Ausflüge ins Zweidimensionale

Jan Röhnert erzählt in „Karstwärts“ auf virtuose Weise von seinen Wanderungen

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karstwärts präsentiert Tagebuchaufzeichnungen, wirkliche und vielleicht auch fiktive, und will uns mit speziellen Landschaften vertraut machen – mit Karstgebieten, solchen Gebieten, in denen das Wasser das Gelände in chemischen Prozessen zerfressen hat. Der Verlag hat das Werk mittels Fotos von Gesteinen, auch auf dem Vorsatz, liebevoll gestaltet. Schade, dass gelegentlich Zeilen so eng gesetzt sind, dass die Abstände zwischen den Wörtern fast verschwinden.

Drei Abschnitte eignen sich als Einführung in dieses Werk. Dies sind zum einen, in der Mitte, die sechs Seiten, die mit den Worten „Die Gegend des Thüringer Holzlands“ beginnen. Es ist die Gegend um Gera und das Hermsdorfer Autobahnkreuz, wo das Wasser den Kalk und in der Nähe der Wind den Sandstein abgetragen hat; eine geologisch hochinteressante Bruchzone, wo sich das Weiß und das Rot in einer mäandernden Grenze begegnen. Dazu kommt „die Kruste einer alten Küste“, die sich samt ihren Höhlen an die Oberfläche schiebt. Die ganze detailreiche Beschreibung ist eine wunderbar zu lesende geologische Studie.

Der zweite sehr zu empfehlende Abschnitt trägt den Titel ‚Die Wasser der Causses‘ und beschreibt das Trampen des Erzählers mit (seiner Freundin?) N. durch die Cevennen von Norden bis in die Provence; zum Teil entlang des Tarn mit seinem „verkarsteten Innenleben“. Da ergeben sich kulturelle Reminiszenzen, Ausflüge ins Bildungswissen sozusagen: Gestalten von Balzac fallen dem Erzähler ein, auch der zeitweilige Frankreich-Landstreicher Hölderlin und sogar die Hugenotten und die Untaten der deutschen Besatzung in den 1940er Jahren. Es gibt Begegnungen mit manchem Einheimischen, der die beiden Bergbegeisterten bestaunt.

Der dritte wichtige Abschnitt ist das ‚Thrakische Tagebuch‘, in dem der Erzähler an archäologischen Exkursionen im bulgarisch-türkisch-griechischen Grenzgebiet teilnimmt und sich von der Kultur der Thraker vor fast 2000 Jahren begeistern lässt (sowie von ihrer Ablösung durch die Römer). Kunstwerke, „geritzt in den Kalk“, fallen ihm auf. Das ist eine reiche Rundschau in eine Region, die unsere Schul-Geschichtsbücher nicht kennen, und dabei ein Blick in den Lauf der Historie. An die achtzig Prozent der Bevölkerung der bulgarischen Stadt Warna „waren anderen Ursprungs: Griechen, Türken, Gagausen, Armenier, Rumänen, Russen, Österreicher, Engländer, Franzosen“.

Der Leser wird vielleicht auf weitere geografische Angaben in dem Band achten, auf das Helmetal in der Goldenen Aue und den Karstgürtel im Südharz, auf den Kyffhäuser-Berg und – natürlich – das prominenteste deutsche Karstgebirge Schwäbische Alb. Aber da ist noch etwas ganz Grundsätzliches im Buch, das bei der Lektüre sich nach und nach entfaltet: die Freude an der Linie und an der Fläche, die Aufmerksamkeit für das Horizontale. Röhnert bemerkt im Zug die Sitzbezüge mit dem „gelben württembergischen Wappentier“, die Aufschrift auf einem Holztor (und überhaupt schriftliche Angaben im Zug wie „Jena Paradies“) bis hin zu den platten Maisfeldern in Kärnten und zu den Fußabdrücken von Dinosauriern in den Cevennen. Beim Blautopf, dieser berühmten Topfquelle in der Nähe von Ulm, verlockt ihn so stark die pure Oberfläche, dass ihm Goethes Wort über die Farbe Blau („ein reizendes Nichts“) einfällt. Einmal sagt Röhnert, sein Wandern sei ein Lesen. Sehr oft gibt es Blicke von oben oder schräg oben auf Gleise, Flussläufe, Straßen; und „Autobahn“ ist, sehe ich recht, das häufigste Wort im Buch.

Diese Konzentration auf das Flache und die Fläche, also diese Hinwendung zum Zweidimensionalen, gibt dem Werk den Zuschnitt der Abstraktheit. Der Leser darf ausruhen nach dem Beobachten der geologisch-kulturell-wanderfreudigen Erzählvielfalt. Er darf sich, so das Angebot des Erzählers, immer wieder in die Klarheit und die geometrische Kargheit zurückziehen. Jan Röhnerts Buch lebt aus einem kühnen Erzählerverhalten. Und diesbezüglich am kühnsten – und dabei höchst instruktiv – erscheint mir die Passage, wo Röhnert die Archäologie, also das behutsame Eindringen in die Tiefe, mit dem Dichten gleichsetzt: So wie „tausend Scherben“ ausgegraben werden und man dann die ursprüngliche Form des Gegenstandes erkenne, so wolle der Dichter der im Alltag deformierten Sprache „ihre ursprüngliche Ganzheit und Schönheit zurückerstatten“.

Titelbild

Jan Röhnert: Karstwärts.
kul-ja! publishing, Erfurt 2024.
230 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783949260216

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