medizinische Interesse seiner Vorfahren in die Familie zurückkehrt und der Epidemiologe wird, überschreitet die Familie schließlich die Schwelle zum 20. Jahrhundert.
Als Sympathisant mit den am Jahrhundertanfang grassierenden sozialistischen Ideen – Arsenij „sah in der sozialistischen Idee die allseitige Medizin, die Balthasar in der Homöopathie gesehen hatte“ – riskiert der gut beleumundete Doktor sein Leben, als er einen von der Obrigkeit gesuchten Aufrührer – einen der Initiatoren des Dezemberaufstands von 1905 – in seinem Haus gesundpflegt. Die Beziehung zu dem Mann, den man Aristarch nennt, wird später, in den Wirren von Weltkrieg und Revolution, freilich wichtig sein für die Familie. Aristarch, nach der Oktoberrevolution 1917 zu einem einflussreichen Vertreter der jungen Sowjetmacht geworden, lässt der bedrängten Familie einen Schutzbrief ausstellen, der ihre Verdienste für die Sache der Revolution betont und die Schwerdts und Schmidts zunächst vor Verfolgung bewahren soll. Andreasʼ Leben rettet das Dokument freilich nicht – er wird zum Opfer marodierender Rotarmisten.
Auch die auf Kirills Urgroßvater Arsenij folgenden Generationen seiner Großeltern und Eltern haben es als Deutschstämmige in ihrer russischen Umgebung schwer. Kirill begreift sie in der Rückschau als „überzählige, zwischenzeitliche, flankierende Menschen, die sich nicht in einen schützenden, tiefen Kontext der Tradition fügten“. Entsprechend hoch war ihr Preis für „Fehlleistungen, Zufälligkeiten, ungute Koinzidenzen“; man konnte sie leichter „zu Dämonen des politischen Bestiariums erklären“. Dass Großmutter Karolina als einzige der Nachkommen von Balthasar Schwerdt den Terror der Stalinzeit und den Zweiten Weltkrieg überlebte, verdankte sie vor allem der Tatsache, dass sie ihr Herkommen wirkungsvoll zu verschleiern wusste. Wer das nicht tat, dessen Überlebenschancen waren in einer Zeit, in der die Masse wichtiger genommen wurde als der einzelne Mensch, gering.
Kronosʼ Kinder beginnt mit einem Besuch von Großmutter und Enkel an den Gräbern von Vorfahren, von denen der Heranwachsende zum ersten Mal hört. Dass er zu einem Teil von Deutschen abstammt, verwirrt ihn zunächst zutiefst. Denn – so hat Sergej Lebedew in einem Interview zu seinem Roman bekannt – als Kind in den 80er Jahren in der Sowjetunion spielte man mit seinen Kameraden immer noch „Zweiter Weltkrieg“ und wollte auf keinen Fall zu jenen gezählt werden, die die verhassten Deutschen zu verkörpern hatten. Nun selbst zu erfahren, dass man zu einem Teil von Deutschen abstammte, war zunächst ein Schock. Doch dieser Schock gebar auch die Neugier auf eine Vergangenheit, von der man so lange nichts gewusst hatte. Und weil mit den 90er Jahren neue Freiheiten in einem bisher von der Welt abgeschnittenen Land Einzug hielten, machte sich der junge Mann irgendwann auf, um mehr über das Leben seiner Vorfahren zu erfahren. Er besuchte deren deutsche Wirkungsstätten in Wittenberg, Leipzig und Halle, rekonstruierte ihre Lebenswege und versuchte, Nachfahren jener Schwerdts und Schmidts zu finden, ohne die er selbst nicht existieren würde.
Bis zu diesem Punkt stimmen die Erlebnisse des 1981 geborenen Schriftstellers Sergej Lebedew und der von ihm erfundenen Romanfigur Kirill Wesnjanskij weitgehend überein. Die Entscheidung, aus den Ergebnissen seiner familiären Recherche keine Chronik, sondern einen Roman zu machen – samt aller sich daraus ergebenden poetischen Freiheiten –, traf der Autor schließlich, um einen generalisierenderen Blick auf das Verhältnis von Russen und Deutschen in der Vergangenheit zu werfen, als das anhand einer bloßen Familiengeschichte möglich gewesen wäre.
Dass das gegenseitige Misstrauen, mit dem Deutsche und Russen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einander begegneten, kein Ergebnis von Revolution und Stalinzeit war, sondern seine Wurzeln bereits in der Zeit des Ersten Weltkriegs hatte, die Geburt des Totalitarismus Stalinscher Prägung also noch vor den Machtantritt der Bolschewiki datiert werden muss, darf unter dem Strich als eines der überraschendsten Ergebnisse von Lebedews Recherchen angesehen werden. Diese bringen es im Übrigen mit sich, dass bei der Vielzahl von Ereignissen, in die der Autor seine Figuren über einen Zeitraum von fast zwei Jahrhunderten begleitet, deren individuell-menschlichen und psychologischen Antriebe gelegentlich etwas in den Hintergrund treten. Alles in allem gelingt es dem Autor allerdings auf beeindruckende Weise, das umzusetzen, was sich sein Held Kirill angesichts einer Grabplatte in Form eines offenen Buches mit unbeschriebenen Seiten auf dem Moskauer Deutschen Friedhof vornimmt: „Das Buch, das das Familiengeheimnis der Schwerdts offenbarte, das sie alle zusammenrief und versammelte […] dieses Buch musste er selbst schreiben.“
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