Vier Frauen unterwegs

Dagmar Leupolds Abenteuerroman „Die Witwen“

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dagmar Leupold ist Expertin für die etwas anderen Themen. Ihr jüngster Roman handelt von vier alleinstehenden Frauen, Ende 50, die sich aus gemeinsamer Grundschulzeit in Berlin kennen und mittlerweile – durch unterschiedliche Zufälle dorthin verschlagen – in einem idyllischen Weindorf an der Mosel leben. Als Gastwirtin, Gärtnerin, Logopädin und Feldenkrais-Lehrerin haben sie ein sicheres Auskommen, wirklich Witwe ist keine. Eine war verheiratet, ihr Mann verschwand aber vor Jahren nach Asien, und obwohl sie insgeheim auf seine Rückkehr hofft, fehlt ihr – wie auch den drei anderen – die Zuversicht, in diesem Leben könne sich noch etwas ändern. Deshalb beschließen die vier aufzubrechen: „Wir haben Heimweh nach etwas, das wir nicht kennen. Also müssen wir es suchen.“ Mit einem gescheiterten Privatgelehrten als Chauffeur geht die Reise im gemieteten Kleinbus moselaufwärts über Luxemburg nach Frankreich. Sehr weit kommen sie allerdings nicht. In den Vogesen verhindert eine Autopanne die Weiterfahrt, und beim Warten auf den Abschleppdienst beginnen sie, sich Episoden aus ihrem Leben zu erzählen. In der „Pfadfinderwärme“ des fahrunfähigen Autos, einem „Erzähl- und Lauschkokon“, fängt eine neue Reise an – nach innen und in die eigene Vergangenheit. Penny, Dodo (Dorothea), Laura und Beatrice offenbaren einander Dinge, von denen niemand etwas wusste, obwohl man sich stets ungemein nahe wähnte. Eine hatte nach jahrelanger Affäre mit einem verheirateten Mann ein Kind abgetrieben; eine andere litt unter der emotionalen Kälte ihrer Mutter nach dem Tod des Vaters, eine dritte unter ihrem Körperekel.

Fast beiläufig werden so typische Biografien aus der Nachkriegs-Bundesrepublik aufgefächert – vier Frauenleben zwischen Autoritätshörigkeit und erwachendem Selbstbewusstsein. Leupolds Roman ist voller literarischer Referenzen: Die auf die Rückkehr des Ehemanns wartendende Gastwirtin Penny heißt eigentlich Penelope, der gemietete Kleinbus ist ein Fiat „Ulysse“, und nicht nur auf Homers Odyssee wird angespielt, sondern auch auf Dantes Göttliche Komödie, auf Petrarcas Sonette, auf ein Goethe-Epos und auf Georg Christoph Lichtenbergs Aphorismen (der als Chauffeur angeheuerte Philosoph hinkt und notiert kluge Einfälle in ein „Sudelheft“).

Die Verschränkung nachkriegsdeutscher Frauenbiographien (in die sich ein paar autobiographische Splitter mischen) mit abendländischer Kultur- und Literaturgeschichte ist gewagt, aber sie funktioniert – auch, weil sie ausgesprochen elegant präsentiert wird. Das Buch ist durchzogen von geistreicher Sprachreflexion und kunstvoll erzählten Miniaturen (über die Zimmer eines Landgasthofs, ein verschlafenes luxemburgisches Dorf namens Schengen und vieles mehr). Dennoch ist dies kein realistischer Roman. Er inszeniert typische Lebensläufe und arrangiert sie zu einem leichtfüßigen Text über schwierige Themen. Verdientermaßen stand er 2016 auf der Auswahlliste für den Deutschen Buchpreis. Im Unterschied zum späteren Sieger – Bodo Kirchhoffs Novelle Widerfahrnis – demonstriert er, dass Altersprosa auch heiter und gelassen sein kann.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Dagmar Leupold: Die Witwen. Ein Abenteuerroman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2016.
233 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270882

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