Der Traum vom motorisierten chinesischen Arbeiterstaat

Ralf Ruckus übersetzt Zhang Lus Forschung in Chinas Autofabriken

Von Astrid LipinskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Astrid Lipinsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich lebe ganz gut ohne Auto in Wien. Wenn also Zhang Lu über 400 Seiten über die Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken schreibt – soll mich das interessieren? Es wird schnell klar, warum die Autorin gerade diese Branche ausgewählt hat, um die Arbeiterschaft in China darzustellen: Erstens, und das hätte ich nicht vermutet, hat die Autoproduktion in China für die chinesische Regierung und die Partei einen Stellenwert, wie er in seinem extremen Ausmaß nur mit Deutschland vergleichbar ist. Zweitens gibt es im Autosektor sowohl Staatsbetriebe als auch Joint Ventures, und die Wahl der Branche gibt Zhang ein geeignetes Beispiel an die Hand, mit dem sie den Einfluss von Staat und ausländischen Investoren – auch deutschen – vergleichen  kann. Drittens, was ich auch nicht wusste und bei Zhang Lu gelernt habe, haben die Arbeiter in der chinesischen Autoindustrie – wie in Deutschland – einen besonderen, herausgehobenen Stellenwert gegenüber Arbeitern in anderen Branchen. Deshalb hat ein Streik bei den Autofirmen auch in China Leitwirkung für andere Branchen.

Außerdem gilt, was Zhang Lu zu den Autos schreibt, für andere Branchen genauso und ist vor allem aktuell in allen beschriebenen Facetten. Ein Beleg findet sich in einem Bericht aus China vom 17. August, also vor wenigen Wochen. Darin schreiben die Autoren, dass sich die einzig erlaubte Einheitsgewerkschaft der Kommunistischen Partei immer noch nicht für Arbeiterinteressen einsetzt, und dass deshalb der Wunsch, eine echte Gewerkschaft zu gründen, nach wie vor präsent ist. Inzwischen ist das noch gefährlicher als unter Mao: Allein für den Versuch wird man eingesperrt oder „verschwindet“ – eine übliche Strafe in China ohne Urteil oder Gericht, bei der Personen einfach zum Verschwinden gebracht werden: Zielort und Dauer unbekannt.

Das Buch gehört zu einer Reihe von drei Bänden, die Ralf Ruckus aus dem Englischen übersetzt hat: Auf Hao Ren Streiks im Perlflussdelta: ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken (2014) und Pun Ngai iSlaves: Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken (2015) folgt jetzt Zhang Lus Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken. Die Vorgängerbände haben bereits eine einzige Region (Hao Ren) beziehungsweise eine einzige Branche, den IT-Sektor (Pun Ngai) behandelt. Zhang Lu bleibt bei der einen Branche (Automobil), weitet aber den Blick bewusst aus auf Gesamtchina (und innerchinesische Unterschiede) und geht bei der Analyse über die Firma Foxconn bei Pun Ngai hinaus. Anders als im IT-Sektor sind traditionelle sozialistische Staatsunternehmen in der Autoproduktion vertreten und bei Joint Ventures wichtig und deshalb ein gegenüber Hao Ren und Pun Ngai zentraler und spezifischer Teil der Untersuchung von Zhang Lu.

Ruckus ordnet das Buch in seinem Vorwort in das Forschungsfeld zu Chinas Arbeiterbewegungen ein und unterstreicht angesichts neuerer Entwicklungen die Bedeutung, die Zhang Lus Feldforschung (2004, 2006 und 2010) bis heute hat. Insbesondere – für den deutschen Leser von Interesse – beschreibt er den Arbeitskampf für mehr Lohn bei dem chinesisch-deutschen Joint Venture FAW-Volkswagen in Changchun 2016 bis 2017, der von der Gewerkschaft in Deutschland weder unterstützt noch wenigstens beachtet wurde. Dazu stellt Ruckus eine ausführliche Liste von weiterführenden Nachweisen und Lesetipps zur Verfügung.

