Eintauchen in Jahrhunderte

Die Historikerin Emmanuelle Loyer legt eine meisterhafte Biografie über den Ethnologen Claude Lévi-Strauss vor

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schlägt man die wuchtige Biografie auf, die die französische Historikerin Emmanuelle Loyer im Jahr 2015 bei Flammarion vorgelegt hat und die nun in deutscher Übertragung von Eva Moldenhauer bei Suhrkamp erschienen ist, trifft den Leser noch vor Textbeginn der Blick des Protagonisten dieser über tausendseitigen Lebensbeschreibung: Claude Lévi-Strauss, Doyen der französischen Ethnologie, weißhaarig, mit wachem, freundlichem Blick, den Mund leicht geöffnet, als wäre er gerade im Begriff, einen Gedanken zu äußern, steht, leger gekleidet, auf einer Wiese in Lignerolles, die im Hintergrund an ein Waldstück grenzt. Das Besondere an dieser von der deutschen Schriftstellerin und Illustratorin Anita Albus aufgenommenen Fotografie ist eine Dohle, die auf Lévi-Strauss’ rechter Schulter sitzt, als wäre es ganz selbstverständlich, die vermeintliche Grenze zwischen Mensch und Tier zu überschreiten.

Die Dohle, die nicht nur für ihre Geselligkeit und Intelligenz bekannt ist, steht auch für Geschwätzigkeit, ein Charakterzug, der ihrem menschlichen Partner gänzlich fehlte: „Man macht sich keine Vorstellung mehr von diesem Schweigen“, so Albus in einem Gespräch am 4. Februar 2011 mit Emmanuelle Loyer über Lévi-Strauss’ Wortkargheit. Und dennoch: „Der Denker“, schreibt Loyer am Ende ihrer Einführung,

den man häufig auf den Denker des unverbrüchlichen Gegensatzes zwischen Natur und Kultur reduzierte, hat sich im Laufe seines Weges weiterentwickelt, um in seinem Leben wie in seinem Werk die Lektion der Einbeziehung der amerindianischen Mythen zu erfahren, die, erinnern wir uns, für den Ethnologen, aber auch für die Indianer selbst, Geschichten aus einer Zeit sind, in der die Menschen und die Tiere einander verstanden.

Während der Wunsch, mit Vögeln zu sprechen, die humanistische Weltsicht von Lévi-Strauss zum Ausdruck bringt, sind es Pflanzen, die sein Denken wesentlich verändern. Im Alter von 31 Jahren widerfährt dem aus Brasilien zurückgekehrten „autodidaktischen Ethnologen“ die „Lektion des Löwenzahns“: Als Soldat in den Ardennen – eine Zeit „der Untätigkeit, des Wartens, des Unverständnisses und der Absurdität“ – flaniert Lévi-Strauss durch die Landschaft, als ihm auf einer Wiese Blumen auffallen. Er sinniert:

Wie ihr Geheimnis ergründen? Man kann sagen, dass ihre Form vollkommen ist, aber wird sie dadurch verständlicher? Ein einziger Ausweg: den Löwenzahn mit anderen Blumen konfrontieren, ihn vergleichen, ihn diesen so gegenüberstellen, dass man ihm in dieser Reihe von Ähnlichkeiten und Unterschieden, die das Pflanzenreich ausmachen, einen Rang zuweisen kann.

Es sei dahingestellt, ob dieser vertrauliche Bericht über die intuitive Anwendung der strukturalistischen Methode, den der Journalist Gilles Lapouge am 26. Mai 1973 in Le Monde veröffentlicht, der Wahrheit entspricht; was er jedoch zeigt, ist das vielleicht wesentliche Merkmal des Lévi-Strauss’schen Lebens, Denkens und Schreibens: die „Spannung zwischen Kunst und Wissenschaft“.

