Der lange Weg von „Danson Johi“ (Achtung des Mannes, Geringschätzung der Frau) zu „Ūman Lib“ (Women’s Liberation) in Japan
Eine umfangreiche Quellensammlung erschließt die japanische Frauenbewegung im Kontext der am Westen orientierten Modernisierung der japanischen Gesellschaft
Von Christine Frank
Weißgeschminkte Geisha mit Trippelschrittchen im farbenprächtigen Kimono und winzigem aufgemalten roten Mündchen oder pastellfarbene Manga-Girls mit kugelrunden, langbewimperten Augen im Schulmädchen- oder Feenlook sind die im Westen wohl am weitesten verbreiteten Images japanischer Frauen. Allenfalls stellen sich noch medienvermittelte Bilder ein von Myriaden uniform zurechtgemachter, blasser, zarter Büroangestellter in schwarzweißen Kostümchen und Schuhen mit halbhohen Absätzen, kaum voneinander unterscheidbar in der Masse, und kaum ansprechbar in ihrer Eilfertigkeit, die ihnen gebotenen Aufgaben ordnungsgemäß, gewissenhaft und rasch zu erledigen.
Dass einer der ersten Romane der Weltliteratur, die Erzählung vom Prinzen Genji, bereits im 10. Jahrhundert von einer Frau verfasst wurde – der Hofdame Murasaki Shikibu –, und dass im prämodernen Japan weibliche Kriegerinnen (Onna-musha) neben den ungleich berühmteren Samurai kämpften und anerkannte Mitglieder der Kriegerkaste (Bushi) waren, ist weit weniger bekannt – und fiel bei der Neubestimmung der sozialen Rolle der Frau während der Modernisierung Japans kaum ins Gewicht. Nach mehr als zweihundert Jahren Abschließung folgte auf die erzwungene Öffnung des Landes 1853/54 mit der Abschaffung des Shogunats und der Erneuerung der Macht des Kaisers (Tennō) die sogenannte Meiji-Restauration (1868–1890). Sie führte zu einer grundlegenden Reorganisation des Staates, die der aus früherer Zeit stammenden Maxime „Danson Johi“ (Achtung des Mannes, Geringschätzung der Frau) neue Geltung verschaffte. Wieviel sich dabei dem Einfluss und der Übernahme westlicher Vorstellungen (und entsprechender Gesetzgebungen in Bezug auf eine behauptete natürliche Überlegenheit des Mannes über die Frau) verdankte, ist immer noch eine spannende Forschungsfrage. Die vom Zeitgenossen der damaligen Modernisierungsbestrebungen Friedrich Nietzsche in die Welt gesetzten misogynen Äußerungen etwa in seinem Zarathustra (1883) fielen auch in Japan auf fruchtbaren Boden. Dass die Gleichberechtigung der Geschlechter selbst in Europa „noch keineswegs durchgesetzt ist“, bemerkt schon Kishida Toshiko, eine der ersten japanischen Feministinnen, 1884 in dem zehn Punkte umfassenden Pamphlet An die Schwestern, das am Beginn der von Michiko Mae und Ilse Lenz auf Deutsch herausgegebenen Dokumentation zur Frauenbewegung in Japan steht: „Das ist eine Schwachstelle der Zivilisation,“ so Kishida weiter, „die belegt, dass der Westen ihren höchsten Stand noch nicht erreicht hat.“ Woraus sie folgert: „Die Stärken zu übernehmen, die Schwächen auszugleichen und so die Zivilisierung unseres Landes voranzutreiben, ist die Aufgabe der PatriotInnen.“ Hier wird ein Grundsatz festgehalten, der die Auseinandersetzung mit den Errungenschaften anderer Kulturen in Japan bis heute prägt. Damit der für die Übersetzung gewählte Begriff „PatriotInnen“ in der heute üblichen gendersensiblen Schreibweise nicht falsche Assoziationen weckt, wird der japanische Begriff „aikoku shishi“ von den Herausgeberinnen in einer Fußnote erklärt; es ist (ohne nationalistischen Unterton) eine allgemeine, alle Geschlechter umfassende Bezeichnung für „Menschen, die sich voll für das öffentliche Wohl einsetzen“ – nach heutigem Verständnis also ein durchaus ‚moderner‘ Sprachgebrauch ohne Gendermarkierung.
Während der Meiji-Zeit entwickelte sich in Japan eine ebenso aktive wie wirksame Frauenbewegung, die sich an den entsprechenden zeitgenössischen Bewegungen in England oder den USA orientierte, dazu aber auch eine kritische Haltung einnehmen konnte, so etwa wenn es um genderbezogene Moralvorstellungen ging, die dem nicht christlich geprägten Japan fremd waren, wie Michiko Mae und Ilse Lenz eindrucksvoll belegen können. Ihre umfangreiche Dokumentation besteht zu zwei Dritteln aus ins Deutsche übersetzten kommentierten Quellentexten, während das erste Drittel zwei gewichtige einführende Essays der beiden Herausgeberinnen enthält, in der Entwicklung und Schwerpunkte, Zielsetzung und Errungenschaften, aber auch Spezifika der Frauenbewegung in Japan eingehend, wissenschaftlich fundiert und doch allgemeinverständlich dargestellt werden. Es scheint nicht selbstverständlich, dass die sorgfältig eingeleitete und kommentierte Quellensammlung der beiden renommierten Fachfrauen und Spezialistinnen für Genderfragen auf Deutsch erscheint. In und mit diesem Buch geht es nämlich über den sozialwissenschaftlich begründeten japanologischen Fachdiskurs hinaus vor allem darum, die japanische Frauenbewegung einer internationalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit ein anderes Bild von Frauen in Japan aufzuzeigen. Es geht nicht darum, über Frauen zu sprechen, sondern sie selbst aus den Quellen sprechen zu lassen und zugleich die Offenheit und Anschlussfähigkeit der Frauenbewegung in Japan unter Beweis zu stellen.
Trotz des beeindruckenden Umfangs des Bandes bieten die 58 präsentierten Quellentexte nur eine winzige Auswahl aus einem riesigen Textbestand, aus dem die Herausgeberinnen auswählen konnten. Sie haben ihr Material im Wesentlichen aus sechs hauptsächlich in den 1990er Jahren in Japan erschienenen jeweils mehrbändigen Dokumentationen geschöpft; eine von ihnen ist in 31 Bänden herausgekommen. Die Mehrheit der hier publizierten Texte wurde zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Sie sind nicht chronologisch angeordnet, sondern wurden einzelnen Sachfragen zugeordnet, die dreizehn thematisch unterschiedliche Blöcke bilden. Ihre Anordnung lässt den sozialwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt in der Arbeit der beiden Herausgeberinnen deutlich erkennen. Dementsprechend werden blockweise Texte zusammengefasst, die sich Fragen der Selbstbestimmung, der Gleichstellung und der gesellschaftlichen Partizipation, der Frauenbildung resp. ‚weiblicher‘ Erziehungsaufgaben, von Ausgrenzung und Gewalt sowie der Genderbewegung widmen. So bietet der Quellenband rasche Orientierung, wenn man einschlägige Positionen in Bezug auf grundlegende Anliegen und Angriffspunkte der weltweiten Frauenbewegung sucht (der vor allem Ilse Lenz ihr langes und ertragreiches Forscherinnenleben gewidmet hat). Hingegen eignet sich die Dokumentation aufgrund dieser Aufteilung nur bedingt, wenn man sich einen Überblick über die historische Entwicklung, die die Frauenbewegung in Japan im Verlauf von eineinhalb Jahrhunderten durchgemacht hat, verschaffen will. Der erste Block dokumentiert mit elf Texten von fünf Autorinnen aus den Jahren 1884–1925 vier Jahrzehnte Frauenbewegung während der späten Meiji- und der Taishō-Epoche. Alle übrigen Texte stammen mit nur vier Ausnahmen aus dem Zeitraum der 1970er bis 1990er Jahre mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den 1970er Jahren. Damit wird im Band vorrangig die in den 1970er Jahren einsetzende „Women’s Liberation“-Bewegung (Lib-, oder Ūman-Lib-Bewegung) dargestellt. Sie begleitet eine bedeutende wirtschaftliche Aufbruchsphase in Japan, die mit der Weltausstellung in Osaka 1970 und dem Putschversuch und anschließenden rituellen Selbstmord von Yukio Mishima im selben Jahr einsetzt. Vor allem aber war es eine Phase, in der Japan einen enormen technischen Aufschwung erlebte – mit dem Tod des Tennō Hirohito 1989 und dem Übergang zur Heisei-Periode an ihrem Gipfelpunkt –, und die bis zum Ende der sogenannten ‚bubble economy‘ reicht. In den beiden vorrangig dokumentierten historischen Phasen um 1900 und 1970-1999 werden von den Herausgeberinnen der Quellensammlung die Zusammenhänge zwischen der japanischen Frauenbewegung und der – männlich dominierten – Modernisierung Japans besonders akzentuiert. Inwiefern sich die japanische Frauenbewegung tatsächlich als treibende Kraft bei der Erneuerung der japanischen Gesellschaft seit der Moderne erweist – dies eine Grundthese der Herausgeberinnen –, läßt sich nun im Detail an den mit dem Band zugänglich gemachten Quellentexten nachvollziehen.
