Romantisierend – rauschhaft – rational

„Die Arroganz des Kummers“ von Jakob Leiner

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jakob Leiner, geboren 1992, zurzeit Studierender der Medizin, hat mit Die Arroganz des Kummers im Jahr 2017 seinen ersten Roman vorgelegt. Er selbst etikettiert ihn als „Adoleszenzroman, ein Gegenentwurf zum gesellschaftlich adaptierten Leben, ein fiktiver Rausch der Gedanken“. Ob Leiner damit eigene Wesenszüge und/oder Erfahrungen verarbeitet, sei dahingestellt. Und wenn er es täte, wäre es mitnichten bedeutend, denn was in dem fulminanten Text zählt, ist weniger der Plot als vielmehr der kraftvolle Sog der Wörter, die den Weg eines jungen Mannes beschreiben, der sich als Außenseiter stilisiert, der als nomadisierende Monade durch Tschechien, Österreich und die Slowakei reist.

Nachdem ihn seine Freundin verlassen hat, weil sich – so gibt sie zu verstehen – in der Beziehung zu ihm im Laufe der Zeit eine „drastische Tendenz“ offenbart habe, eine „Verschiebung des anfangs bestehenden Gleichgewichts zu seinen Gunsten“, trifft der namenlos bleibende Protagonist an einem „wurmstichigen Mittwochmorgen“ seinen ehemaligen Chemielehrer und erfährt sich an einem „rosaroten Donnerstag“ als „rhetorisches Opfer“ eines extrem übergewichtigen Mannes mit „gewaltigem Kürbisbauch“ und der Wirkung einer „überreifen Tomate mit menschlichen Zügen“. Sich selbst nimmt der junge Mann im Allgemeinen als vergeistigt wahr, bei anderen gelte er sogar als unsensibel. Seine Lebenslüge sei es, mit intellektuellem Gebaren seine „angeborene Mattigkeit“ zu kompensieren. Nach einer kurzen Phase des Grübelns trifft er die Entscheidung, mit dem Zug nach Prag zu reisen, eine Stadt, die er als „betörend“ erlebt. Nur abends, als er alleine in der Jugendherberge sitzt, sucht ihn Resignation heim. Von einer jungen Frau, die er näher kennenlernen möchte, lässt er sich nicht aus der Fassung bringen. Er bricht auf, nicht zuletzt deshalb, um – so wie er sagt – seine „verlorene Sekurität“ wiederzufinden. In Wien hofft er, dass die Kunst ihn erneut retten möge. Er betrinkt sich mit drei Spaniern, von denen einer den Kneipenwirt niederschlägt. Am folgenden Tag bringt er sich mit Aspirin und Cetirizin wieder auf die Beine, bevor er nach Salzburg und von dort aus noch einmal nach Wien fährt. Dort überfallen ihn zum ersten Mal seit der Trennung all jene Gefühle, die er verdrängt und überwunden wähnte, Gefühle der Isolation und der „süßen Verlorenheit“, die sein „Wesen mittlerweile nicht einmal mehr abschütteln“ wolle. Derart disponiert, begibt er sich nach Bratislava, von wo aus er seiner Ex-Freundin Briefe schreibt. Er wolle nun sein „Innerstes nach außen kehren“. In der Liebe habe er die Chance gesehen, seinem Eremitendasein abzuschwören, nun wolle er aber seine „Exklusivität“ und sein „Außenseiterdasein“ wieder kultivieren, wohlwissend, dass seine Seele in der Vergangenheit festhänge. Nach einer Nacht unter freiem Himmel wird der Ich-Erzähler in ein Krankenhaus eingeliefert, erhält Infusionen, wird wieder entlassen, obwohl eine nachgerade dionysische Katharsis in Gestalt eines anhaltenden Gelächters um seine psychische Gesundheit bangen lässt. Wo genau sich der junge Mann gegen Ende seiner wortgewaltigen Litanei aufhält, wird zwar nicht gesagt, aber der Verweis auf einen Gemeinschaftsraum in einer Institution und auf die rosa Pillen, die er nimmt, sprechen eine klare Sprache. „Mein Name ist übrigens Mozart“ – diese Enthüllung kommt zum Schluss.

Womit der vorliegende Erstling ohne jeden Zweifel für sich einnehmen kann, ist die Art und Weise, wie der Ich-Erzähler, per definitionem homodiegetisch und voll in das Geschehen involviert, seine intellektuelle Selbstbespiegelung inszeniert. Obgleich sie mit Rückblenden und Digressionen gespickt ist, in denen erzählendes und erlebendes Ich auseinanderdriften, gewinnt doch der Eindruck die Oberhand, dass in dem Prozess der Auseinandersetzung mit dem Ich keine Dystonie vorliegt, sondern gleichsam eine Syntonie von Narration und Reflexion. Gleich drei Kapitel, in denen andere Erzähler das Wort ergreifen, grätschen wiederum irritierend in diese Simultaneität hinein: das erste Kapitel, in dem eine Art erlebte Rede die Affektwelt der Freundin spiegelt, das Kapitel „Menschenkenntnis“, das den Geschichtslehrer Herrn S. bei der Korrektur einer besonders guten Arbeit vorführt, und eines der letzten Kapitel, „Demenzparty“, das auf den jungen Arzt Petros fokussiert, der nach einem erfolgreichen Studium einen „unangekündigten Triumph der Gefühle über den Geist“ erlebt und spontan einer todkranken Frau beim Sterben assistiert. Alle drei Figuren stehen in enger Verbindung zum Ich-Erzähler, brechen seine Syntonie auf und könnten auch als Teile seines inneren Concertos, als seine „Ego-States“, definiert werden. So indiziert die Freundin, die ihn Verlassende, den vordergründigen Abschied vom Zustand eines irrationalen Verliebtseins. Herr S., der das im Roman integral eingefügte Essay seines begabten Schülers mehrfach lesen muss, um ihm einen Sinn zu entlocken, personifiziert als Gegenpol dazu die Prävalenz des Geistes, leicht kontrapunktiert mit der Klassifikation des Korrigierten als „pathetisch eingefärbtes Genesis-Resümee“. Der junge Mediziner Petros schließlich steht für die Routinen eines Klinikalltags, die seinen ganzen Pragmatismus fordern, in denen eine „konstruktive Abgeklärtheit“ herrscht, die seine Emotionalität unterminiert.

Auf einer Meta-Ebene sind die Einschübe in die Ich-Erzählung als jeweils unterschiedlich akzentuierte poetische Fingerübungen zu lesen. Sie sind identisch in ihrer teils auktorialen, teils personalen Erzählhaltung, unterscheiden sich aber durch ihre Schwerpunkte und die damit aufgerufenen Traditionen: Zu Beginn schiebt sich ein äußerst epigonaler, romantisierender Duktus in den Vordergrund. Eine aufdringlich anthropomorphisierte Natur ist so schwülstig und hyperbolisch aufgeladen, dass man sich fragt, ob hier vielleicht parodiert oder zumindest pastichiert werden sollte. Sieht man von der Anthropomorphisierung ab, so gilt ähnliches für das Essay des Pennälers, eine intellektualisierende Hülle, die nicht unbedingt einen mageren Kern ummantelt, die aber zumindest eine Diskrepanz zwischen hochtrabender Form und vermutlich mangelndem Verständnis des Verfassers markiert, aus der aber zumindest ein expressives Bild resultiert, der Mensch nämlich als Esel mit dem Glück als „illusionäre“ Karotte vor seinen Nüstern. Die Erzählung von Petros hebt sich von den beiden anderen insofern ab, als sie eine knappe realistische, stilistisch unspektakuläre Fallgeschichte eines Arztes skizziert. Nach einer langen Phase der Selbstverleugnung bemüht sich dieser verzweifelt, mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Der Verliebte, der Intellektuelle, der unruhige Pragmatische – alles Facetten des an sich (sieht man ab von „Mozart“) namenlos bleibenden Protagonisten. Am ehesten ist ihm eine post-postmoderne Spielart des romantischen „Mal du siècle“ zu attestieren. Sprachlich kommt diese nicht selten sehr verschwurbelt daher, dezentriert ihren Protagonisten und entlarvt ihn im Bereich der Werkproduktion als Trichter, in dem verschiedene Einflussgrößen zusammenfließen – vom romantisch gefärbten Motiv der Leerstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft bis hin zu den formalen Diskontinuitäten des Nouveau oder Nouveau nouveau roman. Die Suche nach Identität mäandert in der semasiologischen Breitband-Zone der Melancholie, lotet die ganze Palette der Untiefen aus vom Kummer und seiner Arroganz, „hechelnder Schoßhund“ der „hinterhältigen Königin Intelligenz“, bis hin zu geistigen Höhenflügen, auf Dauer gestellte intellektuelle Performanz. Am Ende des Romans erteilt der Protagonist der „Teufelseinheit aus Ignoranz, Selbstinszenierung und Überheblichkeit“ eine Absage und singt ein Loblied auf seine „neue gute Freundin“. Er befinde sich an einem erkenntnisreichen Ort, der ihn auffordere, „die unerklärliche Schönheit des Lebens“ zu trinken „wie ein Kind die Muttermilch“. Alle Phänomene führten zum „Innersten“ zurück, dies sei die Aufgabe von Musik und Kunst.