Interessanterweise treffen sich diese beiden Bereiche bereits in der durchaus ruhmvollen Genealogie, die Loyer in eine beinahe Proust’sche Szenerie taucht: Claude Lévi-Strauss wird am 28. November 1908 in eine künstlerisch begabte Familie geboren; sein Vater sowie zwei Onkel waren Maler, sein Urgroßvater, Isaac Strauss, der „Béranger der Tanzmusik“, war ein berühmter Komponist und Dirigent. Es nimmt also nicht wunder, dass Claude, der am 30. Oktober 2009 im Alter von fast 101 Jahren in Paris sterben sollte, in seinen (wissenschaftlichen) Werken stets der Kunst, der Musik, ja ästhetischen Fragen im Allgemeinen besonders großen Raum zusprach, kulminierend in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch Regarder écouter lire (1993). Dieses „Bündnis zwischen Kunst und Wissenschaft“ ist am stärksten ausgeprägt in den Jahren des Exils zwischen 1941 und 1947, in denen Lévi-Strauss mit André Breton, Max Ernst und Roman Jakobson in New York City lebt. Gerade die Begegnung mit dem russischen Sprachwissenschaftler Jakobson (1896–1982) kann – neben der ethnografischen Feldforschung in Brasilien in den 1930er Jahren, der damit zusammenhängenden Publikation des Bestsellers Tristes tropiques Mitte der 1950er Jahre, dem Aufbau und der Leitung des Laboratoire d’anthropologique sociale (LAS) ab den 1960er Jahren sowie den Reisen nach Kanada und Japan in den 1970er und 1980er Jahren – als bedeutender, wenn nicht sogar als bedeutendster Wendepunkt im Leben und Werk des damals an der New Yorker École libre des hautes études (ELHE) Lehrenden bezeichnet werden; Lévi-Strauss selbst spricht von einer „Erleuchtung“: „Ich praktizierte Strukturalismus, ohne es zu wissen. Jakobson hat mir die Existenz eines bereits in einer anderen Disziplin aufgestellten Korpus von Lehren eröffnet: der Linguistik, die ich nie betrieben hatte.“ Hier, in der pulsierenden Metropole am Hudson River, fern von Heimat und Muttersprache, übernimmt Lévi-Strauss mit neuem Namen („Claude L. Strauss“, um Verwechslungen mit dem gleichlautenden Erfinder der Jeans vorzubeugen) auch ein neues Denken, das fortan unauslöschlich mit seiner Person assoziiert werden wird: das strukturalistische Paradigma. Lévi-Strauss verwendet den Struktur-Begriff zum ersten Mal in einem Brief an seinen Doktorvater Paul Rivet vom 6. Dezember 1943. Wie man diesem entnehmen kann (er ist als Faksimile abgedruckt), hat der Verfasser „structures“ handschriftlich eingefügt, nachdem er den Begriff „secteurs“ durchgestrichen hatte. Loyer konstatiert: „Der anthropologische Strukturalismus ist das intellektuelle Ergebnis des transatlantischen Exils; sein Universalismus bringt eine der großen Hoffnungen der Nachkriegszeit zum Ausdruck.“

In diesem Großkapitel der „neuen Welt“ – Emmanuelle Loyer hat ihre Biografie in vier Abschnitte gegliedert, die sie „Die Hinterwelten (…–1935)“, „Die neuen Welten (1935–1947)“, „Die alte Welt (1947–1971)“ und schlicht „Die Welt (1971–2009)“ nennt – merkt man die Souveränität und Gelehrsamkeit der Autorin, die wohl aus ihrer ebenfalls preisgekrönten, 2005 veröffentlichten Studie Paris à New York. Intellectuels et artistes français en exil, 19401947 gespeist wird. Doch auch in vielen anderen Passagen erfährt der Leser Interessantes, Neues und auch Unterhaltsames. Einerseits wird das intellektuelle Umfeld Claude Lévi-Strauss’ beleuchtet, andererseits weiß Loyer mit (immer diskreten) Anekdoten und Informationen aus dem (Privat-)Leben des schweigsamen Ethnologen den manchmal recht anspruchsvollen Diskurs ihres Buches aufzulockern. So erfährt man etwa, dass Lévi-Strauss 1,79 Meter groß war, dass er 1933 durch die Führerscheinprüfung fiel, dass er ein leidenschaftlicher Leser von Kriminalromanen war, dass er in New York City die Chinesische Oper mit Albert Camus besuchte, dass Franz Boas 1942 direkt neben ihm starb, dass Igor Strawinsky auf ihn „den Eindruck einer pedantischen und ängstlichen russischen alten Dame machte“, dass er mit Jacques Lacan in dessen Citroën DS zu „sehr lustig[en]“ Expeditionen aufbrach, dass er in alten Kochbüchern in der New York Public Library „absolut sensationelle aphrodisische Rezepte“ fand, dass er einerseits gern Tabak schnupfte, andererseits mit zwei bis drei Päckchen täglich auch ein starker Raucher war, dass er sich sarkastisch, ja geradezu grausam gegenüber Roland Barthes’ literarischem Strukturalismus äußerte, dass er den Humor der US-amerikanischen Fernsehserie The Sopranos mochte, dass er Max Ernst einen Kriegshelm abgekauft hat, nachdem dieser sich von Peggy Guggenheim getrennt hatte und knapp bei Kasse war, dass er dazu neigte, ohnmächtig umzukippen, dass er Bücher von Michel Houellebecq schätzte oder dass er sich wünschte, dass es bei seiner Beerdigung regnen würde, damit die Trauernden möglichst formlos in Plastikstiefeln erscheinen würden.

