Erst vollkommen vergessen, dann vielfältig erinnert
Das Buch „The Untold Story of Sabina Spielrein. Healed & Haunted by Love. Unpublished Russian Diary and Letters“ vervollständigt das Bild einer außergewöhnlichen Frau
Von Bernd Nitzschke
Lange Zeit erinnerte nur noch eine Fußnote in Freuds Gesammelten Werken an Sabina Spielrein, die allenfalls von Kennern der Geschichte der Psychoanalyse entziffert werden konnte. Doch dann fand man im Oktober 1977 im Keller des Palais Wilson, in dem vormals das Psychologische Institut der Universität Genf untergebracht war, zufällig einen Koffer mit Tagebuchaufzeichnungen und Briefen. Sabina Spielrein hatte ihn dort deponiert, bevor sie 1923 nach Russland – zunächst nach Moskau und später in ihre Heimatstadt Rostow am Don – zurückkehrte.
Dem italienischen Jungianer Aldo Carotenuto, der zu diesem Zeitpunkt bereits einige Übereinstimmungen zwischen den Schriften dieser jüdischen Psychoanalytikerin und denen C.G. Jungs entdeckt hatte, wurde das Material zur Veröffentlichung überlassen. Es erschien 1980 in italienischer Übersetzung. Die deutsche Ausgabe folgte 1986 unter dem Titel Tagebuch einer heimlichen Symmetrie. Sabina Spielrein zwischen Jung und Freud. Sie enthielt neben Spielreins Tagebuch der Jahre 1909-1912 und ihrem in dieser Zeit geführten Briefwechsel mit Jung und Freud auch Briefe, in denen sich die beiden ‚Urväter‘ der Psychoanalyse über den ‚Fall‘ Sabina Spielrein ausgetauscht hatten, war sie doch zeitweise eine Patientin C.G. Jungs. Er hatte ihre Krankheitsgeschichte (‚schwere Hysterie‘) bei einem Kongress in Amsterdam 1907 referiert, allerdings ohne sie damals beim Namen zu nennen.
Auch dieser Vortragstext ist in dem von Carotenuto herausgegebenen Buch enthalten, während das russische Tagebuch, das Sabina Spielrein von 1896 bis 1905 geführt hat, hier noch fehlt. Es erschien in deutscher Übersetzung erstmals 1994 in einer Dissertation von Irene Wackenhut und Anke Willke, die den programmatischen Titel Sabina Spielrein, Mißbrauchüberlebende und Psychoanalytikerin. Eine Studie ihres Lebens unter besonderer Berücksichtigung ihrer Tagebücher und ihres Briefwechsels trug. Die Gegenüberstellung der ‚Überlebenden‘ und der Psychoanalytikerin, die anderen Menschen beim Überleben half, wurde richtungsweisend für die weitere literarisch-dramatische Aufbereitung des ‚Falls‘.
Der in den USA praktizierende Psychoanalytiker Henry Zvi Lothane hat das russische Tagebuch Sabina Spielreins nun noch einmal neu (diesmal ins Englische) übersetzt und es in dem Buch The Untold Story of Sabina Spielrein. Healed & Haunted by Love. Unpublished Russian Diary and Letters veröffentlicht, das er in Zusammenarbeit mit Vladimir Shpilrain konzipierte, ein in New York lebender Mathematiker und Enkel von Sabina Spielreins Bruder Emil.
Lothane war auch einer der Teilnehmer des Symposiums, das sich an die Uraufführung des Films Ich hieß Sabina Spielrein anschloss, die in Anwesenheit der Regisseurin Elisabeth Márton am 27. April 2002 in der Black Box (Filmmuseum Düsseldorf) stattfand (http://home.subnet.at/werkblatt/nitzschke/film.html – Aufruf: 01.07.2024). Dieser Film entfaltete die vielfältige Persönlichkeit Sabina Spielreins ohne sensationslüsterne Zusätze. Er zeigt anhand szenisch nachgespielter Dokumente, die teils wörtlich zitiert werden, ein Leben voller leidenschaftlicher Sehnsucht, inniger Liebe und tiefer Einsamkeit, das im August 1942 ein jähes Ende fand: Sabina Spielrein wurde mit ihren beiden Töchtern und zweitausend anderen jüdischen Menschen in der nahe Rostow gelegenen Smijowskaja Balka (dt. Schlangenschlucht) von einem SS-Sonderkommando ermordet. Danach senkte sich der Schleier des Vergessens über sie. Inzwischen hat sie den Platz in der Geschichte der Psychoanalyse, der ihr aufgrund ihrer Leistungen zusteht, aber wieder erhalten (s. International Association for Spielrein – https://www.spielreinassociation.org/ – Aufruf: 13.01.2025).
Auch das wissenschaftshistorische Symposium, das sich an die Uraufführung des Films anschloss, hat zu dieser Rehabilitation beigetragen. Es wurde vom Düsseldorfer Verein Psychoanalyse und Philosophie unter Federführung von André Karger und Christoph Weismüller organisiert, die 2006 auch das Buch Ich hieß Sabina Spielrein. Von einer, die auszog, Heilung zu suchen herausgegeben haben. Die Überschrift des Symposiums lautete: „Sexuelle Übergriffe in der Psychoanalyse – Der Fall Sabina Spielrein“. Bevor ich auf die Behauptung genauer eingehe, wonach Sabina Spielrein das Opfer eines sexsüchtigen Verführers gewesen sein soll, womit C.G. Jung gemeint ist, sei eine kurze Skizze ihres Lebens und Werks vorangestellt, dessen Quintessenz der Untertitel des Buches The Untold Story of Sabina Spielrein treffend so wiedergibt: Healed & Haunted by Love. Der folgende einem der Schöpfungslieder Heinrich Heines entnommene Vers verdeutlicht dies ebenfalls:
Des ganzen Schöpferdrangs gewesen;
Erschaffend konnte ich genesen,
Erschaffend wurde ich gesund.
