Spannend, unterhaltsam, tiefgründig
Sandra Newman hat sich in ihrem Roman „Das Verschwinden“ eine Welt ohne Männer ausgedacht
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBekannt wurde Sandra Newman hierzulande mit ihrem sensationell innovativen und originellen SF-Roman Ice Cream Star, dem bald darauf der phantastische Roman Himmel folgte. Seither scheint sie ein Faible dafür entwickelt zu haben, bereits erschienene Romane anderer AutorInnen oder doch zumindest ihre Themen aufzugreifen und aus feministischer Sicht zu interpretieren. So erzählte sie unlängst die Geschichte Ozeaniens neu, und zwar nicht wie George Orwell aus der Sicht Winstons, sondern derjenigen von dessen Freundin Julia.
Nun hat die US-amerikanische Schriftstellerin einen Roman folgen lassen, der den Titel Das Verschwinden trägt und schon damit an eine Geschichte des Science-Fiction Autors Philip Wylie erinnert, die bereits 1951 unter dem Titel The Disappearance (dt. Das große Verschwinden 1954) auf den US-amerikanischen Markt kam. Seine Handlung setzt damit ein, dass die Frauen auf der ganzen Welt „im gleichen Augenblick“ verschwunden sind. Wie sich in den nächsten Kapiteln zeigt, hat sich die Erde in zwei völlig identische Welten geteilt, mit dem einen, allerdings bedeutenden Unterschied, dass es in einer von ihnen nur noch Männer, in der anderen nur noch Frauen gibt. Wylies Roman wechselt zwischen beiden Welten und erzählt anhand einiger ProtagonistInnen davon, wie sich das Leben von Männern und Frauen gestaltet, wenn sie plötzlich ohne das jeweils andere Geschlecht auskommen müssen. Am Ende der Geschichte sind die Geschlechter dann allerdings wieder glücklich vereint.
Die Ähnlichkeiten zwischen Wylies und Newmans Romanen beschränkt sich nun allerdings nicht nur auf den Titel (wobei derjenige Newmans im Original ganz anders, nämlich The Men lautet), sondern auch auf das Geschehen. Zu Beginn sogar bis in ein Detail hinein. So wird in beiden Romanen die Uhrzeit des Verschwindens auf die Minute genau angegeben. Auch wird in beiden Romanen ausführlich geschildert, wie die Menschen den Augenblick erleben, in dem das andere Geschlecht verschwindet. Oft bemerken sie es erst nach einiger Zeit, womöglich sogar erst am nächsten Tag.
Ansonsten aber könnten die beiden Werke unterschiedlicher nicht sein. Denn in Newmans Roman gibt es nach dem einschneidenden Ereignis keine zwei Welten, eine ‚männliche’ und eine ‚weibliche’, sondern nur die der Frauen, in der nicht einmal die Aussicht besteht, dass sie in Zukunft auch wieder von Männern bevölkert sein könnte. Denn es sind nicht nur die männlichen Babys, Kinder, Jugendliche und Erwachsenen, sondern auch alle männlichen Föten „im Mutterleib“ verschwunden. Und es hilft auch nicht, dass seit den Zeiten des Romans von Wylie, dessen Handlungszeit Mitte des vergangenen Jahrhunderts liegt, Reproduktionstechnologien entwickelt wurden, die von Frauen in Newmans Frauenwelt Ende der 2010er eingesetzt werden. Denn auch männlichen Föten von Frauen, die sich schon bald nach dem unerklärlichen Ereignis mit in Samenbanken gelagerten Spermien befruchten ließen, sterben durch eine „Fehlgeburt im ersten Trimenon“. Nun haben sich nicht nur (Reproduktions-)technologien weiterentwickelt, sondern auch andere Wissenschaften, Forschungen und Theorien. Daher verschwinden in Newmans Roman nicht einfach nur ‚die Männer’, sondern genauer gesagt „alle Menschen mit einem Y-Chromosom“ und „jeder Mensch, der jemals potentiell Sperma hätte produzieren können“. „Transmänner“ sind hingegen nicht betroffen. Auch diskutieren die Frauen darüber, ob die „Bezeichnung ‚Männer’“ überhaupt „vertret[bar]“ ist. Daher weichen „neunundneunzig Prozent der Menschen“ auf die Bezeichnung „die Verschleppten“ aus, „obwohl das die betroffenen Transfrauen, Intersexpersonen und Nichtbinären unterschl[ägt]“. Einigkeit besteht in einer Gruppe von Frauen hingegen darüber, „dass auch der Begriff ‚die Verschwunden’ (den linksliberale Medien nun verwendeten) unsensibel war, ähnlich wie der Begriff ‚die Ausgelöschten’ für die im Holocaust ermordeten Juden“.
