Mehr Raum
Der neue Sammelband von Matthias Luserke-Jaqui stellt sich dem Anspruch, die Disability Studies in die Germanistik einzuführen
Von Hartmut Hombrecher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit den Disability Studies hat sich in den letzten drei Jahrzehnten ein Forschungsfeld entwickelt, das sich die – insbesondere kulturwissenschaftliche – Erforschung von Behinderung zum Ziel gesetzt hat. Während die Disability Studies im angloamerikanischen Raum fächerübergreifend längst etabliert sind, werden sie in Deutschland bisher vor allem in den Sozialwissenschaften wahrgenommen und fristen in vielen geisteswissenschaftlichen Bereichen ein Nischendasein. Das gilt unbestreitbar auch für die germanistische Literaturwissenschaft, in der zwar immer wieder Forschung zu Fragen von Behinderung angestellt wurde, doch häufig die kulturelle Konstruktion von Behinderung wenig beachtet wurde und auch der dezidiert aktivistische Bezugsrahmen der Disability Studies bisher keine Bedeutung gespielt hat. Gerade aus diesem aktivistischen Anspruch und dem Anliegen, Menschen mit Behinderung aus einer vermeintlichen Sonder- und Randstellung in die diskursive Mitte zu holen, ergibt sich auch der häufig vertretene Anspruch, als eigene Disziplin aufzutreten. Eine breite Aufnahme der Disability Studies in der Germanistik möchte nun ein Band erreichen, dessen Beiträge „dazu anregen [wollen], dass eine disziplinäre und transdisziplinäre Debatte in der Literaturwissenschaft Fahrt aufnimmt, und die Disability Studies als eigenes methodisches Profil erkannt werden“. Das begrüßenswerte Ziel soll mit vier Beiträgen verwirklicht werden, die, dem Anspruch der Disability Studies entsprechend, Wissenschaft und Aktivismus miteinander kombinieren. Im Sinne einer demokratischen Wissenschaft, die versteht, dass sie selbst als Teil von gesellschaftlichen Prozessen und Machtstrukturen wirkt, ist das gerade im deutschsprachigen Raum eine wichtige und noch immer zu selten vertretene Perspektive. Leider gelingt es den einzelnen Beiträgen nicht immer, den vertretenen Anspruch einzulösen.
Das zeigt sich insbesondere an dem – nach einem drittelseitigen Vorwort des Herausgebers – einleitenden Beitrag von Anna-Rebecca Nowicki, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Herausforderungen und Chancen sich bieten, wenn die Germanistik ihr Organon um Perspektiven der Disability Studies erweitert. Nowicki sieht vor allem die Möglichkeit für das Fach, auch stark beforschte Texte in neuem Licht zu betrachten, wenn man sie darauf befragt, „welche Rolle die Darstellung von Behinderung innerhalb der narrativen Strategie und für die intendierte Wirkung des Textes spielt“. Zugleich sei die Verbindung auch für die Disability Studies positiv zu werten, denn an literarischen Texten könne hervorragend gezeigt werden, „dass Behinderung […] ein kulturelles Konstrukt ist und keine objektiv gegebene wissenschaftlich-medizinische Tatsache“. Texte könnten zudem auf ihre ‚Authentizität‘ befragt werden, wobei Nowicki darauf hinweist, dass Behinderung als kulturelles Konstrukt einem historischen Wandel unterliegt. Dass dieser Wandel es nahezu unmöglich macht, historische Texte mit Blick auf die schon für die Gegenwart schwierige Kategorie der Authentizität zu erschließen, lässt sie dabei aus. Dass die Chancen aber ungenutzt blieben und der Umgang der Germanistik mit der Darstellung von Behinderung in der Literatur auch sprachlich undifferenziert bis diskriminierend sei, skizziert Nowicki an zahlreichen Einzelbeispielen. Die Stoßrichtung dieser Kritik ist sicher nicht verkehrt, doch ist es bedauerlich, dass die Verfasserin dabei nur einzelne Worte aus den kritisierten Forschungsbeiträgen zitiert. Wenn sie anschließend im Rahmen einer Deutung von Adalbert Stifters Turmalin doch ausführlicher auf einzelne Beiträge eingeht, unterlaufen dabei nicht selten Kategorienfehler. So mag man etwa die beanstandete Deutung von Micaela Latini, dass das