Sollte die Theorie, die Sabina Spielrein in ihrer wohl bedeutendsten Schrift Die Destruktion als Ursache des Werdens (1912) ausgeführt hat, den Kern des Begehrens treffen, wurde nicht nur sie, vielmehr werden wir dann alle durch Liebe ‚geheilt und verletzt‘. Sabina Spielrein hat diese Dialektik von Kreation und Destruktion dem „Fortpflanzungstrieb“ zugeschrieben, der sowohl „ein Werde- als ein Zerstörungstrieb“ sei, da er aus „zwei antagonistischen Komponenten“ bestehe. In diesem Zusammenhang benutzte sie aber – anders als später oft behauptet wurde – keineswegs den Begriff ‚Todestrieb‘ (denn der kommt in ihrer Schrift gar nicht vor). Stekel hat diesen Begriff in die Diskussion eingeführt, und Freud hat ihn 1920 in Jenseits des Lustprinzips übernommen. Damit bezeichnete er einen den Lebenstrieben entgegengesetzten eigenständigen Trieb, während Sabina Spielrein von einem Teil des Ganzen gesprochen hatte, um so den inneren Widerspruch des Begehrens zu verdeutlichen.
Sabina Spielrein war auch die erste Frau, die in dem von Eugen Bleuler und Sigmund Freud herausgegebenen und von C.G. Jung redigierten Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung publizierte: Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie (1911). Das war ihre Promotionsarbeit, mit der sie ihr Medizinstudium beendete. Im selben Jahr wurde sie Mitglied der Wiener Psychoanalytische Vereinigung. Ab 1920 arbeitete sie in Genf an dem von Édouard Claparède gegründeten Institut Jean-Jacques-Rousseau, an dem man pädagogischen und entwicklungspsychologischen Fragestellungen nachging. Hier traf sie Jean Piaget, dessen Lehranalytikerin sie wurde. Beim 6. Internationalen Psychoanalytischen Kongress hielt sie in Den Haag 1920 den Vortrag Zur Frage der Entstehung und Entwicklung der Lautsprache. Und beim 7. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Berlin 1922 lautete ihr Thema: Psychologisches zum Zeitproblem. Piaget sprach hier über La pensée symbolique où imagée et la pensée de l‘enfant.
Aufgrund ihrer Beiträge zur Kenntnis der kindlichen Seele (1912) und anderer Arbeiten über die Entwicklung des Kindes wurde Sabina Spielrein – lange vor Melanie Klein oder Anna Freud – zur Pionierin der Kinderanalyse. Nach Moskau zurückgekehrt trat sie 1923 in die Russische Psychoanalytische Vereinigung ein. Sie arbeitete jetzt an dem von Vera Schmidt geleiteten Psychoanalytischen Kinderheim-Laboratorium mit und hielt an der Moskauer Universität Vorlesungen über Psychoanalyse. 1924 kehrte sie in ihre Heimatstadt Rostow am Don zurück, in der sie sich nach dem Verbot der Psychoanalyse unter Stalin ab 1930 auf ihre Arbeit als Schulärztin konzentrierte. Ihre letzte außerhalb Russlands erschienene Veröffentlichung publizierte sie 1931 in der Imago unter dem Titel Kinderzeichnungen bei offenen und geschlossenen Augen. Untersuchungen über die unterschwelligen kinästhetischen Vorstellungen.
Nach dem Zufallsfund des Koffers, den sie in Genf zurückgelassen hatte, fand Sabina Spielrein in der Öffentlichkeit zunächst aber nicht aufgrund ihrer herausragenden wissenschaftlichen Leistungen wieder Beachtung, vielmehr machte sie jetzt erst einmal als ‚Frau zwischen Jung und Freud‘ (eine zweifelhafte) Karriere. Jung hatte sie als seinen psychoanalytischen „Schulfall“ bezeichnet. Einige Jahre nach der Beendigung der Behandlung kam es dann aber auch noch zu einer Liebesbeziehung, über deren Charakter bis heute in der Literatur kontrovers diskutiert wird. Diese Geschichte wurde als „verdrängtes Skandalon der frühen Psychoanalyse“ präsentiert (Richebächer, 2000). Die weitergehende Beschäftigung ermöglichte dann aber ein anderes Verständnis dieser Beziehung. Dabei ging es um die emotionalen Prozesse, in denen sich (auch ehemalige) PatientInnen und TherapeutInnen verfangen können. Der Titel des Vortrags, den ich anlässlich des Symposiums bei der Uraufführung des Films Ich hieß Sabina Spielrein 2002 in Düsseldorf gehalten habe, lautete denn auch Der Fall Sabina Spielrein: vom ‚Schulfall‘ zum Lehrstück.