Gibt es in Newmans Roman – ganz unabhängig davon, wie die verschwundene Hälfte der Menschheit korrekterweise zu bezeichnen ist – nun auch nur noch Frauen, so tauchen Männer doch auf ganz unerwartete Weise wieder auf, wenn auch nicht in persona. Denn von unbekannter Seite werden schon bald kurze Videoclips ins Internet gestellt, in denen Männer gemeinsam mit monsterartige Tierwesen zu sehen sind, von denen sich allerdings nur letztere zu bewegen scheinen. Als sich die Männer in späteren Videos ebenfalls zu rühren beginnen, sind alle ihre Bewegungen identisch.
Zunächst halten die meisten Frauen die kurzen Filmchen schlicht für Fakes, doch ändert sich das, nachdem einige der Frauen in den Videoschnipsel Männer entdecken, die sie von früher kennen. Nun machen allerlei andere Erklärungen die Runde. Manche sprechen von Magie, andere machen Aliens verantwortlich. Und „natürlich“ dauerte es nicht lange, bis „irgendjemand den Juden die Schuld gegeben hatte“. Wieder andere glauben, die Männer habe eine „Strafe“ für Umweltverschmutzung, Krieg oder Vergewaltigungen ereilt. Andererseits bildet sich eine der „Andolatrie“ anhängende Sekte heraus, in der „die verschwundenen Männer als aufgestiegene Bodhisattwas“ verehrt werden.
Eine immer wichtigere Rolle beginnt die schon zu Zeiten der Männer von einer Frau gegründete Organisation ComPa zu spielen, deren Mitglieder als „verrückt, sektenartig und fanatisch“ gelten. Ein Kürzel, das nahe legt, es stehe für Kommunistische Partei. Dem ist aber keineswegs so. Vielmehr steht es für Kommensalistische Partei Amerikas. Was die Organsation erreichen will und was Kommensialismus überhaupt ist, wird ebenso ausführlich erklärt wie sein Gegenteil: Amensalismus.
Der Roman nimmt allerdings weniger ‚das Große Ganze’ in den Blick, sondern erzählt vor allem davon, was seine Protagonistinnen erleben, wie es ihnen geht und was sie fühlen. Dabei wird schnell deutlich, dass die Frauen zumindest ebenso unterschiedlich und divers sind wie ihre Erklärungsversuche für das Verschwinden der Männer. Zu dem sehr gemischten Personal des Romans gehören etwa eine 40-jährige Kellnerin mit Bachelor-Abschluss, eine schwerkranke 14-Jährige mit spanischen Vorfahren, eine Jüdin, eine Amerikanerin asiatischer Abstammung, eine Schwarze und ein Weiße. Zwei der Protagonistinnen waren wegen schwerer Straftaten im Gefängnis; eine wegen zweifachem Polizistenmord, die andere wegen seriellem Sex mit Minderjährigen. Und schließlich spielt auch noch ein undurchsichtiges „weiße[s] Mädchen“, das an einer bipolaren Störung zu leiden scheint, eine bedeutsame Rolle.