Zhang Lus Text ist besonders aus zwei Gründen von Interesse für den Leser ohne jegliches Interesse an der Autoindustrie: Erstens, weil das Buch als Studie über Feldforschung in China gelesen werden kann, für die das Thema Autoproduktion nur ein Beispiel ist. Die Feldforschung vor Ort – in den Fabriken – und eine große Anzahl von Interviews sind das Rückgrat der Untersuchung. Die Autorin beschreibt sehr ehrlich die Erfahrung, die viele Interessierte in China machen: Es ist nicht so einfach, in eine Fabrik zu kommen – das bewirken schon die üblichen schwer bewachten Eingangstore. Zhang Lu gibt zu, dass ihr der jeweils einen Monat lange Aufenthalt in einer Fabrik nur aufgrund von Beziehungen und unter Vortäuschung eines lobenden Berichts anstelle der tatsächlich geplanten kritischen Analyse gelang. Die Personen, die man für den Zugang zu einer chinesischen Fabrik braucht, sind jeweils der Sekretär der lokalen Parteizelle und der für die Produktion zuständige Betriebsleiter. Entscheidend ist der Kontakt zur China allein beherrschenden Kommunistischen Partei, beziehungsweise ihrem Vertreter. Die Legitimität der Partei seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen 1978 beruht ausschliesslich auf der Garantie von kontinuierlichem Wirtschaftswachstum, von dem jeder profitieren kann. Wer nicht reich wird, ist ein Einzelfall und selbst schuld. Wenn aus den Einzelnen eine Vielzahl wird, kommt es, wie Zhang Lu zeigt, zu Protesten. Sie weist nach, dass das staatlich geförderte System einer Aufteilung in Festangestellte mit hohen Gehältern und weiteren, aus der sozialistischen Arbeits-Einheit bekannten Vergünstigungen vom Theaterticket bis zur medizinischen Komplettversorgung und schlecht bezahlten Leiharbeitern mit kurzfristigen Verträgen, die aber nebeneinander am selben Fließband arbeiten, bei den Leiharbeitern zwangsläufig zu Protesten führt. Deren Zahl nimmt zu, seitdem die Wirtschaft nicht mehr wächst wie sie soll. Auch Studierte sind von Arbeitslosigkeit und Knebelverträgen betroffen, unterstützen die Proteste aktiv und propagieren sie in den sozialen Medien.

Zhang Lu nutzt für den Zugang zur Fabrik die Vorstellung durch Verwandte und die eigene chinesische Ethnizität. Sie möchte zu den Arbeitern ans Fließband, aber das gelingt ihr bei keinem ihrer Fabrikaufenthalte. Dafür stellen sie die Arbeiter, die sie in der ersten Fabrik kennenlernt, den Arbeitern in der nächsten vor. „Vorstellen“ bedeutet zu beweisen, dass sie nicht von den Chefs geschickt wurde, keine Berichte für sie schreibt und sich für die Arbeiter und ihre Geschichten wirklich interessiert.

Für alle feldforschenden Leser, die nach der richtigen Methode des Protokollierens suchen: Zhang Lu nimmt vom Aufnahmegerät letztlich Abstand, nachdem sie gemerkt hat, dass es die Interviewten verunsichert und verstört. Ihr Aufnahmegerät kommt nur noch bei den öffentlichen Ansprachen der Chefs zum Einsatz.

Außerdem nimmt sie weder der chinesischen Führung noch zahlreichen westlichen Experten die Existenz einer „Marktwirtschaft“ in China ab. Stattdessen belegt sie ausführlich, dass nach wie vor Staat und Partei entscheiden „und es nicht um die Einführung einer liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung als solcher“ geht. Die „Marktwirtschaft mit chinesischen Charakteristika“ hat Besonderheiten wie zum Beispiel die als Vollzeitarbeiter auf Dauer ausgebeuteten unbezahlten „Praktikanten“.

Dem Staat, vertreten durch die Kommunistische Partei, kommt in China im Unterschied zu anderen Ländern eine entscheidende Bedeutung zu, was Zhang Lu verdeutlicht, indem sie dem Staat und seinem Interesse ein ganzes von insgesamt nur sieben Kapiteln (nebst Nachwort) widmet.

Wenn man Zhang Lu (von 2010) heute unter Xi Jinping liest, kann man nur zum Schluss kommen, dass das, was sie an Konflikten kritisch beschreibt, nicht besser geworden ist. Die Knackpunkte, die sie identifiziert, bestehen nach wie vor, denn im Grunde steht dahinter „die“ Partei, die sich jeglichem Wandel sperrt. Heute würde wahrscheinlich auch die Autorin nicht mehr in die Fabriken kommen. Sie gibt den Arbeitern eine Stimme, die heute aus China nicht mehr gehört werden kann. Jede der Lebensgeschichten, die sie aufzeichnet, ist die Lektüre wert. Das Buch sollte vorbereitende Pflicht sein, bevor Gewerkschaftsdelegationen zum „Austausch“ nach China reisen.

Titelbild

Zhang Lu: Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken.
Herausgegeben von Ralf Ruckus.
Mandelbaum Verlag, Wien 2018.
435 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783854766735

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