All diese kleinen privaten Mosaiksteinchen fügt Loyer sprachlich elegant und gut dosiert in die „biographische Dyade, Werk und Leben“ ein. Sie stellt die Arbeiten des Ethnologen von Les Structures élémentaires de la parenté (1948) dar, über die vier kolossalen, „813 Mythen und etwa tausend Varianten“ umfassenden Bände der Mythologiques (1964–1971) bis hin zum postum publizierten Nous sommes tous des cannibales (2013), eine Sammlung von Artikeln, die Lévi-Strauss zwischen 1989 und 2000 für die italienische Tageszeitung La Repubblica geschrieben hat. Darüber hinaus dokumentiert sie die Reaktionen von Presse und Wissenschaft, die die jeweiligen Publikationen hervorgerufen haben. An vielen Stellen hätte man sich ein genaueres Lektorat gewünscht, etwa wenn orthografische und grammatische Flüchtigkeitsfehler den Lesefluss behindern, Jahreszahlen schlicht falsch sind, oder – was hinsichtlich des Sujets besonders ärgerlich ist – dem Namen des Ethnologen dutzendfach der Accent aigu verwehrt wird. Diese formale, sich auf die deutsche Ausgabe beziehende Kritik verblasst jedoch vor der großen Leistung der 1968 geborenen und derzeit an der Grande École Sciences Po in Paris lehrenden Loyer, für die sie im Jahre 2015 den Prix Femina essai erhielt. Ihre reich bebilderte, minutiös recherchierte, an einigen Stellen zu sehr ins Detail institutioneller Abläufe gehende Studie fußt – natürlich neben dem kompletten Werk des Strukturalisten – einerseits auf Zeitungs- und TV-Interviews sowie Memoiren von Lévi-Strauss (ausgiebig zitiert Loyer aus den 1988 erschienenen Gesprächen mit Didier Eribon: De près et de loin), andererseits zieht sie vorangegangene Monografien, Essays und Aufsätze heran. In den ersten zwei Dritteln ihrer Lebensbeschreibung rekurriert sie oft auf die 2010 veröffentlichte, erheblich kürzere, doch auch kritischere Biografie von Patrick Wilcken, deren Untertitel The Poet in the Laboratory auf die beiden dominanten Sphären im Werk und Leben des französischen Ethnologen hinweist. Worin Loyers Buch jedoch alle anderen Studien übertrifft, ist die Auswertung und Verarbeitung unveröffentlichten Archivmaterials – Lévi-Strauss vermachte der Bibliothèque nationale de France ein Korpus von 261 Kästen –, privater Briefwechsel sowie persönlicher Gespräche mit seiner dritten Ehefrau Monique, seinem Sohn Matthieu, ja sogar mit Watanabe Yasu, der Übersetzerin, die Lévi-Strauss auf dessen fünf Reisen nach Japan zwischen 1977 und 1988 zur Seite stand.

Als der Playboy im September 1969 einen Artikel zu The Raw and the Cooked veröffentlicht, schreibt Lévi-Strauss dem Magazin einen Brief, in dem es unter anderem heißt: „Mit anderen Worten, man kann das Verhalten eines Lebewesens gleich welcher Art nicht untersuchen, ohne zuerst seine Anatomie zu kennen. Die Tatsache, dass die Anatomie eine Vorbedingung ist, dürfte einen Playboy-Leser nicht überraschen.“ Emmanuelle Loyer hat eine faszinierende Intellektuellen-Anatomie gezeichnet, die die ‚Zergliederung‘ eines Mannes zeigt, der auf zutiefst originelle Weise kein Mann seiner Zeit war, der sich stets fremd in der Gegenwart fühlte und der als „Verkörperung der modernen Wissenschaft auch Teil einer alten gelehrten Tradition [war], die ganz in der Welt der Literatur wurzelt“. Und so hat man am Ende dieser Biografie das Gefühl, als wäre man nicht in ein Leben und ein Jahrhundert eingetaucht, sondern als wäre man Zeuge vieler Leben in vielen Jahrhunderten und vielen Welten geworden.

Titelbild

Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss. Eine Biographie.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
1088 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427705

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