Lust am Erkunden

Wegbereiter einer kulturwissenschaftlich modernisierten Germanistik, Gründer der Mosse-Lectures ‒ Klaus R. Scherpe zum 80. Geburtstag

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Gibt es den perfekten literaturwissenschaftlichen Text? Zumindest nah dran ist ein Artikel von Klaus R. Scherpe über den Kolonialpropagandisten Carl Peters, erschienen 2004, also eineinhalb Jahrzehnte vor dem Hickhack um die Umbenennung der Petersallee und weiterer Straßen, die im Afrikanischen Viertel von Berlin-Wedding die Namen deutscher Kolonialisten tragen. Dass sich Scherpe, gebürtiger Berliner, mit dem lange ignorierten Kapitel deutscher Expansionsgeschichte frühzeitig befasst, ist der kleinere Vorzug seines Textes, der größere liegt im Verfahren.

Dem Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, von 1973 bis 1993 an der FU Berlin, danach bis 2006 an der Humboldt-Universität, fällt auf, dass ein Kommentar aus der Historikerzunft es sich etwas zu einfach macht. Sicher kann man Peters als den abenteuernden Psychopathen des Kaiserreichs abtun, aber das erklärt weder die Stellvertreterrolle eines nationalpolitischen Heldentums noch das Interesse schon der Zeitgenossen am Streit um Peters’ Person und Werk. Beides zu erhellen, gelingt Scherpe, indem er beschreibt, wie ein dilettantischer Autor es gleichwohl verstand, das koloniale Imaginarium zu bedienen – das von der einschlägigen Geschichtswissenschaft selten thematisierte.

Man erfährt jetzt nicht nur, wie sich Dr. Peters in seinen Erlebnisberichten als visionärer Konquistador inszeniert, der für das Deutsche Reich Gebiete in Ostafrika auf eigene Faust erwirbt. Volle propagandistische Wirksamkeit unter Kolonialenthusiasten, betont Scherpe, entfaltet die Selbstdarstellung, weil sie eine Dramaturgie von Aufstieg und unverdientem Fall einsetzt: 1896 lösen die sadistischen Mordtaten und Verfehlungen des Kolonialkommissars am Kilimandscharo eine mehrtägige Debatte im Reichstag aus; in den Schriften von „Hänge-Peters“ selbst freilich verwandeln sich die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, die Amtsenthebung und das Exil in ein, so Scherpe, „tragisches Dénouement“ des Helden. Gebärdet er sich als Opfer sozialdemokratischer, englischer und jüdischer Ränke, greift der Begriff aus der Dramentheorie.

Die quasi-literarische Seite eines Rassisten zu beleuchten, heißt zu verdeutlichen, dass seine überaus populären Autobiografien dem Selbstmitleid der nach 1918 frustrierten Kolonialfraktion entgegenkamen und für die Verfilmung durch die Nazis (1941) wie geschaffen waren. Nebenbei meißelt Scherpe die Pointen heraus. Der Ich-Erzähler selbst ist es, der die Theatralität seiner Auftritte in Ostafrika zur Schau stellt und die sogenannten Verträge mit den Häuptlingen – Kommunikation per Handzeichen – als „Maskerade einer Rechtshandlung“ kenntlich macht. Sein Ankläger im Reichstag wiederum, August Bebel, konnte sich auf den zynischen Berichtston beziehen, in dem der habilitierte Gelehrte die eigenen Gräueltaten protokollierte, „gleichsam als gestandener Beobachter seiner selbst“ und die Fantasien der Leserschaft vom inneren Barbarentum beflügelnd.

Massaker und Maskerade, publiziert in der von Scherpe mitherausgegebenen Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit (Mit Deutschland um die Welt), ist  ein Paradebeispiel für kulturwissenschaftlich erweiterte Germanistik. Mit kontrollierter Öffnung hat sie zu tun, nicht damit, dass dem Fach sein „Gegenstand abhanden“ käme. Kolonialismus gehört nun einmal zu den in verschiedenen Disziplinen verhandelbaren Gegenständen. In solchen Fällen hat die Literaturwissenschaft ihr Mitsprechen aus eigener Kompetenz heraus zu begründen, „ihren Anteil am Thema, am Verfahren und am Erkenntnisziel zu definieren.“ Die im Grunde nur dem Common Sense verpflichtete, manche aber doch überfordernde Einsicht hat Scherpe stark gemacht wie kein Zweiter; sein Name steht emblematisch für dialogfähige Germanistik, die weiß, dass Identität nicht in der Isolation zu haben ist.

