Dasein als Kampf zwischen Fachkundigen und Laien
Mechtilde Lichnowskys Sammelband – ein buntes Gemisch an Berichten, Essays, Anekdoten, Reflexionen, Dialogen, Aphorismen und Gleichnissen
Von Werner Jung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDem Germanistenehepaar Hiltrud und Günter Häntzschel kommt der große Verdienst zu, im Zsolnay-Verlag (Wien) 2022 eine vierbändige Werkausgabe der Texte von Mechtilde Lichnowsky (1878-1958) ediert zu haben – vorbildlich mit Wort- und Sacherläuterungen, Bemerkungen zur Überlieferung und erhellenden Kommentaren. Nun haben sie im Wallstein-Verlag ein in der Werkauswahl nicht enthaltenes Buch der schreibenden Gräfin aus dem Jahre 1924 neu herausgegeben.
Es handelt sich um eine Textsammlung, die aus einem bunten Gemisch an „Berichten, Essays, Anekdoten, Reflexionen, Dialogen, Aphorismen [und] Gleichnissen“ besteht, wie die Häntzschels schreiben. Man könnte auch sagen, dass Mechtilde Lichnowsky in diesem Buch das Genre des Feuilletons bedient und sich damit in die illustre Schar von Antor:innen aus der Weimarer Zeit einreiht, die etwa von Karl Kraus über Kurt Tucholsky bis zu Vicki Baum reicht. Immer stehen Alltagsbeobachtungen im Vordergrund, Nichtigkeiten, wie Lichnowsky an einer Stelle bemerkt, die dazu da sind, den Leser:innen „die Augen zu öffnen“; mit gesundem Menschenverstand und an zahllosen Beispielen seziert die Autorin das vermeintliche Wissen sogenannter oder selbsternannter, zuweilen auch qua Ausbildung und Profession geadelter Fachmänner bzw. -frauen, das – bei Licht und eben vom allgemeinen Menschenverstand betrachtet – häufig nicht mehr als ein bloß aufgeplustertes Halbwissen darstellt. Dabei gibt es gar keinen Lebensbereich, der nicht vom Daseinskampf zwischen Fachkundigen und Laien, wie Lichnowsky schreibt, ausgenommen ist. Mag sein, dass, um der anthropologischen Annahme der Autorin zu folgen, dafür des Menschen Veranlagung verantwortlich ist, denn der Mensch ganz allgemein spreche immer nur von zwei Dingen: „von denen, die er nicht weiß, und von denen, die keiner weiß; […].“ Genau in diesem Hiatus sind Lichnowskys Texte angesiedelt, die auf teils witzig-komische, teils ironische, ja auch zynische Weise das Menschlich-Allzumenschliche im alltäglichen Umgang verdeutlichen. „Hagenbeck hat zwischen die wilden Tiere und die Menschen Wasserkanäle angelegt, beide vor einander zu sichern. Zwischen den Menschen aber gähnen Abgründe, die leider keine Sicherheit gewähren.“
Dennoch: So verdienstvoll die Neuausgabe dieser Textsammlung – die vorbildlich von Hiltrud und Günter Häntzschel ediert worden sind – auch sei, die heutigen Leserinnen und Leser – insbesondere mit Blick auf jüngere Generationen – mag der Eindruck einer gewissen „Angestaubtheit“ der Texte beschleichen. Mit anderen Worten: Die Texte – wen wundert es, wenn es um Feuilletonistisches geht – atmen den Zeitgeist der frühen 20er Jahre und sind ohne Kommentierungen z. T. auch nur unzureichend zu verstehen, wirken darüber hinaus ob ihrer Quantität weitschweifig, ja, – bei wissenschaftlichen Texten würde man sagen – redundant. In den gelungensten Alltagsbeobachtungen vermag die Autorin aber auch heute noch witzig und pointiert die Dinge auf den Punkt zu bringen, wie etwa eingangs des Textes, der sich mit dem „Keilkissen“ (Kennt das die jüngere Generation überhaupt noch?) beschäftigt:
Bände ließen sich über das Keilkissen schreiben. Es findet sich überall, in allen Spitälern, in Hotelbetten ersten bis dritten Ranges, in allen Schlafwagen, und es ist das Kissen, von dem man sagen kann, es sei das beste für ein schlechtes Gewissen, weil es einen nicht schlafen läßt, sondern zum offenen Bekenntnis aller Missetaten zwingt und so der Polizei gute Dienste leistet.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||