Selbsternannte VerteidigerInnen Sabina Spielreins konstruierten hingegen eine Geschichte, in der sie ihr die Rolle der Kronzeugin der Anklage gegen Jung zuschrieben, wobei sie, ohne ausreichende Belege vorweisen zu können, behaupteten, Jung habe Sabina Spielrein sexuell missbraucht. Zur frühen Kritik dieser These siehe Bernd Nitzschke: Die Frau als „Opfer“ – und wie man sie in dieser Rolle fixieren kann. Kritische Anmerkungen zur Behandlung des „Falles“ Sabina Spielrein durch Johannes Cremerius, in: Forum der Psychoanalyse, 1988, 4, 153-163.
Im Epilog einer Neuausgabe ihres Tagebuchs und der Briefe, die Traute Hensch 2003 besorgte, wurden Spielrein und Jung gar als „das Paar Opfer-Henker“ vorgestellt. Lothane hat zu dieser Neuausgabe aber auch noch ein Nachwort beigetragen, in dem er den folgenden Satz aus einem Brief Freuds an Jung aus dem Jahr 1906 zitiert: „Ihnen wird nicht entgangen sein, daß unsere Heilungen durch die Liebe zustande kommen (Übertragung) […]. Es ist eigentlich eine Heilung durch Liebe.“ Diesen Hinweis hatte Freud zu einem Zeitpunkt gegeben, als er von der Verstrickung Spielreins und Jungs noch nichts wissen konnte. Sie hatten bei ihm – zunächst unabhängig voneinander – erst 1909 um Rat (heute würde man sagen: um Supervision) nachgesucht. Freud benutzte in diesem Zusammenhang erstmals den Begriff ‚Gegenübertragung‘.
In seinem Nachwort zu dem von Traute Hensch herausgegebenen Band stellte Lothane nüchtern fest: „Jung mißbrauchte Spielrein nicht“, womit explizit sexueller Missbrauch gemeint war. Wohl aber, so fügte Lothane hinzu, zeigten die kolportierten Skandalgeschichten, „daß sich Sex immer gut verkauft“. Bei ZEIT online konnte man daher einen Blick durchs Schlüsselloch werfen und erfahren, was mit Sabina Spielrein vermeintlich geschah, als sie Jungs Patientin war: „C.G. Jungs Behandlungsmethode bedeutet […]: Sex.“ Und: „Sie haben Sex und diskutieren Sabina Spielreins Doktorarbeit“ (https://www.zeit.de/campus/2012/02/ehemalige-sabina-spielrein – Aufruf: 02.07.2024).
Sabina Spielrein wurde bald zu einer Romanfigur (etwa bei Bärbel Reetz als Die russische Patientin, 2006). Und nachdem sie von John Kerr in dessen wissenschaftshistorischen Abhandlung A Most Dangerous Method: The Story of Jung, Freud, and Sabina Spielrein (1993) als tragische Heldin portraitiert worden war, trat sie auf den Brettern dieser Welt auf – zunächst 1998 im Londoner Bush Theatre in Snoo Wilsons Stück Sabina und dann 2002 im Londoner National Theatre in Christopher Hamptons The Talking Cure. Das war die Tastatur, auf der David Cronenberg, der Regisseur des Films Eine dunkle Begierde (201l), so virtuos weiterklimpern konnte. In seinem Film lässt sich Sabina Spielerein (alias Keira Knightley) in inniger sadomasochistischer Verbundenheit mit ihrem Therapeuten von Jung (alias Michael Fassbender) lustvoll den Hintern versohlen (s. Bernd Nitzschke: Vorwärts die Rosse traben, lustvoll schaukelt das Boot. David Cronenbergs Film „Eine dunkle Begierde“, der als „die wahre Geschichte einer Begegnung, die alles verändern sollte“, ins Kino kam – https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16242&ausgabe=201201 – Aufruf: 01.07.2024).
Das war aber noch lange nicht alles! 2024 erschien in Zürich Doktor Spielrein auf der Bühne des Schauspielhauses endlich auch als Multimedia-Ereignis. Auf der Homepage dieses Theaters wurde das Schauerstück „ab 16 Jahren“ wie folgt angepriesen: „Trigger Warnungen: Die Inszenierung thematisiert Gewalt, psychische Krankheit, Missbrauch, Tod und die Shoah. Sensorische Warnung: In Teilen der Inszenierung wird eine Virtual Reality Brille getragen“ (https://www.schauspielhaus.ch/de/24357/triggerwarnungen – Aufruf: 12.01.2025).
Betrachtet man das Leben Sabina Spielreins ohne Hinzufügen voyeuristischer Phantasien, erhält man ein in Teilen tragisches, in anderen Teilen aber auch das Bild einer nach vielen Irrungen und Wirrungen endlich erstarkten und selbstbestimmten Frau, deren Beziehung zu Jung mehr war als nur eine (zweitweise) Amour Fou. Als beste Schülerin hatte sie 1904 das Gymnasium in Rostow am Don beendet, war aber schon damals sehr krank. Jung verstand ihre innere Zerrissenheit als Folge von Traumata, die sie in ihrer Kindheit erlitten hatte. „Mit ca. 18 Jahren hatte sich ihr Zustand derart verschlimmert, dass die Patientin eigentlich nur noch zwischen tiefen Depressionen, Lach-, Wein- und Schreikrämpfen abwechselte.“ Sie litt an Zwangsvorstellgen, die ihr die ersehnte Nähe zu geliebten Menschen fast unmöglich machten. Wurde sie angesprochen, schlug sie die Hände vors Gesicht, so als wolle sie irgendetwas nicht (mehr) sehen. Begleitet von ihrer Mutter kam sie deshalb in die Schweiz, um in einem Sanatorium Hilfe zu finden. Als das misslang, wurde die damals 19jährige Patientin notfallmäßig in die von Eugen Bleuler geleitete psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli in Zürich eingeliefert. Hier traf sie den zehn Jahre älteren (verheirateten) Arzt C.G. Jung, der sie von August 1904 bis Juni 1905 (seinem angelesenen Kenntnisstand entsprechend) ‚psychoanalytisch‘ behandelte. Auf Empfehlung Professor Bleulers konnte sie noch während des Klinikaufenthalts das Medizinstudium an der Universität Zürich aufnehmen. Nach der Entlassung wurde die Therapie noch einige Zeit ambulant fortgeführt.