Literatur im gesellschaftlichen Zusammenhang, also interdisziplinär zu analysieren, gehört zum Selbstverständnis der 68er. Gleiches gilt für Scherpes Desinteresse am Sieg in Kopfnicker-Seminaren, überhaupt für den Umgang mit Studierenden. Guter Lehrer, weil aufs Belehrende pfeifend. Das fiel mir sofort auf bei der Erstbegegnung im Spätsommer 1989, neben dem Linken mit Manieren.

Ganz dem individuellen Werdegang verdankt sich seine Rolle als führender Transatlantiker unseres Fachs. Der Germanist, der auch Anglist hätte werden können und, dem Blickfeld wie dem Aktionsraum nach, beides faktisch verbinden sollte, macht 1963 seinen Magister-Abschluss in Stanford, wohin er 1991/92 als Gastprofessor zurückkehrt. Bei dieser Gelegenheit beginnt er, nach meiner Erinnerung, die Varianten der Postcolonial Studies bereits einzulesen. Zu ihrem Schrittmacher in Deutschland wird er auch, weil er Gastaufenthalte in Indien, Brasilien und Australien nicht einfach als Trophäen für den Starprofessor nimmt, sondern stattdessen im Alltag dieser Länder die Folgen der Kolonialzeit registriert. Grund genug, ihren Spuren auch daheim nachzugehen, etwa in der Warenwelt oder der Sprache der Reklame. Und, umfassender, nachzuzeichnen, wie Fermente des Fremden auch in Deutschland die Kultur der Moderne durchsetzten.

Fluch der guten, die Germanistik globalisierenden Tat: Sie verdeckt heute ein wenig, dass Scherpe noch ganz andere Geistesgebiete bereist hat. Aus der Erzählforschung kommend, 1967 bei Eberhard Lämmert promoviert, von ihm mit philologischer Solidität ausgestattet, gehört er in den 70ern zu denjenigen, die konservativere, auf Dichtungsfrömmigkeit und Werkimmanenz gestimmte Amtsinhaber von links herausfordern. Nur dass dieser Jungprofessor auch die ästhetische und poetologische Verfassung der Literatur sozialgeschichtlich rekonstruiert. Den Weg aus der Sackgasse der Widerspiegelungstheoreme weist er der linken Germanistik vor allem mit einem Mitte der 80er Jahre vorgelegten, die Literaturtheorien von Louis Althusser und Pierre Macherey erprobenden Aufsatz. Dieser demonstriert, wie Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras kraft sprachlicher Imagination Distanz gewinnt zu den Ideologien, mit denen er arbeitet. Hintergründig gab einem der Beitrag zu verstehen, dass die Begriffe der literarischen Empirie gewachsen sein müssen, nicht umgekehrt. Den Text zu Koeppen las ich auf einer Zugfahrt von Siegen nach Gießen. Als ich kurz aufblickte, war ich in Friedberg.

Postmoderne hielten damals viele für einen Franzosentick. Scherpe setzte sich lieber mit ihr auseinander, auch um nachzuweisen, wie viel ihrer Destruktionsenergie und Indifferenzgesten schon in der Moderne steckt. Genauso avanciert wirken noch heute, drei Jahrzehnte später, seine Studien zur gewandelten Symbolisierung, Wahrnehmung und Semiotik der Großstadt. Kein Wunder, dass dieser Deutsche schon vor 1989 auch im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb ein Prestige genoss wie nach ihm vielleicht noch Hans-Ulrich Gumbrecht. Wie hat Scherpe das Ansehen seither wahren und maximieren können?

Erstens begegnet er nicht nur der Literaturgeschichte, sondern auch dem Zeitgeschehen in nächster Nähe mit einer Klarsicht aus Halbdistanz. Zur Alexanderplatz-Demo vom 4. November 1989, der trügerischen Hoffnung der DDR-Intellektuellen auf den besseren Sozialismus, schreibt er 2002: „Es ist die Nullpunkt- und Augenblicksfaszination, die hier wiederkehrt, eine Selbstermutigung im Denken von Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftlern, die diese produktive Illusion einer Handlungsmöglichkeit in einer historischen ,Zwischenzeit‘ hervorbringt.“ So geht es eben auch: Statt Häme im Nachhinein ein luzider, auch fairer Vergleich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit, ohne den angesprochenen Reformsozialisten – darunter der langjährige Gesprächspartner Volker Braun – das I-Wort ersparen zu können.