Festzuhalten ist, dass der junge Mann, um den es hier geht, ein neues Stadium seines Daseins erreicht hat, ergo, heruntergebrochen auf das Genre, ein Entwicklungsroman entstanden ist. Da die persönliche Entfaltung des Protagonisten auf einem sehr unkonventionellen Bewältigungsmodus seiner Krise beruht, wäre es besser, von einem Coming-of-Age-Roman zu sprechen, der vom Status quo der Vergeistigung hinleitet zum Dynamismus des Ausflippens und des Halluzinierens. Mehr noch: „Rosa Pillen“ induzieren maladaptive, gar wahnhafte Verhaltensmuster im Abseits der Gesellschaft. Ob man die Briefe an die ehemalige Freundin, an „E.L.M.C.“, eher als Sendschreiben an „Ecstasy, LSD, Marihuana und Crystal“ auffassen sollte, sei hier lediglich als eine Option in den Raum gestellt.

Leiners Romandebüt ist nicht unbedingt leichte Kost. Es ist epigonal, romantisierend, kommt mit rauschhaften Wortkaskaden daher, die aber rational und somit emotional unnahbar wirken. Klug und pointiert diagnostiziert Leiner die Zeitläufte und die Befindlichkeiten der Menschen des 21. Jahrhunderts. Einerseits. Andererseits: Hat man nicht Urteile wie „oberflächliche Plakativität aller Dinge“ oder „Zeiteinsparung, hohe Qualität und Quantität als die Leitlinien unserer modernen Gesellschaft“ nicht schon tausendmal gelesen? Wie authentisch, wie unverwechselbar ist Leiners Stimme? Viele Intertexte, die im Vagen verbleiben, scheinen sich zu einem Potpourri zu addieren, in dem mögliche Intentionalitäten und Deutungshorizonte im Klangmosaik verwirbeln. Ist alles durchweg ironisch, ist der Text eine Parodie auf die Allgegenwart existenzieller Sinnsuche? Liegt ein Pastiche, eine sich aus vielen Einflüssen speisende Stilübung vor, die manchmal ins Komödiantische abdriftet? Vieles bleibt undurchsichtig. Ist das gewollt oder nicht? Müßig zu klären, denn man sollte sich auf das Furioso der Worte und Wörter einlassen. Für alles andere ist die Mäeutik der geneigten LeserInnen zuständig, durch die der Text erst – frei nach Sartre – zu seiner Vollendung hinstrebt.

Titelbild

Jakob Leiner: Die Arroganz des Kummers. Roman.
Autumnus Verlag, Berlin 2017.
268 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783944382883

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