Mädchen in Stifters Erzählung monströse Züge aufweise, durchaus hinterfragen. Der Umstand, dass der Text selbst den Begriff ‚Monster‘ nicht verwendet, was von Latini natürlich nicht in Abrede gestellt wird, ist nur ein dünnes Argument dagegen, dass dennoch ein Konzept des Monströsen in ihn einspielen könnte. Ebenso ist es keinesfalls ausgeschlossen, dass in der – zumal historischen – Erzählung das Monströse noch vorhanden ist, obwohl es zur Entstehungszeit des Textes für aktuale Ereignisse bereits abgelehnt wurde. Wesentlich mag sein, dass Nowicki den fiktionalen Charakter der thematisierten literarischen Werke nicht berücksichtigt, wenn sie etwa davon ausgeht, dass die literarischen Texte wie historische Quellen Auskunft darüber geben könnten, „wie Menschen mit Behinderung zu unterschiedlichen Zeiten lebten, welchen gesellschaftlichen Reaktionen sie begegneten und wie weit ihre Handlungsmacht ausgebaut war“. Sekundär lässt sich davon sicher manches aus fiktionalen Texten erschließen, doch ist eine literarische Figur eben keine „Person“ oder ein „Individuum“ und kann deshalb auch nicht „entmenschlicht“ werden. Entsprechend ist auch Nowickis Position, dass die Germanistik in eine „semiotische Falle“ tappe und sich einem „opportunistischen Interpretationsdrang“ hingebe, zu kurzgreifend: Selbstverständlich ist es eine legitime Frage, wie Behinderung in literarischen Texten konstruiert wird, wie Menschen mit Behinderungen in literarischen Texten repräsentiert sind und welcher historische Wandel für diese Bereiche zu konstatieren ist. Dazu gehören auch die Frage nach diskriminierender Sprache und der Umgang mit entsprechenden Befunden in der Forschung. Nichtsdestotrotz könnte eine literarische Figur – im Gegensatz zu einer Person – eben immer auch andere Eigenschaften haben, als sie hat. Dieser Umstand lässt im Rahmen hermeneutischer Interpretationen die Frage zu, wieso sie denn genau diese Eigenschaften hat, wieso etwa in Turmalin das große Haupt des Mädchens mehrfach erwähnt wird und am Ende kleiner wird. Statt in einem Entweder-Oder hermeneutische Interpretationen zu verdammen und den Methodenpluralismus einzuschränken, wäre es vorzuziehen, das Spektrum der Fragestellungen zu erweitern. Dabei zeigt Nowickis Beitrag zusätzlich, dass die Literaturwissenschaft auch mit dem Blick der Disability Studies nicht auf präzise Textarbeit verzichten sollte, denn die eigene Interpretation der Verfasserin entbehrt jeglicher Grundlage: Die Frau in Stifters Erzählung, die sich des Mädchens annimmt, ignoriere dessen Bedürfnisse und handle nicht altruistisch, sondern aus Neugier und zur Bestätigung des bürgerlichen Selbstbilds. Angeführt werden können für diese als „genauere Analyse“ eingeführte These allerdings nur der Hinweis, dass man sich ‚zufrieden‘ schlafen lege, und der subjektive Eindruck, den Eve Mason in einem 1977 publizierten Aufsatz zur Erzählung formuliert. Nicht berücksichtigt dagegen werden der Aufwand und die Intensität, mit der sich die Frau und ihr Ehemann dem Mädchen widmen, die ausdrücklich geschilderten Versuche, dem Mädchen seine Wünsche zu erfüllen, das Mitleid, das empfunden wird, und insbesondere auch die Einbettung des Textes in Stifters Bunte Steine, in dessen Vorwort er explizit auf eine auf Gerechtigkeit und Sitte bauende Zwischenmenschlichkeit referiert. Selbst das zufriedene Zubettgehen, das Nowicki als Ausdruck dafür liest, dass die Frau sich „in ihrer Position als hilfreiche und gemeinnützige Wohltäterin vor anderen Mitgliedern des Bürgertums profilieren“ konnte, taugt nicht als Argument. Anders als der Beitrag suggeriert, findet es nämlich keinesfalls statt, nachdem mehrere Briefe und Hilfsgesuche verschickt wurden, sondern nachdem positive Rückmeldungen auf die Bitten eingegangen sind. Solche Ungenauigkeiten sind ebenso vermeidbar wie ärgerlich, denn sie erweisen dem Vorhaben, die Disability Studies in der Germanistik populärer zu machen, letztlich einen Bärendienst.