In einem Brief an Freud vom 10. Juni 1909 hat Sabina Spielreins die Chronologie der Ereignisse detailliert dargestellt. Bis vor „1 ½ bis 2 Jahren“ [also bis Anfang 1908 oder Mitte 1907] sei „von einem näheren erotischen Verhältniss“ [sic!] „noch keine Rede“ gewesen. „[D]ann wurde er [Jung] Freund und zum Schlusse ‚Dichter‘ d. h. Geliebter […] und so gings wie’s gewöhnlich bei der Poesie zugeht“. Und an einer anderen Stelle dieses Briefes schreibt Sabina Spielrein, Jung sei bis „vor 4 ½ Jahren“ ihr Arzt gewesen, was bedeuten würde, dass die ambulante Therapie 1905 beendet war. Das stimmt aber nicht mit Jungs Brief vom 23. Oktober 1906 an Freud überein, in dem es heißt: „Ich behandle gegenwärtig [Herv.: B.N.] eine Hysterie nach Ihrer Methode. Schwerer Fall, 20jährige russische Studentin, krank seit sechs Jahren.“ Setzt man diese Zeitangabe Jungs als zutreffend voraus, dann hätte die ambulante Behandlung noch mindestens bis zum Herbst 1906 angedauert. Wie dem auch sei, Ende 1908 bestand zwischen Jung und Sabina Spielrein keine Arzt-Patient-Beziehung mehr.
In einem aus dieser Zeit stammenden undatierten Brief Sabina Spielreins an ihre Mutter, dessen deutsche Übersetzung Lothane erstmals in dem von André Karger et al. herausgegebenen Buch Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie (2001) publiziert hat, gewährt Sabina Spielrein Einblick in die ‚Poesie‘, die sie um diese Zeit mit Jung erleben konnte: „Zweimal hintereinander wurde er in meiner Gegenwart derart emotionell, daß ihm Tränen übers Gesicht rannen.“ Und: „Er ist für mich ein Vater, und ich bin eine Mutter für ihn, oder, um es genauer zu sagen, die Frau, die zum ersten Ersatzobjekt für die Mutter wurde […].“ Vier Jahre später schreibt sie in Die Destruktion als Ursache des Werdens: „Wie man im Geliebten die einem ähnlichen Eltern liebt, so ist es begreiflich, daß man dabei auch in Wirklichkeit das Schicksal der Vorfahren, speziell der Eltern zu erleben sucht.“
Schließlich malt sie der Mutter eine Szene aus, in der sie ihr den Beobachterposten zuweist, den, laut Freud, im Falle der ‚Urszene‘ das Kind einnimmt, wenn es, ohne dieses Geschehen ‚richtig‘ verstehen zu können, den sexuellen Verkehr der Eltern beobachtet, den es deshalb als sadomasochistischen Akt (miss-)deutet. Sabina Spielrein teilt ihrer Mutter mit: „Wenn Du Dich nur im Nebenraum verbergen könntest und hören könntest, welche Sorgen er [Jung] sich um mich und mein Schicksal macht, wärst Du selbst zu Tränen gerührt. […] Erinnere Dich, wie der liebe Papa sich bei Dir in genau der gleichen Weise entschuldigte!“ Sie erkennt jetzt in Jung wie einst im Vater „einen Psychopathen“. Um noch einmal Die Destruktion als Ursache des Werdens zu zitieren: Der Kern des sexuellen Begehrens sei der Wunsch, „lustbetonte infantile Erlebnisse wieder[zu]erleben“, heißt es dort, wobei das Ich im Wir aufgehe – sprich: sich regressiv wieder auflöse. Diese Bedrohung des Ich-Erlebens hat Sabina Spielrein als den Urgrund der mit dem Begehren einhergehenden Angst verstanden (vgl. Bernd Nitzschke: Wunsch – Traum – Kindheit, in: Dannecker, M., Katzenbach, A. (Hrsg.): 100 Jahre Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Aktualität und Anspruch. Gießen, 2005, S. 121-127).
