Oh Luther!

Michael Lösch spekuliert in seinem Buch „Wäre Luther nicht gewesen“ über das „Verhängnis der Reformation“ und ein Luther-Lesebuch versammelt die deutschen Texte des Reformators

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein provozierender Einstieg: „Wäre Luther nicht gewesen, wäre die Geschichte friedlicher verlaufen“. So beginnt Michael Lösch sein Buch Wäre Luther nicht gewesen, dem er im Untertitel eine provozierende Pointierung hinzufügt: Das Verhängnis der Reformation. Das macht neugierig. Man denkt an die Folgen des Thesenanschlags in Wittenberg: Kirchenspaltung, blutige Glaubensschlachten, verbrannte Ketzer, Bauernkriege, der dreißigjährige Krieg, die Bartholomäusnacht, die geteilte Christenheit. Oh Luther!

Lösch nennt sein Buch „ein Thesenbuch“, was wohl signalisieren soll, dass er überspitzt darstellen und Thesen wagen möchte, die Ergebnis eines ungewöhnlichen Gedankens sind. So steigert sich eine Erwartungshaltung, dass Löschs Buch ein anregender Beitrag zu einer entidealisierenden Lutherbetrachtung sein möge. Statt Luther-über-alles nun vielleicht kritische Nachfragen: Wollte und vor allem konnte überhaupt dieser Zeitgenosse ahnen, was sein Thesenanschlag in einer kleinen abgelegenen Stadt Mitteldeutschlands alles auslösen würde? Oder war es nicht vielmehr sowieso anders herum: War die ‚alte‘ Welt nicht längst bereit für eine Reform der von einer allmächtigen Papstkirche geregelten Glaubensdinge und dem Wittenberger Mönch wird zu viel der Ehre zuteil, wenn man ihn als den einen Urheber und Auslöser „der Reformation“ bezeichnet?

Jedenfalls, so stellt Lösch fest, war die Zeit reif. Krisensituationen der Kirche und frühe Reformatoren, die eben den Zustand der Kirche – oder besser: den des Papsttums – zum Thema machten, waren lange vor Luther bereits aufgetreten. Lösch spannt den Bogen vom mittelalterlichen Investiturstreit über die „babylonische Gefangenschaft“ der Päpste in Avignon im 13. Jahrhundert, die papstkritische Theologie eines Wilhelm von Ockham zu Beginn des 14. Jahrhunderts oder Jan Hus, der 1415 als Ketzer verbrannt wird, bis zu Girolamo Savonarola, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Florenz gegen die verderbliche Dekadenz der Medici-Dynastie aufbegehrte und den Lösch als einen „die Massen bannenden Wegbereiter christlicher Reformierung“ beschreibt. „Mit einem Wort“, so Lösch, „die Reformation wäre – vor allem über den neu erfundenen Buchdruck und die ihm zugehörige Verbreitung neuer Gedanken – gekommen, wie und in welcher Form auch immer.“ Mit dem Autor kann man fragen, ob es dann nicht besser gewesen wäre, sie wäre ohne Luthers Einwirken gekommen. Aber der Wittenberger Mönch blieb, kaum hatte er die Bibeltexte in eine für alle verständliche deutsche Sprache übersetzt, nicht in der Theologenstube, sondern „stürmt die Wartburg hinunter und mischt sich in die Niederungen der Realpolitik“.