Zweitens: Assoziationskraft, von Braun, ebenfalls dieser Tage 80 geworden, in dichterische Sprache gekleidet, führt Scherpe als wissenschaftliches Verfahren vor. Analytisch ergiebig und stilistisch unverwechselbar macht seine Bücher, besonders die in der FAZ hoch gelobte Monographie Stadt. Krieg. Fremde (2002), das Kreuzen, Queren und Gleiten in den Traditionsbeständen. Geschmeidigkeit und Speed der Denkbewegung erinnern an die Surfer vor Santa Barbara.

Drittens hat die Spannbreite seiner Interessensgebiete Maßstäbe gesetzt. Dass sich einer in der Gattungspoetik des 18. Jahrhunderts ebenso wie bei Peter Weiss, Alfred Döblin und Alfred Andersch auskennt, kann vorkommen. Aber in der Poetik der Beschreibung wie in den Ressentiments der Avantgarden wie in der Literarisierung der Ethnographie wie in den Medien des Ehebruchs im Roman? Staunenswert. Dass Scherpe die Weite seines Horizonts gewählt hätte, wäre schief formuliert. In den 90ern, da zählte ich zu seinen Mitarbeitern, gewann man einen anderen Eindruck: Er kann seine Interessen gar nicht einhegen, ist viel zu scharf aufs Erkunden.

Viertens bleibt bei allen Themen- und Umfeldwechseln, über die Jahrzehnte hinweg, in seinen Schriften und Vorträgen eines gleich: der Grundton cooler Eleganz. Insofern der Miles Davis der Literaturwissenschaft. Auch trifft der Titel einer frühen Davis-Platte recht gut das Scherpe-Verhältnis zu ,Forschungsständen‘: Miles Ahead.

Fünftens vereint der Mann das unbedingt Innovative, bei Stillstand in Academia ungeduldig Werdende mit lässiger Vornehmheit im Auftreten. Zu der übrigens auch gehört, dass man sich für extremen Publikationsfleiß nicht auf die Schulter klopft. Für Profilneurosen zu selbstsicher. Großgewachsener, gewitzt-verschmitzter Gentleman. Predigt nicht, macht Vorschläge, wenn auch methodisch äußerst problematisch, er qualmt zu viel.

Sechstens wünscht er gar keine Laudatio, schon gar keine ellenlange, ich wette. Trotzdem, ein Punkt noch, die Mosse-Lectures betreffend. 1997 gründet Scherpe sie zusammen mit George L. Mosse, dem berühmten Historiker aus deutsch-jüdischer, 1933 in die USA vertriebener Familie, um die liberale Tradition des Mosse Verlagshauses in Berlin wiederaufleben zu lassen. Seither sind über 180 namhafte Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen eingeladen worden, dazu renommierte Schriftsteller, Künstler und Politiker, die ihre Projekte einem größeren, nicht nur akademischen Publikum vorstellen können. Internationaler könnte die Gästeliste kaum sein.

Ich glaube, die Möglichkeit eines solchen Veranstaltungstyps hat nur einer sehen und realisieren können. Nur Scherpe konnte die Idee kommen, dem kapitalkräftigen Investor des neuen Mosse-Zentrums vorzuschlagen, das „symbolische Kapital“ des Hauses zu nutzen, und dann tatsächlich mit dem nötigen Startkapital ausgestattet werden. Bourdieu managen. Nur der weltoffenste Germanist konnte zuvor überhaupt erkennen, dass in Deutschland ein Ort des globalisierten linksliberalen Gesprächs fehlt. Heute ist der Senatssaal der Humboldt-Universität dieser Ort. An seiner Längsseite schaut, neben dem Bruder, ein in Öl gemalter Alexander von Humboldt, Kopf überm Atlantik, so zuversichtlich wie fordernd aufs Publikum. Sein Blick geht jedoch auch Richtung Fenster, ins Freie. An wen erinnert mich dieser Blick?