Um die Verwandlung der Freundschaft mit Jung in eine (nun auch offen eingestandene) Liebesbeziehung zu verstehen, muss man Jungs Begegnung mit Otto Gross berücksichtigen. Dieser ‚wilde‘ Psychoanalytiker war von Mai bis Juni 1908 wegen Rauschgiftabhängigkeit als Patient in der Klinik Burghölzli, wo er von Jung (vergeblich) ‚psychoanalytisch‘ behandelt wurde. Gross vertrat die Theorie, psychische Krankheiten ließen sich durch ‚Befreiung‘ und ‚Ausleben‘ gehemmter sexueller Wünsche ‚heilen‘. Damit machte er in der Schwabinger Bohème und im Aussteigerparadies Ascona Furore. Dieser Zielsetzung hat Freud stets vehement widersprochen. So schreibt er 1923: „Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Missverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom ‚freien Ausleben‘ der Sexualität. Das Bewusstmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben […].“
Jung hatte Gross beim Kongress in Amsterdam 1907 erstmals persönlich kennengelernt. Kurz darauf schrieb er an Freud, Gross habe gesagt, er habe „die Übertragung auf den Arzt gleich wieder weg, da er die Leute zu Sexualimmoralisten mache“. Konnte sich Jung damals noch von Gross distanzieren, so verlor er während dessen Behandlung im Sommer 1908 (vorübergehend) die Abgrenzung zu diesem Patienten und damit auch zu dessen Ideen (s. Bernd Nitzschke: Das magische Dreieck – Otto Gross, C.G. Jung, Sabina Spielrein. Ein Bericht aus der Frühgeschichte der Psychoanalyse. In: Albrecht Goetz von Olenhusen & Gottfried Heuer (Hrsg.): Die Gesetze des Vaters. Marburg, 2005). In einem nur als Fragment erhaltenen Brief aus dem Jahr 1909 hat Sabina Spielrein die Verwandlung ihres ‚Freundes‘ zum ‚Dichter‘ respektive zum ‚Poeten‘ wie folgt geschildert: „Nun kommt er [Jung] ganz freudestrahlend und erzählt in tiefster Rührung von Gross, von der großen Erkenntnis, die ihm nun aufgegangen ist […], er will nun nicht mehr sein Gefühl zu mir unterdrücken; […] er will mir nun alles von sich erzählen. Wiederum also dieser eigentümlichste Zufall, dass der Teufel so unerwartet für mich Recht behielt [womit gemeint ist, dass Jung nun endlich dem Wunsch nach einer Liebesbeziehung nachgeben wollte]. Sollte man den [Teufel] preisen [sic!] oder verdammen? Dieser unsterbliche Satz: ‚Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft’. Diese dämonische Kraft, die doch ihrem Wesen nach Zerstörung ist (das Böse) und zugleich auch die schöpfende Kraft ist […]. Das ist eben der Sexualtrieb, der seinem Wesen nach ein Zerstörungstrieb, Vernichtungstrieb für das einzelne Individuum ist und daher […] einen so großen Widerstand bei jedem Menschen zu ueberwinden hat […].“ In Die Destruktion als Ursache des Werdens (1912) wird Sabina Spielrein diese persönliche Erfahrung mit anderen Worten in einen übergreifenden theoretischen Zusammenhang stellen.
Im August 1908 besucht Sabina Spielrein ihre Familie in Russland. Jung schickt ihr mehrere Briefe. Einer dieser Briefe kommt aber erst an, nachdem sie schon wieder aus Rostow abgereist ist. Die Mutter öffnet den Brief, weil sie neugierig ist. Danach schreibt sie an ihre Tochter: „Ich bitte Dich tausendmal um Entschuldigung, daß ich den Brief geöffnet habe, doch […] ich mußte einfach wissen, was er für Dich enthielt […]. Sein [Jungs] Brief beruhigte mich. Er drückt tiefe Freundschaft aus, die ein wenig gefärbt ist, von etwas anderem, was wohl nur natürlich ist. […] Er ist wahrscheinlich in den Wehen eines Konflikts, und sein Rat an Dich und Ihn [sic!] ist, die Liebe nicht weiter wachsen zu lassen, sondern sie zu unterdrücken […]. Er schreibt, daß dies im Interesse seiner Lieben, d.h. seiner Frau und Kinder, notwendig ist. Und was ist mit Dir? […] Wie dem auch sei, mir gefiel der Ton seines Briefes, insbesondere die Grenzen, die er für Dich und ihn setzt. Mir scheint, daß es nicht besser sein könnte. Du hast in ihm einen Menschen, der Dir zugetan ist, mit einem Hauch von Liebe (mehr als das ist nicht erlaubt) […]. Das Wichtigste ist, zu sehen, dass er erobert werden könnte, es sich aber nicht lohnt. Du kannst es nicht besser haben, als es jetzt ist […].“
Aus diesem Brief geht eindeutig hervor, dass sich Jung mindestens bis zum Spätsommer 1908 um die Beherrschung seiner Gefühle und damit auch um die Einhaltung der Grenzen in der Beziehung zu seiner ‚Freundin‘ Sabina Spielrein, die inzwischen seine Kollegin war, bemüht hat. Unter dem nachwirkenden Eindruck der Ideen von Otto Gross verlor er dann aber seine Selbstbeherrschung. Anfang 1909 überstürzen sich die Ereignisse: Sabina Spielreins Mutter erhält einen Brief von einem anonymen Absender (oder besser: von einer anonymen Absenderin, denn wahrscheinlich handelte es sich um Jungs Ehefrau), in dem es heißt, „sie solle ihre Tochter retten, da sie sonst durch Dr. Jung zugrunde gerichtet“ werde. Daraufhin schreibt die Mutter (laut Überlieferung Sabina Spielreins) an Jung, „er hätte doch ihr Mädchen gerettet“, er werde es jetzt „doch nicht verderben wollen“. Die Mutter „fleht ihn an[,] nicht ueber die Grenzen der Freundschaft zu gehen“. Jung konnte nicht ahnen, dass die Mutter zu diesem Zeitpunkt längst über die Liebesbeziehung ihrer Tochter Bescheid wusste, denn Sabina Spielrein hatte ihre Mutter selbst darüber informiert. Und sie hatte der Mutter versichert: „Bis dato sind wir auf der Ebene der Poesie verblieben, welche ja nicht gefährlich ist und wir werden auf dieser Ebene bleiben“. In einer Zeit, in der es noch keine sicheren Empfängnisverhütungsmethoden gab, konnte ‚Poesie‘ nur bedeuten, Sex (im herkömmlichen Sinne verstanden) war ausgeschlossen. Und so heißt es in einem der letzten Briefe Jungs an Sabina Spielrein vom September 1919 auch: „Die Beziehung mußte ‚sublimiert‘ sein […].“
Nachdem sich die Mutter Anfang 1909 mit mahnenden Worten bei ihm gemeldet hatte, bekam es Jung mit der Angst zu tun. Jetzt ging es ihm um seinen guten Ruf als Arzt. Sabina Spielrein schreibt in einer ihrer Aufzeichnungen, Jung habe der Mutter nun mitgeteilt, dass ein „Arzt und seine Patientin […] unbeschränkt lange von jeglicher Intimität sprechen“ könnten. „Der Arzt aber kennt seine Grenzen und wird sie nie ueberschreiten, denn er ist für seine Mühe bezahlt. […] Als Freund Ihrer Tochter hingegen müsste man es dem unbekannten Schicksal überlassen, was geschehen wird. Denn zwei Freunde hindert Niemand zu tun, was sie wollen. Ich hoffe, liebe und geehrte Frau, Sie verstehen mich […]“. Und damit sie ihn auch so verstand, wie er verstanden werden wollte, teilte Jung der Mutter noch mit: „Ich schlage Ihnen darum vor, um meine Stellung als Arzt, von der sie wünschen [,] dass ich sie beibehalten möge [,] zu umgrenzen, mir ein Honorar auszusetzen als angemessene Entschädigung für meine Bemühung. […] Mein Honorar beträgt fr. 10 pro Consultation.“
Sabina Spielrein hat zu keinem Zeitpunkt den Vorwurf erhoben, Jung habe sie sexuell missbraucht. Sie wollte Seelenverwandtschaft, Verschmolzenheit, primäres Sicherheitsgefühl, ja, sie wollte ein Kind von Jung, ein ‚Wir‘, in dem ihre Liebe neu zur Welt kommen sollte. Jungs Weigerung, sich von seiner Frau zu trennen – oder zumindest ein Kind mit Sabina Spielrein zu zeugen, „mag er dann zu seiner Frau zurückkehren“, wie es in einer ihrer Aufzeichnungen heißt –, war enttäuschend und schmerzhaft, doch das war nicht die Kränkung, die sie zutiefst verletzte. Es war der Verrat der Liebe, den Jung beging, als er die von ihm so sehr geliebte Frau wieder zu einer bedürftigen Patientin zurückstufte, für deren Behandlung er künftig zehn Franken „pro Consultation“ verlangen werde. Der Mann, der sich noch vor kurzem ihr gegenüber selbst wie ein Kind, ja wie ein „Psychopath“ benommen hatte, behandelte sie nun, als sei sie noch ein Kind. In einem Brief an Freud hat Sabina Spielrein diese Kränkung mit deutlichen Worten beschrieben: „Wie entsetzlich muss es denn für mich sein, wenn die Mutter nun dazwischen kommt [sic!], mich als Kindchen unter ihren Schutz nimmt, und mein Freund flieht wie ein elender Feigling und besudelt das, was so hoch, so hell und rein über allem stand. Wäre er [Jung] doch zu mir gekommen, hätte er mir doch gesagt, dass die Freundschaft für ihn über irgend ein [sic!] dummes Geklatsch in der Welt steht […].“
Wie man den weiteren Aufzeichnungen entnehmen kann, fiel es Sabina Spielrein und Jung lange Zeit schwer, die Liebesbeziehung in eine Freundschaft zurückzuverwandeln. Noch im Dezember 1910 notierte sie in ihrem Tagebuch: „Die Vernunft ist seit gestern, da ich bei ihm war wieder dahin. Vernunft? Gibt es eine solche? […] Ja, die stärkste Poesie war vielleicht […] vor 8 Tagen“. Und kurze Zeit danach heißt es: „Statt mir ruhig Liebe zu zeigen, […] verfiel er wieder in eine Don Juan Rolle, die mir so widerwärtig ist an ihm.“ Jung habe zu ihr gesagt, „dass ich zu der Kathegorie [sic!] der Frauen gehören sollte, die nicht für das Muttersein, sondern für die freie Liebe geschaffen sind. […] Ich war tief niedergedrückt. […] Ich will Frau und Mutter sein und nicht eine zum Zeitvertreib.“ Sabina Spielreins Wunsch, „dass ich mich liebend von ihm [Jung] trenne“, den sie 1909 in einem Brief an Freud formuliert hatte, ging schließlich aber doch in Erfüllung. Sie wurden wieder Freunde – und blieben es, obwohl Freud Sabina Spielrein nach seinem Zerwürfnis mit Jung hartnäckig bedrängte, sie solle sich nun auch endgültig von Jung trennen. „Ich stelle mir vor, Sie lieben Dr. J. [Jung] noch so stark, weil sie den ihm gebührenden Haß nicht ans Licht gebracht haben“, schrieb Freud im Mai 1913. Da war Sabina Spielrein bereits mit dem russischen Arzt Pawel Scheftel verheiratet. Ende 1913 kam ihre Tochter Renata zur Welt, deren Name (‚die Wiedergeborene‘) dem Vergehen das Werden entgegensetzt. Das war ja auch der Grundgedanke in der Schrift Die Destruktion als Ursache des Werdens, nach deren Fertigstellung Sabina Spielrein an Jung schrieb: „Empfangen sie nun das Produkt unserer Liebe […].“
In The Untold Story of Sabina Spielrein hat Lothane einleitend zusammengefasst, was aufgrund der kaum mehr überschaubaren Anzahl wissenschaftlicher und literarischer Beiträge bereits über Sabina Spielreins Leben und Werk bekannt war und vorstehend kurz noch einmal referiert worden ist. Seit 2005 liegt zudem eine in mehrere Sprachen (wenn auch nicht ins Englische) übersetzte gründlich recherchierte Biographie vor: Sabine Richebächer, Sabina Spielrein: ‚Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft‘ (https://literaturkritik.de/id/8988 – Aufruf: 22.01.2025). Die Formulierung des Titels The Untold Story of Sabina Spielrein erscheint daher mehr als gewagt. Was sollte noch nicht über ihr Leben erzählt worden sein?
Lothanes Anspruch besteht darin, Fakten und Fiktionen wieder zu trennen – insbesondere im Hinblick auf die Behauptung, zwischen der Patientin Spielrein und dem Therapeuten Jung habe es eine (im herkömmlichen Sinne zu verstehende) sexuelle Beziehung gegeben. Auch diesbezüglich wiederholt er allerdings nur, was er und andere bereits festgestellt hatten: „It was Carotenuto who converted a personal quarrel into a sensational sex scandal, there after copied ad nauseam in journals, books, plays, and feature films.“ Es gibt offenbar einen menschlich-allzumenschlichen Zwang, die unbewussten Phantasien, die um die Urszene kreisen, projektiv wiederzubeleben, indem man sie durch bewusste Phantasien ersetzt, die dann als vermeintliche Wahrheit der intimen Geheimnisse eines Liebespaares erscheinen.
Soweit man über die dafür erforderlichen Beobachtungs- und Untersuchungsinstrumente verfügt, können Ereignisse, die in dieser Welt geschehen, ‚objektiv‘ festgestellt werden. Man kann sie dann in einer Geschichte zusammenfassen, wodurch sie die ‚subjektive‘ Bedeutung gewinnen, die sich aufgrund der Regeln der Konstruktion einer solchen Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (Lessing, 1919) ergibt, die das jeweilige (wissenschaftliche) Kollektiv vorschreibt. Krankengeschichten, die „wie Novellen zu lesen“ sind, um diese Formulierung Freuds hier noch einmal zu verwenden, werden auf diese Weise konstruiert. Auch dabei handelt es sich um eine nachträgliche Interpretation des faktisch Geschehenen. Lothane hat daher in der Einleitung des Buches The Untold Story mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass durch das Erzählen einer Geschichte aus Subjektivem Objektives werden kann: „Narrarology deals with description of past dramas, stories of events that occured there-and-then. The past, once established or recorded, becomes an unchangeble historical fact.“
Lothanes übergreifendes Verdienst besteht darin, dass er die in russischer Sprache verfassten Briefe, die im Genfer Spielrein-Archiv vorhanden, aber noch nicht publiziert waren, in The Untold Story nun erstmals (in englischer Übersetzung) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Es sind dies die Briefe des Vaters, der Mutter und der Brüder Sabina Spielreins sowie Briefe ihres Ehemanns Pawel Scheftel, ihrer Freundinnen und Briefe von Kollegen, mit denen sie in wissenschaftlichem Austausch stand. Hinzu kommen Photographien der Familie und Graphiken aus Sabina Spielreins Notizbüchern, die hier erstmals gezeigt werden. Das Bild dieser außergewöhnlichen Frau lässt sich so in manchen Facetten neu zeichnen; aber auch das Bild der Eltern Sabina Spielreins, das vor allem aufgrund der von C.G. Jung verfassten Krankenberichte entstanden ist, kann nun korrigiert oder zumindest vervollständigt werden.
In einem Bericht über Fräulein Spielrein an Herrn Professor Freud in Wien, den Jung im September 1905 abgefasst (aber nicht abgeschickt) hat (abgedruckt in: Bernard Minder, Jung an Freud 1905: ein Bericht über Sabina Spielrein, in: Gesnerus, 1993, 50(1/2), 113-120), ist von „Züchtigungen auf den Hintern“ die Rede, „die der Vater der Pat. zwischen dem 4 & 7ten [Lebensjahr] appliciert“ haben soll. „Zu der Mutter ähnliches Verhältnis. Die Mutter wollte sie noch in diesem Jahre einmal schlagen in Gegenwart ihrer Brüder und der Freunde ihrer Brüder. Als sie im 13ten Jahre einmal von der Mutter gezüchtigt wurde, lief sie fort, versteckte sich überall, begoss sich mit eiskaltem Wasser (Winter), gieng in den Keller, um sich tötlich zu erkälten; womit sie die Eltern quälen und sich töten wollte. Im 15ten Jahre wollte sie sich in Karlsbad durch Hunger töten, weil sie die Mutter erzürnt hatte“ (Bernard Minder, Sabina Spielrein. Jungs Patientin am Burghölzli, in: Luzifer-Amor – Zeitschrift für Geschichte der Psychoanalyse, 1994, 7, Heft 15). Die von Lothane veröffentlichten Briefe vermitteln von der Persönlichkeit des Vaters und der Mutter Sabina Spielreins nun aber ein differenziertes Bild.