Dort aber wird er nicht zum Friedenskünder, sondern mit seinen Äußerungen und Schriften „befeuert (er) diese Zeit unzähliger Opfer“. Den sich mit verzweifelter Hoffnung auf ihn beziehenden Bauern, die sich gegen die ungerechte Herrschaft der Oberen auflehnen, weist er kalt die Schulter. Stattdessen rechtfertigt er das grausam-blutige Gericht, das die Obrigkeit im Namen Gottes und der Gerechtigkeit über sie ausübt. Die berühmte „Freiheit des Christenmenschen“, so lernen die Verlorenen, ist keine reale, aufs Diesseits ausgerichtete Freiheit, die der Mensch sich nehme. Nein, so schreibt Luther es vor, er bleibt in seiner ganzen Existenz von Gott bestimmt – „eine Rückkehr zum trüben gotischen Mittelalter“ urteilt Lösch. Aufruhr ist die verdammenswerte Folge einer gefährlichen, überheblich-anmaßenden Ich-Bezogenheit, gegen die Luther – zum Wohlgefallen der Obrigkeit – die gottgewollte Ordnung der Fürstenherrschaft ins Feld führt. Da wäre anderes denkbar gewesen…Aber wo menschlicher Verstand eigenmächtig wird, setzt bald die Schrift Grenzen. Und sobald Verstand und Schrift sich gegenüberstehen, entscheidet Luther sich für die Schrift. „Man denkt unwillkürlich“, schlussfolgert Lösch, „an die heutige evangelikale Bewegung in den USA, die bekanntlich Darwins Wissenschaft als Irrlehre ablehnt.“ Die sich hier offenbarende Unbeugsamkeit des Reformators führt unweigerlich in die Konfrontation. Es gibt „kein Recht auf Andersgläubigkeit“. Wer es sich nimmt, muss nötigenfalls auch mit Gewalt auf den rechten Glaubensweg zurückgeführt werden.

Löschs „Thesenbuch“ liest sich gefällig, doch die Spekulation über einen möglichen anderen Verlauf der Reformationsgeschichte erschöpft sich zunehmend. Sein Buch ist am Ende eine Lutherkritik, die sich aus der Enttäuschung über den Verlauf der Reformationsgeschichte speist. Wenn aber, wie Lösch ausführt, Luther nicht der alleinige Auslöser der Reformation sein soll, dann kann er auch kaum als alleiniger Verantwortlicher für die nach ihm einsetzende Abfolge blutiger Gewalt im Namen der jeweils ‚richtigen‘ Religion benannt werden. Diese Geschichte zu erzählen, braucht dann mehr als eine thesenartige Herangehensweise.

So oder so bleibt Luther eine zentrale Person der Reformation. Das gilt vor allem für die Entwicklung in Deutschland. Seine Bedeutung resultiert dabei in besonderem Maße aus der Nutzung der deutschen Sprache. Doch hätte er damit kaum mehr Eindruck machen können, als jeder andere sprachmächtige Prediger auch, wenn nicht der neue Buchdruck die Möglichkeit geschaffen hätte, Luthers Sprachmächtigkeit in einer für die Zeit umwälzenden Weise allgemein verfügbar zu machen. Tatsächlich vermochte es Luther, über die deutsche Sprache sein eigenes Publikum anzusprechen und zu erziehen. Aus seinen ‚deutschen‘ Schriften versammelt das Taschenbuch aus der Reihe Fischer Klassik Martin Luther: Das große Lesebuch eine von Karl-Heinz Göttert zusammengestellte und „in modernes Deutsch“ gebrachte Auswahl. Nötig sei dies, so schreibt Göttert in seiner knappen Einführung, weil die „Wörtlichkeit“ der Luther-Schriften „häufig die Grenze der Unverständlichkeit erreicht“. Die pädagogische Fürsorge des Herausgebers macht Luther in diesen ansonsten kaum kommentierten Texten also ‚einfach‘ lesbar. Und bestätigt an manchen Stellen markant des Reformators Beitrag zum „Verhängnis der Reformation“, so wie diese Passage aus der Schrift Gegen die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern: „Deshalb soll in diesem Fall erschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer nur kann, und sich dabei bewusst sein, dass es nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres gibt als einen aufrührerischen Menschen, wie man auch eine tollen Hund totschlagen muss: Denn schlägst du ihn nicht tot, so bringt er dich um und dein ganzes Land mit dir.“ Oh Luther!

Titelbild

Karl-Heinz Göttert (Hg.) / Martin Luther: Martin Luther. Das große Lesebuch. Fischer Klassik.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
512 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783596906369

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Titelbild

Michael Lösch: Wäre Luther nicht gewesen. Das Verhängis der Reformation. Ein Thesenbuch.
dtv Verlag, München 2017.
239 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783423261388

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