Ach, das kommt bestimmt aus dem Lateinischen

Lessings etymologische Beobachtungen zur Ähnlichkeit der griechischen und deutschen Sprache wurden in einer elaborierten Ausgabe erstmals ediert und erschlossen

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jahrhundertelang schien es, als sei das Manuskript verloren, mitten in Berlin in der Staatsbibliothek ist es erst vor kurzem wieder aufgetaucht. Mark-Georg Dehrmann und Jutta Weber haben sich Gotthold Ephraim Lessings Notizen Von der Aehnlichkeit der Griechischen und Deutschen Sprache, begonnen am 1. Dezember 1759, in einer 2016 erschienen Edition nun intensiv gewidmet. Darin skizziert Lessing an einigen Beispielen etymologische Beziehungen zwischen griechischen und deutschen Wörtern, die er sich größtenteils selbst erschließt, und ergänzt dies mit Exzerpten und weiteren Angaben. Zu jedem Faksimile findet sich dort dankenswerterweise die leserliche Transkription, denn eine schöne Schrift hatte Lessing nicht. Aber das Werk war ja auch nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern gewährt vielmehr Einblick in die verstreuten Überlegungen und die dennoch sehr präzise Arbeitsweise Lessings. Im Anhang folgen zahlreiche Erläuterungen zu Quellen und Wilhelm Körtes Manuskript; zuletzt machen die Autoren wertvolle, zugleich leserfreundliche und elaborierte Anmerkungen zur Herkunft des Manuskripts, zu Lessings Arbeitsweise und zur Einbettung in die zeitgenössische philologische und etymologische Forschung. Daneben gibt es ein bibliografisches Verzeichnis, das Lessings Quellen aufzeigt, des Weiteren werden signifikante Varianten der Abschrift von circa 1840 dargestellt und Lessings Notizen werden auf hervorragende Weise in einen Zusammenhang zu seinem restlichen Werk und der zeitgenössischen Gelehrsamkeit gebracht.

Jedem Menschen, der sich für Sprachen interessiert und der ein Talent für das Erlernen von Sprachen besitzt, wird schon einmal aufgefallen sein, dass diese sich untereinander ähneln und dass manchen eine größere Verwandtschaft, anderen eine entferntere zugrunde liegen muss. Wer mehrere Sprachen spricht, hat – vielleicht so ähnlich wie Lessing im 18. Jahrhundert – schon des Öfteren bewusst oder unbewusst etymologische Grübeleien angestellt und ist dabei auf interessante phonetische oder lexikalische Parallelen zwischen verschiedenen Sprachen gestoßen. Diese nun sind aber nicht in absoluter historischer Gleichzeitigkeit entstanden, sondern haben sich sprachgeschichtlich aus- und nacheinander entwickelt; so gehen Teile einer Sprache dynamisch aus Teilen einer anderen hervor und im Zuge einer ähnlichen Dynamik entstehen beispielsweise auch Dialekte. Das mag manchen keine Neuheit sein, dem Großteil der deutschen Bevölkerung in der Folge des deutschen Schulsystems möglicherweise schon.

Mit der Abschaffung des Griechischunterrichts an den Schulen und der zudem nur freiwilligen Option, während der Schulzeit den Lateinunterricht zu besuchen, eliminiert das aktuelle Schulsystem – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – schrittweise das Bewusstsein für die Herkunft und die sprachgeschichtlichen Feinheiten der Sprache und ihrer spezifischen Phonetik. Das macht es umso wichtiger, dass Philologen daran arbeiten, vergessene Schriften und Nachweise zur deutschen Sprachgeschichte aufzuarbeiten. Es sind gerade nicht nur wissenschaftliche Fachbegriffe, die der griechischen Sprache künstlich entlehnt wurden, sondern vor allem natürliche Entwicklungen in der Sprachgeschichte, die die deutsche Sprache geformt haben und an denen maßgeblich das Griechische beteiligt war. Nicht nur einfache, alltägliche Wörter wie „ich“, „ab“ und etliche Zahlwörter zählen dazu. Die griechische Sprachgeschichte findet sich in einem Großteil deutscher Ausdrücke, ebenso wie sich in der griechischen Sprachgeschichte deren jeweilige indogermanische Vorläufer finden. Dass gerade die deutsche Sprache, wie gern behauptet wird, sich so hervorragend für die Dichtkunst eigne wie keine zweite, weil sie so lautmalerisch sei, lässt sich an einer unendlich wirkenden Anzahl etymologischer Beispiele widerlegen – etwa „reißen“, „klingen“, „reiben“, „beißen“, „gähnen“, „lallen“, „stechen“, alles nur geklaut.