Immer wieder bestimmt die Perspektive der von Michiko Mae wesentlich geprägten Transkulturalitätsforschung Auswahl und Anordnung der Texte. Fast alles, was hier verhandelt wird, steht in irgendeinem Zusammenhang mit der in der Meiji-Zeit einsetzenden und bis heute anhaltenden Positionsbestimmung der japanischen Gesellschaft in Auseinandersetzung mit den Kulturen des Westens. Beim Durchgang durch die einzelnen Dokumente wird deutlich, in welch hohem Maße die japanische Frauenbewegung, wie sie hier zu studieren ist, von der Auseinandersetzung mit Fragen geprägt ist, die überhaupt erst durch den Einfluss ‚westlicher‘ Vorstellungen über Frauen und darauf bezogene moralische oder gesetzliche Regelungen aufgekommen sind, so etwa die am Ende des ersten Blocks dokumentierte Diskussion unter den Beiträgerinnen der Frauenzeitschrift Seitō über „den wahren Wert der Jungfrau“ (d.i. der ‚Jungfräulichkeit‘), den die japanische Gesellschaft bis zur Öffnung noch nicht thematisiert hatte. Mit den neuen Vorbildern verbreiteten sich rasch christlich geprägte Moralvorstellungen und an das männliche Geschlecht gebundene Machtansprüche, die wesentliche Folgen für die Konzeption der gesellschaftlichen Rolle und des individuellen Selbstverständnisses der neuen Frau hatten. „Was es heißt, ‚eine Frau zu sein‘“, wie Tanaka Mitsu formuliert, wurde alsbald zu einer Kernfrage, die von der Forderung nach selbstbestimmter Sexualität bis zu einer eigenständigen Mütterbewegung reichte.
Für den deutschsprachigen Raum stellt die Dokumentation eine Pionierleistung dar, weil sie auch jenen, die nicht Japanisch lesen können, wichtige Quellen verfügbar macht und weil sie – zwischen den Zeilen – auf paradigmatische Weise die ambivalente Wirkung der von der eigenen Ausrichtung auf den Westen bestimmten Modernisierung Japans belegt. Einen fundierten Überblick über den gesamten Zeitraum der japanischen Frauenbewegung von der Meiji-Zeit bis heute (aus den 2000er Jahren sind nur zwei Texte überliefert) kann der Band zwar nicht bieten; grundlegende Forderungen und Errungenschaften lassen sich aber bereits an der gut dokumentierten Kernphase der Ūman-Lib-Bewegung ablesen. Weiteres wäre den zahlreichen einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen der beiden Herausgeberinnen zu entnehmen. Als Dokumentation eines breiten Spektrums unterschiedlicher Argumentationsstrategien, Angriffspunkte und Ausdrucksweisen der japanischen Frauenbewegung erscheint das nun vorgelegte Buch jedenfalls bestens dazu geeignet, stereotype Vorstellungen von japanischen Frauen, wie sie heute immer noch in westlichen Medien verbreitet werden, ad acta zu legen und die japanische Frauenbewegung im globalen Kontext wahrzunehmen. Am spannendsten liest es sich in der Tat gerade dort, wo Normen und Wertvorstellungen westlicher Gesellschaften von japanischen Autorinnen kritisch kommentiert werden.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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