Dass es bei der Textanalyse auch anders geht, zeigt dagegen der Beitrag von Grit Dommes, der sich mit Behinderung als Thema deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt. Er zeigt am Beispiel von Johanna Spyris Heidi, Peter Härtlings Das war der Hirbel, Max von der Grüns Vorstadtkrokodile und Andreas Steinhöfels Rico-Oskar-Romanen Entwicklungen auf, die darauf hindeuten, dass es in der Kinder- und Jugendliteratur einen Wechsel von der Darstellung behinderter Figuren als heilungs- und fürsorgebedürftiger Objekte zu einer Konzeption als selbstbestimmte Subjekte gegeben hat. Dabei werden immer wieder aufschlussreiche Beobachtungen zu Einzelstellen mitgeteilt, in denen das utopische Potential der Literatur aufscheint. Wenn auch die Sprünge groß sind und leider eine Zusammenführung der Einzelergebnisse ausbleibt, plausibilisiert Dommes insbesondere für die Romane Steinhöfels, wie komplexe Figurenarrangements die Konstruktion von Normalität hinterfragen können. Das ist letztlich allerdings eine Variation von bereits in der Forschung vertretenen Positionen, die insbesondere durch Ingeborg Reese formuliert wurden (vgl. Reese 2007). Überhaupt scheint es Dommes leider entgangen zu sein, dass es im Bereich der Kinder- und Jugendliteraturforschung zahlreiche einschlägige Vorarbeiten gibt. Anstatt diese aufzunehmen, wird fast ausschließlich auf Beiträge aus Reiner Wilds Einführungswerk Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur verwiesen. Die Auseinandersetzung mit der Darstellung von Behinderung in Heidi findet schon seit den 1980er Jahren statt, wo Zimmermann die Heilungserzählung explizit als „Heidi-Syndrom“ (Zimmermann 1982: 172) bezeichnet. Diese älteren Forschungsbeiträge um die Perspektive und Termini der Disability Studies zu erweitern, wäre lohnenswert gewesen. Auch hätte ein Bezug auf Gabriele von Glasenapps einschlägigen Beitrag sicher nicht geschadet, denn von Glasenapp analysiert nicht nur die gleichen Texte wie Dommes, sondern zeigt – wenn auch mit anderem Fokus – an einigen Stellen Ähnliches (vgl. Glasenapp 2014: 3–15) . Es bleiben im Beitrag dennoch interessante Beobachtungen, etwa zur Intertextualität, die Dommes zwischen Steinhöfels Romanen und Grass’ Blechtrommel ausmachen kann.
Gegen die beiden ersten Beiträge hebt sich die Analyse von Matthias Luserke-Jaqui positiv ab. Auch dieser Beitrag beginnt damit, zu konstatieren, dass es notwendig sei, awareness zu schaffen. Luserke-Jaqui verlässt das aktivistische Register jedoch recht zügig und nennt eine ganze Reihe von Texten, die potentiell untersuchenswerte Darstellungen von Behinderung in der deutschsprachigen Literatur beinhalten. Die Textauszüge vom 18. bis 20. Jahrhundert machen deutlich, dass Behinderung in der Literatur schon länger ein Thema ist, als mancher vermuten wird, und dass die Darstellung historisch deutlich variiert. Hier scheint zum ersten Mal auch auf, wo wirklich neue Interpretationsansätze liegen könnten, etwa zur Kulturgeschichte des Rollstuhls oder bei Neubetrachtungen hochkanonischer Texte wie Kafkas Verwandlung oder Lessings Laokoon. Luserke-Jaqui selbst widmet sich allerdings Thomas Bernhards Theaterstück Ein Fest für Boris. Der Text lasse sich nicht nur als Parabel auf den gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen lesen. Er gehe über eine solche Anlage hinaus, indem er – wie der Beitrag auch unter Einbezug von Gattungsfragen und aufführungsbezogenen Faktoren zeigt – vermag, „die Überwindung der Binarität von Teilhabe und Mangel, von Suffizienz und Defizienz zu vollziehen, mindestens aber zu markieren“. Bernhards Stück zeige, etwa wenn die im Stück so bezeichneten „Krüppel“ sich in Betten legen, wie Normen und die Anpassung an sie die Kategorien von Suffizienz und Defizienz erst hervorbringen. Indem Luserke-Jaqui an Bernhards Stück damit auch zeigt, wie Behinderung als Dispositiv der Macht zu verstehen ist, kann er die subversive Praxis einer inklusiven Wissenschaft beschreiben und das wissenschaftlich-kritische Potential non-binären Denkens herausstellen.
Etwas unklar ist dagegen die wissenschaftliche oder auch wissenschaftspolitische Bedeutung des letzten Beitrags, in dem sich Lisa Wille mit disziplinären und theoretischen Verbindungen von Disability Studies und Intersektionalitätsforschung auseinandersetzt. Sie referiert größtenteils Grundbegriffe und Diskussionen aus der Forschungsliteratur, wodurch sich einige Redundanzen zum Beitrag von Nowicki ergeben. Die Darstellung dieses Referats ist konzise, liest sich wegen der fehlenden argumentativen Selbstpositionierung zu den Begriffsdebatten allerdings manchmal wie Auszüge aus dem ‚Theoriekapitel‘ einer Doktorarbeit. Erst auf den letzten Seiten kommt Wille zu eigenen Positionen, die sich allerdings nicht mehr mit einer Anwendbarkeit der soziologischen Kategorien für die Literaturwissenschaft beschäftigen. Stattdessen wird eine ausschließlich aktivistische Position bezogen, die die Nicht-Beachtung des Forschungsfelds als „Skandalon“ ansieht und mehr fordert als herleitet, dass die Disability Studies ein „unhintergehbares Moment einer reflektierten, transdisziplinären Literaturwissenschaft“ seien. Dabei wäre es durchaus auch aus wissenschaftlicher Sicht wünschenswert, dass der intersektionale und interdependente Charakter sozialer Kategorien in der Literaturwissenschaft stärker erkannt würde, denn das hätte nicht nur Einfluss auf Fragen zur gesellschaftlichen Wirkung von Literatur, sondern möglicherweise auch auf die Selbstreflexion literaturwissenschaftlicher Studien, unabhängig von Fragestellung und Methodik. Wer Willes Position teilt, bekommt allerdings leider keine neuen Argumente – und entsprechend wird auch kaum jemand, der sich bisher noch nicht mit den relevanten Anliegen beschäftigt hat, überzeugt werden.
Insgesamt stellt sich der Band also durchwachsen dar: Der Beitrag des Herausgebers vermag tatsächlich das Potential aufzuzeigen, das aus der Verbindung beider Disziplinen erwachsen kann; ebenso lässt sich aus den Ausführungen zur Kinder- und Jugendliteratur wenigstens an einigen Stellen herauslesen, wo die Disability Studies das aktuelle Forschungsfeld erweitern können. Auch der abschließende Beitrag kann zumindest in diesem Forschungsfeld noch nicht bewanderten Leser:innen einen Überblick über zentrale Positionen bieten. Weil allerdings mitunter das aktivistische Anliegen nicht immer mit dem wissenschaftlichen Anspruch verwoben wird, sondern diesen zum Teil ersetzt, oder die bisherige Forschung mit Nichtbeachtung gestraft wird, leidet häufig auch die Präzision der Analysen. Nun mag jedoch möglicherweise auch die kritische Auseinandersetzung mit den Beiträgen das Anliegen des Bandes fördern und den Literary Disability Studies mehr Raum im fachlichen Diskurs eröffnen.
Literaturverzeichnis
Glasenapp, Gabriele von: Simple Stories? Die Darstellung von Behinderung in der Kinder- und Jugendliteratur. In: kjl&m [66], 3 (2014), S. 3–15.
Reese, Ingeborg: Behinderung als Thema in der Kinder- und Jugendliteratur. Hamburg 2007.
Zimmermann, Rosmarie: Behinderte in der Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 1982, S. 172.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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