Sabina Spielreins Vater Nicolai litt unter Stimmungsschwankungen, wie aus einem Brief hervorgeht, in dem er der Tochter mitteilt, er sei zeitweise so depressiv gewesen, dass er niemanden mehr – selbst nicht die ihm nahestehenden Menschen – habe lieben können. Er suchte deshalb im Sommer 1914 Freud in Wien auf, doch der habe gelächelt und zu ihm gesagt, das sei der „Beweis für ein Übermaß an Gefühlen“. Diese Erklärung habe er zunächst sehr skeptisch aufgenommen, dann aber habe er gegenüber seiner Frau und anderen Menschen plötzlich doch wieder „ungewöhnlich zärtliche Gefühle“ erleben können.
Sabina Spielreins Mutter Eva, Tochter eines chassidischen Rabbi, war Zahnärztin, arbeitete wegen ihrer fünf Kinder aber nicht in diesem Beruf. Sie hat die zeitweiligen depressiven Zustände ihres Mannes in einem Brief an die Tochter beschrieben. Er sei ihr zeitweise wie eine „Maschine“, ja wie ein im Leben bereits Gestorbener erschienen. Sie selbst litt an Harnsäure Diathese, einer Stoffwechselstörung, die zu allerlei Beschwerden führt, darunter schmerzhafte Gelenksentzündungen, über die sie in ihren Briefen berichtet. Sie forderte ihre Tochter immer wieder auf, sie möge ihr doch öfter schreiben. Und als ihre Tochter und ihre Enkelin Renata nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs ganz allein in der Schweiz leben mussten, wurden ihre Sorgen noch größer. Auch Pawel Scheftel, der Ehemann Sabinas und Vater von Renata, der als Militärarzt in Russland geblieben war, sehnte sich nach Frau und Kind. Verzweifelt schreibt er in einem der Briefe, dass er kein Geld überweisen könne, obgleich er doch wisse, in welch ärmlichen Verhältnissen die beiden leben müssten.
Sabina Spielreins Vater Nicolai war ein in Deutschland ausgebildeter Agrarökonom, der es in Russland als Kaufmann zu einem beträchtlichen Vermögen brachte. Er ist sehr gebildet und spricht neben jiddisch und hebräisch auch polnisch, russisch deutsch und französisch. Er legt sehr viel Wert auf die Ausbildung seiner Kinder, die er großzügig unterstützt. So finanziert er nicht nur die Behandlung seiner Tochter in der Schweiz, sondern auch deren Medizinstudium und weiteren Lebensunterhalt – auch während des Krieges und nach der Russischen Revolution, soweit das noch möglich ist. Auch für die Ausbildung der drei jüngeren Brüder Sabinas – Jan (-2 Jahre), Isaak (-6 Jahre) und Emil (-10 Jahre), die Schwester Milotschka (-14 Jahre) ist bereits im Alter von sechs Jahren an Typhus gestorben – sorgt der Vater finanziell.
Jan Spielrein studiert zunächst am Konservatorium in Paris Musik, danach an der Sorbonne und später an der Polytechnischen Hochschule in Karlsruhe Mathematik und Physik. Er veröffentlicht noch in Deutschland ein Lehrbuch der Vektorrechnung nach den Bedürfnissen in der technischen Mechanik und Elektrizitätslehre (1916), nach dem Ende des Krieges kehrt er dann aber wieder nach Russland zurück. Dort wird er Professor für Elektrotechnik. Isaak Spielrein, der sich bereits als Schüler politisch gegen das Zarenregime engagiert hatte, studiert von 1906 bis 1909 in Leipzig bei Wilhelm Wundt Psychologie. Auch er kehrt nach dem Ende des Krieges nach Russland zurück. 1920 tritt er in die KP ein, ab 1924 lehrt er an der Moskauer Universität Psychotechnik. In Barcelona wird er 1930 anlässlich der 6. Konferenz der Internationalen Gesellschaft für Psychotechnik deren Präsident. Emil Spielrein, der jüngste Bruder, bleibt in Rostow und studiert an der dortigen Universität Biologie und Zoologie. Später wird er in diesen Fächern Professor und 1936 auch noch Dekan der Fakultät.
Die drei Brüder Sabina Spielreins werden in den 1930er Jahren Opfer des roten Staatsterrors: Isaak wird wegen konterrevolutionärer Propaganda 1935 erst zu fünf Jahren Arbeitslager und zwei Jahre später wegen Spionage hingerichtet. Emil wird 1937 aus der KP ausgeschlossen und wegen industrieller Sabotage noch im selben Jahr erschossen. Jan wird wegen konterrevolutionärer Aktivitäten 1938 zum Tod verurteilt. Nimmt man das Schicksal ihrer Schwester als Opfer des braunen Staatsterrors hinzu, kann man diese Geschichte einer russisch-jüdischen Familie als exemplarisches Beispiel für die Barbarei des 20. Jahrhunderts anführen. Das von Lothane veröffentlichte Brief-Konvolut führt diese tragische Geschichte in einer sehr persönlichen Fassung vor Augen. Die Formulierung The Untold Story of Sabina Spielrein ist daher auch im Sinne dieses Aphorismus‘ von Oscar Wilde zu verstehen: „Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie neu zu schreiben“. Insofern ist das Buch ‚Pflicht‘-Lektüre für jeden, der sich weiterhin mit Sabina Spielrein befassen will.
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