Die Geschichten der Einzelnen
In ihrem Debütroman „Wir alles, wir nichts“ zeigt Jana Marlene Mader die Vielseitigkeit des Lebens und verschiedener Länder
Von Isabel Grabow
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJeder Mensch hat seine eigene Geschichte, seine eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen, die er mit sich trägt. Das zeigt Jana Marlene Mader mit Wir alles, wir nichts. In ihrem Debütroman, der auf dem Cover als „[K]ein Roman“ gekennzeichnet ist, erfährt der*die Leser*in die Lebensgeschichten verschiedener Figuren, von denen sich einige treffen, andere sich nie begegnen und dennoch miteinander verbunden sind. Im Mittelpunkt stehen die Übersetzerin Franka aus Süddeutschland und Victor aus Amerika. Ihre Leben wie auch die der Übrigen werden detailliert beschrieben, Hintergrundinformationen zur Biografie und Familiengeschichte eingeschlossen. So ist es eigentlich immer Frankas Traum gewesen einen Platz als Balletttänzerin an einer renommierten Tanzhochschule zu bekommen. Als dieser Traum aufgrund einer Krankheit platzt, fängt sie an in Hamburg Literaturwissenschaft zu studieren und arbeitet letztendlich als Übersetzerin. Frankas eigene Geschichte wird dabei immer wieder durch ausführliche Geschichten ihrer Familie und ihrer Beziehungen oder aber durch Berichte von Victors Versuchen, in Amerika mit Cannabis zu handeln, unterbrochen.
Als Leser*in kommt man nah an die Personen heran, taucht in sie ein, und während man eine Weile ganz bei ihnen ist und ihre Geschichte nach und nach begreift, werden Person und Ort gewechselt und die nächste Figur wird betrachtet oder die vorherige Geschichte weitererzählt. Wechsel sind für Mader typisch. Sei es der Wechsel zwischen Erzählern und Erzählperspektiven, der Gegenwart und Vergangenheit oder zwischen den Figuren. Doch nach einiger Zeit gewöhnt man sich daran, dass der nächste Satz auf einmal von einem Ich-Erzähler stammt, der das von ihm Erlebte reflektiert, und wenige Sätze später wieder der übergeordnete Erzähler präsent ist. So heißt es beispielsweise: „Der Kellner schenkte ein. Sie stießen an. Sie erlebte die erste Stunde im Stakkato.“ Und einige Zeilen später: „Er bestellte für uns. Wir redeten über den Kongress.“ Dieser Wechsel spiegelt die verschiedenen Ereignisse und Gedankengänge der Personen wider und schafft einen Blick aus mehreren Perspektiven auf die Situationen und Personen. Letztere sind vor allem vielschichtig und präzise beschrieben, indem eben ihre Gefühle, Handlungen und Sichtweisen deutlich dargestellt werden.
Mader thematisiert die verschiedensten Dinge: Von den Unterschieden zwischen Amerika und Deutschland, der Vielfalt innerhalb Deutschlands, über den Cannabisanbau und illegalen Verkauf der Droge in Amerika bis hin zu der Tätigkeit einer Übersetzerin. Mader selbst wohnt in München und Asheville, North Carolina und arbeitet unter anderem als freie Übersetzerin englischsprachiger Literatur und von 2016–2018 in Vollzeit als Dozentin für Deutsch an der University of North Carolina at Asheville. Es lässt sich also vermuten, dass ihre eigenen Erfahrungen in den beiden Ländern und ihrer beruflichen Laufbahn Inspirationsquelle für ihren Roman waren. Liebe, Familie und berufliche Orientierung sind eng an die Lebenswege und Selbstfindungen der Figuren gebunden und ziehen sich durch den gesamten Roman. Wenngleich man sich zwischendrin fragt, wohin er uns führen wird, und immer wieder Vermutungen hat, worauf alles hinauslaufen könnte, zumal versteckte Kommentare innerhalb des Textes Hinweise liefern, lässt sich der Roman sehr flüssig lesen. Angereichert wird Maders Sprache dabei immer wieder durch englische oder auch französische Wörter oder Sätze, was die Internationalität innerhalb des Romans noch mehr verdeutlicht. Sie soll wohl auch vor Augen geführt werden, wenn fast zwei Seiten komplett auf Englisch verfasst sind – dennoch zunächst etwas irritierend.
Mit ihrem Debütroman hat Mader interessante Geschichten der einzelnen Figuren geschaffen. Sie reflektieren vor allem auch die heutige Gesellschaft und ihre Freiheiten und Grenzen innerhalb dieser. Das Ende ist dabei teilweise überraschend, teilweise vorhersehbar – wenn man genau zwischen den Zeilen liest.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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