Das Aussehen einzelner Protagonistinnen wird ebenso detailliert beschrieben wie der gelegentliche Sex, obwohl letzterer, wie es heißt, „unbeschreiblich“ ist. Eine der Frauen wird allerdings auf doppelte Weise hervorgehoben. Zum einen ist sie die einzige Ich-Erzählerin, zum anderen evozieren verschiedene Ereignisse Erinnerungen an ihr Leben vor dem Verschwinden der Männer, sodass der Roman aus zwei Handlungsstränge besteht: dem früheren Leben der Ich-Erzählerin und dem Weg aller Protagonistinnen nach dem so folgenschweren Ereignis. Im Laufe der Handlung finden sie alle zu einander – oder besser gesagt, sie treffen aufeinander.
Der Weg einer der zentralen Frauenfigur wird allerdings nicht verfolgt. Erst in den allerletzten Abschnitten erfährt man die Wahrheit über ihren Werdegang und zugleich mehr über das Verschwinden der Männer, mit dem ein über zweihundertfacher Suizid durch Selbstverbrennung von, wie vermutet wird, verzweifelten Frauen einherging.
Doch nicht nur die „burning girls“ genannten Suizidantinnen, sondern alle Frauen reagieren mit Verzweiflung. Das liegt weniger daran, dass in der neuen Welt vieles nicht mehr funktioniert, wie etwa die Versorgung mit Strom, Benzin und Lebensmittel. Denn die Frauen organisieren das Leben und die Gesellschaft neu. Verzweifelt sind sie vielmehr, weil sie um ihnen nahestehende Männer, ihre Söhne, Brüder, Väter und Partner trauern. „Doch irgendwann sagte eine Frau, es sei nicht alles schlecht. Ihr gewalttätiger Ex habe sie jahrelang verfolgt und bedroht und nun fühle sie sich zum ersten Mal sicher“. Und wie sich zeigt, ist tatsächlich vieles besser geworden in dieser „Welt voller Lämmer, ohne Wölfe“, auch wenn ihr „eine ganze Dimension von Erfahrung fehl[t]“. Denn mit den Männern ist auch vieles andere verschwunden: „Herrenclubs. Männerrechte. Frauenzeitschriften. Feminismus.“ Frauen müssen auch nicht mehr „einen auf kleines Mädchen machen. Mit hoher Stimme sprechen. Flache Schuhe tragen, damit er größer wirkt“. Und „natürlich laufen Frauen nun „oft nackt herum; die ganze Welt war eine Mädchenumkleide“. Dennoch hoffen viele darauf, dass die ihnen nahestehenden Männer ebenso plötzlich wieder auftauchen wie sie verschwunden sind. Manche von schauen sich fast ununterbrochen die immer zahlreicher werdenden Männervideos im Internet an.
Als die beiden zentralen Themen des Romans kristallisieren sich misogyner Sexismus und schwarzenfeindlicher Rassismus heraus. Dabei ist er voller feinsinnigem Humor, der manchen Auswuchs heutiger Ideologeme auf die Schippe nimmt. Überdies werden Klischees und Vorurteile entlarvt, wobei sich auch Lesende schon einmal ertappt fühlen dürfen. Zudem tauschen die Frauen einige Ratschläge aus, die etwa verraten, wie eine Frau eine andere am besten für sich gewinnen kann. Und last but not least sind einige Spruchweisheiten eingeflochten, die etwa besagen „Wenn Gott gewollt hätte, das wir gut sind, hätte er uns nicht schön gemacht“ oder dass es „keine Wahrheit über das Leben [gibt]“.
Das alles und vieles mehr macht den Roman nicht nur unterhaltsam, spannend und geheimnisvoll, sondern auch überraschend tiefgründig. Welchem Genre er angehört, Mystery, Science Fiction, Horror, als Crossover allen zusammen, einem ganz anderen oder vielleicht auch gar keinem, sei nicht verraten. Denn das würde schon zu viel davon preisgeben, was es mit dem Verschwinden der Männer auf sich haben könnte.
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