Der große Reformator und die vielen kleinen Lutherfiguren

Matthias Luserke-Jaquis Buch „Ein Nachtigall die waget“ als Auseinandersetzung mit dem Nachleben des großen Reformators in der Literaturgeschichte

Von Michael PenzoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Penzold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Luther – streitbar in der Sache, unbestritten nachhaltig in seiner Wirkung: ein Mensch, der gleichermaßen unbeugsam und nachdenklich ist, der nach einer dramatischen Rettungsaktion auf der Wartburg „untertaucht“, zum Verfasser polemischer Traktate, theologisch-argumentativer Texte wird und zugleich meisterhafter Übersetzer und Dichter ist. In allem scheint er auch als Identifikationsfigur eines national verwurzelten Protestantismus historisch hoch wirksam. Und das, obwohl er in seiner zweiten Lebensphase zum Zuschauer verdammt ist. Er bleibt dann Reformer und Kirchenmann ohne weitere spektakuläre Auftritte auf der „großen“ Bühne der Geschichte, die die erste Hälfte seines Lebens so prägten. So erfolgreich war er, dass die Verbreitung seiner 95 Thesen im Jahre 1517 noch fünfhundert Jahre später zu einem groß angelegten Reformationsjubiläum führen soll. Ein paar nicht mal historische Hammerschläge an die Schlosskirche zu Wittenberg und ihr meta-epochales Echo.

Aus einer solchen Gestalt wie diesem Martin Luther müsste sich doch literarisch was machen lassen, oder? Das gibt doch bestimmt was her, für einen Roman, ein Drama, einen Film. So einfach, wie das klingt, ist die Sache aber bereits seit 500 Jahren nicht. Lässt sich aber aus allem, was man über Luther und seinen Folgen weiß, eine Art verbindliche kulturelle und epochenspezifische literarische Identifikationsfigur Luther schneidern? Unter dem Vorzeichen dieser Frage steht die Lektüre von Mathias Luserke-Jaquis gründlicher und gut zu lesender Monographie „Ein Nachtigall die waget. Luther und die Literatur“. Er zeigt in seinem Buch, dass es durchaus in einigen Fällen gelungen ist, die Figur Luther einigermaßen anspruchsvoll literarisch zu bearbeiten und über die Jahrhunderte hinweg immer wieder neu zu beleben, zu deuten und sogar zu besingen. Und dennoch bleibt klar, dass dies der Literatur oft auch gar nicht so gut gelingen will, dass ein Klischee oder ein Typus Luther übrig bleibt, wo man mehr hätte erwarten können. Man fragt sich dann bei der Lektüre von Luserke-Jaquis Buch doch auch: Ist es möglich, dass eine biographisch halbwegs profilierte Person Gegenstand eines Dramas oder Figur eines Romans werden kann und eine andere, vielleicht bedeutendere, interessantere und profiliertere wie Luther eben nicht? Und, wie das im Falle Luther nahe zu liegen scheint: Gibt es auch ein Sowohl-als-Auch, als stofflich höchst verwertbar letztlich kaum zu gebrauchen? Simul justus et peccator – „simul“ literarisch interessant „et“ ungeeignet? Und dennoch: Warum klappt das meistens so überraschend schlecht mit der literarischen Figur Luther und so manchmal doch so unvorhersehbar gut?

Der Literaturwissenschaftler Matthias Luserke-Jaqui geht in dieser schwierigen literaturgeschichtlichen Situation einen historischen Weg. Der Aufbau seiner Monographie birgt deswegen auch keine Überraschungen. Grundsolide wird einem literaturgeschichtlichen Schema Referenz erwiesen, das auf die Besprechung von zwischen „Bekenntnis und Verachtung“ schwankenden, humanistisch-reformatorischen und barocken literarischen Texten über Luther dann eher aufklärerische Werke vorstellt, die das „neue Luther-Bild im 18. Jahrhundert“ manifest werden lassen. Auch im 19. Jahrhundert macht der Autor eine Dichotomie der literarischen Rezeption aus, die nun allerdings „zwischen Hymnik und Trivialisierung“ pendelt, während er dann in der Moderne erneut ein Luther- Bild ausmacht, das, wie alles Moderne letztlich auf dem Aufklärerischen fußend, einen oder mehrere spielerisch-kritisch-reflexive Luther-Varianten erscheinen lässt. Chronologie als Suchmuster: das gelingt hier. Was der Autor jedenfalls so alles aufspürt, ist schon grandios. Selbst geübte Leserinnen und Leser werden die Existenz der meisten von Luserke-Jacqui ans Licht gebrachten Texte zuvor geahnt haben. Doch zusammen mit dem Autor lässt mach sich dann gerne, auf die meisten sehr gerne, ein. So zum Beispiel auf den noch relativ gut bekannten Text Die Wittenbergisch Nachtigall von Hans Sachs und das ebenfalls im Anhang des Buches abgedruckte Luther-Fragment Hölderlins, zu dem man übrigens gerne etwas mehr erfahren hätte. Besonders lesenswert ist unter anderem der Verriss des romantischen Erfolgsdramas Martin Luther oder die Weihe der Kraft von Zacharias Werner und dessen Rezeption.