Etymologische Erwägungen und Nachweise sind deshalb keine langweilige philologische Erbsenzählerei, sondern bezeugen die Interdependenz verschiedener Kulturen und Geschichten. Betrachtet man die modernen europäischen Sprachen, wie etwa das Deutsche, wirklich kritisch, so wird das Wort „Fremdwort“ im weitesten Sinne überflüssig – jedes Wort entstammt einer anderen Sprache, einer anderen Lebenswelt oder einem anderen kulturellen Zusammenhang als wir ihn heute kennen. Das heißt nicht, dass man das patriotische Dogma des griechischen Vaters im Film My Big Fat Greek Wedding übernehmen muss und bei jeder Gelegenheit laut „Alles kommt aus dem Griechischen!“ ausrufen sollte. Auf eine Menge trifft es allerdings tatsächlich zu. Doch natürlich hat auch das Griechische seine Ursprünge, wie überhaupt alle Sprachen hier und da miteinander verwoben sind, mal ganz offensichtlich, mal unergründlich. Lessings Notizbuch macht ein solches Nachdenken über Sprache wieder schmackhaft, denn viele Ähnlichkeiten, die er sieht, überraschen. Während man ihm in seinen phonetischen Assoziationen zu folgen versucht, verliert man sich in den Details zweier Sprachen und ist fast traurig, wenn Lessing keine weiteren Beispiele mehr liefert.

Lessings Notizen sind weder als Nachschlagewerk – dafür sind sie zu spärlich und die Beispiele zu arbiträr – noch als systematische etymologische Gesamtdarstellung der deutschen Sprachgeschichte zu deuten. So heben die Herausgeber auch Fehler oder Absonderlichkeiten in den Ausführungen und Vermutungen Lessings hervor und bieten den Lesenden essentielle Informationen über Eigenheiten seiner Sprachreflexion, die dem heutigen Leser und Nicht-Philologen befremdlich erscheinen mögen. Lessing versucht nichts weniger als den „Graben zwischen den Kulturen, den Winckelmann ausgehebelt hat“, mit seiner Suche nach Ähnlichkeiten wieder zu überbrücken. Arbeit und Ethos fließen bei ihm ineinander, seine „Wortgrübelei“, wie er sie selbst ironisch nannte, war letztlich eine Suche nach Wahrheit – die von Jutta Weber und Mark-Georg Dehrmann nun mit einem mindestens genauso spannenden und philologisch fundierten Anhang ihre wertvolle Erläuterung findet. Daneben gewinnt man einen erhellenden Einblick in die Arbeit der Philologen und in die möglichen Überlegungen, die angestellt werden müssen, wenn man sich die Etymologie eines Wortes sinnvoll erschließen möchte. Zu befürchten bleibt allerdings, dass das Buch sowieso nur Philologen in die Hände fällt. Das wäre schade in einer Zeit, in der sich ein ganzer Kontinent seiner – nicht nur sprachlichen – Ursprünge immer weniger bewusst ist.

Titelbild

Gotthold Ephraim Lessing: Von der Aehnlichkeit der Griechischen und Deutschen Sprache.
Herausgegeben von Mark-Georg Dehrmann und Jutta Weber.
V&R unipress, Göttingen 2016.
269 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783847103288

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch