Eine Schatzkiste der bisher unbekannten Schweizer Literatur

Charles Linsmayer liefert mit einem weiteren Lesebuch einen wichtigen Beitrag zur Schweizer Literaturgeschichte

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Lesebuch, das literarische Texte oder Textausschnitte versammelt, hat zum Ziel, einerseits die Bekanntschaft mit Autoren und ihren Werken herzustellen und andererseits das literarische Erbe zu bewahren und zu vermitteln. Es hat also oft eine kulturpolitische Zielsetzung. Die Auswahl der Texte orientiert sich zumeist an wichtigen und exemplarischen Werken; mitunter sind die Herausgeber aber auch bemüht, Autoren und Werke dem Vergessen zu entreißen. Außerdem dokumentieren Lesebücher immer auch dessen persönliche Vorliebe und langjährige Erfahrungen.

Der Schweizer Publizist und Schriftsteller Charles Linsmayer hat vor drei Jahren mit 20/21 Synchron ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz herausgebracht, in dem er Texte von 135 Autoren und Autorinnen vorstellte. Die Texte oder Gedichte sind zwischen 1920 und 2020 im deutschen, französischen, italienischen und rätoromanischen Landesteil entstanden und reflektieren in deutscher Sprache synchron, d.h. unabhängig von Sprache, Entstehungszeit oder Generation, hundert Jahre Literaturgeschichte der Schweiz.

Nun hat Linsmayer die Lücken in seinem Schweizer Lesebuch mit einem Fortsetzungsband ausgefüllt, in dem er nochmals fünfzig Autorinnen und Autoren vorstellt, für die Schreiben nicht Vergnügen, sondern Notwendigkeit war. In seinem Nachwort betont er, dass es „im weitesten Sinn Repräsentanten jener anderen Schweizer Literatur aus der Epoche zwischen Gottfried Keller und Max Frisch sind, die nach 1945 ins Vergessen gedrängt worden sind.“

Zu den Autorinnen und Autoren, die durch Linsmayer wieder öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, gehören Regina Ullmann, Annemarie Schwarzenbach, Carl Albert Loosli, Maurice Chappaz, Hugo Marti, Kurt Guggenheim, Gertrud Wilker, Alice Rivaz, S. Corinna Bille oder Helen Meier. Den Anfang der alphabetischen Vorstellung macht der Pilot und Schriftsteller Walter Ackermann (1903-1939), der mit dem Briefroman Flug mit Elisabeth (1936) ein bewegendes Zeugnis europäischer Fluggeschichte schuf. Maurice Chappaz (1916-2009) war ein französischsprachiger Schweizer Schriftsteller, der seiner Walliser Heimat eine poetische Stimme gab. Für Linsmayer war Alice Rivaz (1901-1998) „die erste wirklich moderne Autorin der Romandie“, die zudem eine Kämpferin für die Emanzipation der Frau war. Die Schriftstellerin Aline Valagin (1889-1986) bot mit ihrem Ehemann Wladimir Rosenbaum vielen Verfolgten und Emigranten einen Zufluchtsort. Der Schlusspunkt der „anderen Schweizer Literatur“ ist dem Schriftsteller und Pfarrer William Wolfensberger (1889-1918) vorbehalten, der als getriebener Zweifler in seinen Gedichten und Erzählungen einen eigenen Ton fand.

Der Großteil der vorgestellten Autorinnen und Autoren ist sicher nicht nur für den Rezensenten eine erfreuliche Entdeckung der Schweizer Literatur. Allein Friedrich Glauser, Hugo Marti, Annemarie Schwarzenbach und Carl Spitteler waren mir bisher durch einige Werke vertraut.

Linsmayer hat rebellische, religiöse und erstaunliche Autorinnen und Autoren ausgewählt, die bisher im literarischen Gedächtnis der Schweiz kaum einen Platz hatten. Mit kompakten Lebensbildern, historischen Abbildungen und einer pfiffigen Porträtzeichnung von Claudio Fedrigo werden sie vorgestellt, ergänzt durch Textauszüge (meist drei bis sechs Seiten) aus ihren Werken. Ob Glausers Mein Verhältnis zu Redaktoren und Verlegern, der Prosatext Die Wüste in uns der Schriftstellerin Cécile Ines Loos (1883-1959), die mit ihrem Romanerstling Matka Boska (1929) einen literarischen Erfolg feierte, der Reisebericht Nikpeh der Schriftstellerin und Fotografien Ella Maillart (1903-1997) oder Die Mutter des toten Soldaten aus dem Antikriegsroman Der Heimgekehrte von Orlando Spreng (1908-1950), sie alle sind lesenswerte Puzzle in der Schweizer Literaturlandschaft, die zur weiteren Lektüre anregen. In seinem Nachwort Schreiben als Kompass im Wüten des Zyklons äußert Linsmayer schließlich Überlegungen zu den in diesem Buch versammelten Autorinnen und Autoren, die „doch grundlegend anders als ihre Enkelinnen und Enkel auf den aktuellen Bestsellerlisten, in den sozialen Medien und auf Literaturfestivals“ waren. Das Lesebuch will nicht kanonisieren oder katalogisieren, sondern Neugier und Lesefreude wecken.

Titelbild

Charles Linsmayer (Hg.): Die andere Schweizer Literatur. Die Highlights von Charles Linsmayers biographisch-editorischer Tätigkeit. Ein Lesebuch.
Mit Illustrationen von Claudio Fedrigo.
Th. Gut Verlag, Zürich 2025.
648 Seiten , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783857173073

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