Besonders eindrücklich aber – und quasi die argumentative Schaltzentrale des Buches – ist die Interpretation von Jochen Kleppers fragmentarischem Roman mit dem Titel Die Flucht der Katharina von Bora. Klepper scheint – trotz aller vom Autor klar gesehenen Schwächen des Textes – immerhin einem wirklich großen Luther-Roman auf der Spur gewesen zu sein. Luserke-Jaqui erschließt sich den Zugang dazu über eine konsequent erfasste Intertextualität. Ferner sieht er deutlich, wie sich hier der hochproblematische Lebenskontext Kleppers im Dritten Reich in ein Romanfragment einschreibt, das die Figur Luther nicht ungebrochen fokussiert, sondern sie in und mit der Gestalt seiner Frau Katharina von Bora interessant werden lässt. Dass dann Thorsten Becker im Jahr 2009 sein Opus Das Ewige Haus als Roman über den unfertigen Roman und seinen Autor erscheinen kann, kommt Luserke-Jaquis intertextuellem Ansatz entgegen. Andererseits zweifelt er gerade an den Qualitäten von Beckers zuweilen plakativem, zuweilen langatmigen Versuch der Vervollständigung des Klepper’schen Fragments. Indem er zudem das 1961 erschienene Drama Luther des englischen Autors John Osborne als völlig überladen, psychoanalytisch überformte und sowohl dramatisch als auch historisch gesehen mangelhafte Erscheinung herausarbeitet, gelingt es Luserke-Jacqui, den Komplex Klepper/Becker noch einmal im Kontrast dazu als eine Art lokales Maximum der literarischen Luthervariationen darzustellen. Dieses Vorhaben und der Weg dort hin ist überzeugend und rückt mit dem Klepper-Fragment einen Text in den Mittelpunkt, der lange Zeit eher unterschätzt wurde. Dessen vom Autor überzeugend herausgearbeitete poetische Bedeutung und thematische Relevanz ist gut begründet und sollte auch Anlass genug sein, das ganze Buch Luserke-Jaquis zu studieren.

Doch sollte man sich als Leser dann trotzdem noch einmal fragen, ob die vom Autor vorgeschlagene, sich so ordentlich an literaturgeschichtliche Schemata haltende Reihe von Luther-Adaptionen ganz unhinterfragbar ist. Denn ein Problem des Buches ist es doch, dass der Autor an einem normativen Literaturverständnis orientiert ist. Es ist tief gespurt von der kanonisch gefeierten und durch akademische Leselisten abgesicherten und vielleicht auch deswegen so viel gescholtenen Höhenkammliteratur, die „die Menge der flachen, trivialen Luther-Erzählungen“ und ähnliches, was zur Luther-Folklore gehören könnte, einfach ausklammert. Die Frage ist hier nun nicht, ob und wie die impliziten Qualitätsnormen für nicht-flache Literatur begründbar sind. Fraglich ist, ob es ausreicht, ein solches Literaturverständnis dort aufrecht zu halten, wo das Feld etwas ganz anderes bietet. Denn ohne die kirchlich-theologisch-erbaulichen Gebrauch der Figur Luther und seiner Texte, ohne die frömmigkeitsgeschichtliche und auch ohne die dubiose nationalistische Instrumentalisierung Luthers als Heldenfigur ist eben eine rein literaturgeschichtliche Annäherung an das Thema letztlich ein wenig einseitig. Dies schmälert nicht den Verdienst Luserke-Jaquis, der je letztlich für seinen Überblick eine Auswahl treffen musste und mit seiner Auswahl auch anschlussfähig bleibt. Doch wird deutlich, dass es noch eine andere Form der Ästhetisierung Luthers gibt, wenn man sich etwa durch die zuweilen vorzüglichen Luther-Ausstellungen im Horizont des Lutherjahrs 2017 bewegt. Vielleicht reicht auch schon der Blick etwa in den Katalog der 2012/13 auf der Wartburg und in Eisleben gezeigten Sonderausstellung „Luthers Bildbiografie“, oder in die von Volkmar Joestel und Jutta Strehle verfasste Broschüre „Luthers Bild und Lutherbilder“ zu einem Teil der Dauerausstellung im Wittenberger Lutherhaus, um das kulturwissenschaftlich-ethnographische Defizit Luserke-Jaquis zu illustrieren. Auch der im Oktober 2016 erschienene, von Marcel Nielsen herausgegebene Sammelband Ketzer, Held und Prediger. Martin Luther im Gedächtnis der Deutschen leuchtet dort hin, wohin sich Luserke-Jaquis Blick nicht ablenken lassen will. Umgekehrt aber macht sein Buch auf eine literarische Dimension des Luther-Bildes aufmerksam, wo sich die oft so verdienstvollen und klug komponierten, medialen und museumspädagogisch ambitionierten Lutherdarstellungen ausschweigen. Luther als Filmheld gilt hier als vorzeigbar, Kaffeetässchen mit Lutherportrait, Stickdeckchen mit der eingestickten Inschrift „Ein feste Burg ist unser Gott“ gelten als rezeptionsgeschichtlich erhellend, Luthersocken mit dem Aufdruck „Hier stehe ich und kann nicht anders“ als tragbar – nur: wo bleibt da die Luther-Literatur, die Luserke-Jaqui ins Spiel bringt? Es ist also ein Verdienst des Autors, gerade noch rechtzeitig ein Jahr vor dem Reformationsjubiläum etwas angesprochen zu haben, was kirchengeschichtlich und museal ungenügend rezipiert und reflektiert ist: den literarischen Luther. Durch die Gegenreformation dämonisiert und durch die eigenen Anhänger heroisiert, bleibt er jedoch als entscheidender Begründer der deutschsprachigen Kirchenlieddichtung ebenso präsent wie als klar denkender Theologe, genialer Übersetzer und zielsicher argumentierender Rhetoriker und versierter und einfühlsamer Prediger, aber eben auch als nicht nur gelegentlich polternder Tischredner. Es hätte Luserke-Jaquis Vorhaben sicher noch sinnvoll ergänzt, dies poetologisch ausführlicher zu berücksichtigen, aber auch dieses Buch hat eben nur eine begrenzte Anzahl von Seiten, die der Autor unter anderem zu „sechs Bemerkungen über die Deutung von literarischen und religiösen Texten“ nutzt. Hier hebt er dann vor allem Luthers Leistung hervor, den Literalsinn und seine „Deutbarkeiten“ in den Vordergrund gerückt zu haben. Das ist gut und richtig, es fällt aber bei der weiteren Lektüre auf, dass sich die vom Autor ausgewählten literarischen Produkte kaum mit dieser lutherischen Entdeckung zu befassen scheinen. Dafür kann der Autor natürlich nichts, aber: es hätte auch nicht geschadet, dies weiter zu reflektieren. Interessant bis zum Schluss bleibt jedenfalls die Frage was genau an Luther epochenspezifisch literarisch reizvoll ist. Auch eine genauere theoretische Unterscheidung zwischen literarischen Anspielungen auf lutherisches Gedankengut, auf Motive und Stoffe der Luther-Biographie und zum Beispiel In- oder Postfigurationen Luthers stehen auf dem Wunschzettel des Rezensenten.

Es bleibt aber dabei: das Buch ist höchst lesenswert und hält den Leser und die Leserin bis zum Schluss neugierig, es entfaltet seine interdisziplinäre Strahlkraft im Rahmen des Reformationsjubiläums 2017 auch in der dialektischen Nachbarschaft zu rezeptionsgeschichtlichen Luther-Studien oder neben kirchengeschichtlichen Abrissen sowie als erhellende Begleitlektüre beim Besuch von Jubiläums- und sonstigen Ausstellungen. In diesen Rezeptionszusammenhängen nimmt man das Buch dann auch als einen Text eines Autors wahr der mit dem Buch „Die Nachtigall, die waget“ selbst etwas „waget“: Und mit dem Autor kann hier der Leser auch eine dialektische Auseinandersetzung wagen und so die literaturgeschichtlich-kritische Hinterfragung von historisch und kirchengeschichtlich festgelegten Rezeptionsmechanismen betreiben.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Matthias Luserke-Jaqui: „Ein Nachtigall die waget“. Luther und die Literatur.
Francke Verlag, Tübingen 2016.
240 Seiten, 32,80 EUR.
ISBN-13: 9783772085901

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