Wie die wilde Blume des Gärtners

Die Traumaufzeichnungen der Dichterin Paula Ludwig sind ein Fund: lyrisch, ungezähmt, undurchdringbar

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich liebe meine Träume wie der Gärtner die wilde Blume seines Gartens: er hat sie nicht gesät, er hat sie nicht gepflanzt […]. Glücklich steht er vor ihr wie vor einem Geschenk. Er beschneidet sie nicht, er bindet ihre ungestümen Blätter nicht.

Mit diesen Worten leitet Paula Ludwig (1900–1974), in der Weimarer Republik primär als Lyrikerin bekannt geworden, ihre Aufzeichnungen von Träumen aus dem Zeitraum von 1920 bis 1960 ein.

Der Text ist eine Art Manifest dieses kleinen Genres, das Ludwig zeitlebens pflegte, und beschreibt programmatisch den Stellenwert von Träumen in ihrer literarischen Produktion. Ebenso bemerkenswert wie zweifelhaft ist ihr Bekenntnis, an ihren Träumen „nichts verändert, nichts hinzugefügt, nichts weggetan“ zu haben. Unabhängig davon, dass die Variationen aus dem Anhang ihr widersprechen, ist doch bedeutsam, dass Träume für Ludwig nicht nur Authentizität versprechen, sondern auch emphatisch mit einem bestimmten Begriff von Wahrheit in Verbindung gebracht werden. Mindestens genauso auffällig ist, wie wenig ihre Aufzeichnungen auf Wellenlänge sind mit der Traumdeutung des Zeitgenossen Sigmund Freud.

Ludwig spricht von „Traumgestalten“, die sich teils später im Leben verwirklicht hätten, von Visionen auch. Die Grenzen zum Wachzustand verschwimmen dabei, „das Leben des Tages“ sei „oft traumhafter […] als der Traum.“ Der besondere Wert von Träumen bestünde nun darin, dass sich im Traum die Seele befreie: „Nicht das einzelne Herz – die Allseele ist die eigentliche Träumerin.“ Allein an diesem einleitenden Text wird bereits deutlich, welch tiefer Graben Ludwig von Freuds Traumtheorie trennt. Mit psychoanalytischem Instrumentarium ist ihrer Konzeption von Träumen – denn natürlich handelt es sich, anders als in der Selbstaussage, um offensichtlich elaborierte Texte, und nicht um unmittelbare Traumnotate – kaum beizukommen. Die transformative und transgressive Macht, die Ludwig Träumen zuspricht, die durch sie erzielte Entgrenzung des Subjekts, wird in meist lyrischem Ton, manchmal auch in aphoristischer Manier dargestellt; die Aufzeichnungen verdanken sich einer teils neoromantischen, teils expressionistischen Motivation.

Der vorliegende Band, herausgegeben und kommentiert von Chiara Conterno und Ingrid Fürhapter, ist die bisher umfassendste Edition von Ludwigs Träumen: Er enthält die erstmals 1935 erschienene Traumlandschaft und eine unter dem Titel Träume 1962 publizierte erweiterte Ausgabe, sowie darüber hinaus eine ganze Reihe bisher unveröffentlichter Traumaufzeichnungen. Der umfangreiche Apparat umfasst neben einem kontextualisierenden Nachwort unter anderem Entwürfe und Variationen vieler der autorisierten Traumversionen, darüber hinaus einen Kommentar zu den einzelnen Träumen. Auf diese Weise bietet der Band auch die Gelegenheit, eine weitgehend in Vergessenheit geratene Autorin wiederzuentdecken. Die gebürtige Voralbergerin, seit 1923 in Berlin, verband eine innige Beziehung mit Ywan Goll; sie war bekannt mit zahlreichen Intellektuellen und Autorinnen wie Else Lasker-Schüler und Erika Mann, die sie einmal als „reine Gesinnungs- und Gewissens-Emigrant[in]“ bezeichnete. Von dem Nationalsozialismus nahe stehenden Freunden wie Waldemar Bonsels und Ina Seidel distanzierte sie sich. 1940 überquerte sie die Pyrenäen und ging nach Brasilien ins Exil, wo sie bis 1953 auch blieb. Ihren einzigen Sohn, Friedel, musste sie zunächst zurücklassen, erst 1946 konnte er der Mutter folgen.

Thematisch decken die Träume unterschiedliche Situationen ab und verfahren als „Miniaturen“ nicht immer narrativ. So zum Beispiel folgendes Notat, das ungeachtet des Titels eher einem philosophischen Gedicht ähnelt als einer Traumaufzeichnung:

Traum
Ach, wie bang wie bang ist uns
zumute – da wir in das
feine Räderwerk der Natur eingreifen.

Tatsächlich sei auch in der Lyrik Ludwigs oft von Träumen die Rede, schreibt Conterno im Nachwort, die Grenze bleibt unscharf. Oft tragen die Notate knappe Titel wie „Der Wanderer“, „Der Regenbogen“, „Geschenke“, „Frühling“, „Die Stimme“, in nachgelassenen Aufzeichnungen steht auch oft nur „Traum“. Auch finden sich in den Aufzeichnungen Traumsequenzen oder –reihen (z.B. „Kaiser von China“, Teile 1-3). Enigmatisch sind fast alle der Träume. Religiöse Referenzen finden sich wiederholt, in Form einer beseelten Natur, aber auch mit Blick auf die Bibel, z.B. in Form der Heiligen Drei Könige. Manche haben einen offenbar symbolischen Gehalt, wie „Das Karussell“:

Wir fahren Karussell.
Da kommt aus dem Wald ein Wolf heraus und stellt sich mit aufgesperrtem Rachen unter das
drehende Karussell, wartend, daß es stillsteht und uns fressen kann.
Jetzt dürfen wir nie mehr aufhören, Karussell zu fahren, denn wenn es stillsteht, frißt uns der Wolf.

Überhaupt kommen immer wieder Tiere in den Träumen vor: Fische, Hunde, Pferde, Vögel… Die Person aber, die am häufigsten auftritt, ist ihr einziger Sohn, oft in bedrängenden und albtraumhaften Szenen, die an die sicher traumatische Trennung zur Zeit des Dritten Reiches erinnern. In manche ihrer Träume über Friedel schreibt sich die Zeitgeschichte tief ein. „Krieg“ ist einer übertitelt, datiert auf 1935, er ist nur wenige Zeilen lang und enthält neben dem Traum selbst eine Nachbemerkung aus der zeitlichen Distanz heraus:

Ich lief zu Fuss durch Frankreich und suchte meinen Sohn. Fuhrwerke begegneten mir, deren
Kutscher auf die Pferde lospeitschten, marschierende Heere mit spitzen Bajonetten -.
Ich suchte meinen Sohn.
(Dieser Traum ist 1939 Wahrheit geworden.)

In anderen Aufzeichnungen ist die Zeitgeschichte nur verhalten präsent; viele frühe Träume sind von ihr gänzlich unberührt, andere wiederum brechen aus ihr aus. Ein Traum etwa ist dem südfranzösischen Internierungslager Gurs gewidmet, in das sich Ludwig, mittellos, nach Auskunft des Nachworts freiwillig einliefern ließ: „Campo de Gurs“. Er beginnt mit einem verzweifelten Ausbruch aus Gurs und endet mit einer Himmelsfahrt, die vor Gottes Thron endet und mit einem Blick hinab auf die Erde. Der Rekurs auf die Transzendenz vermag die Hilflosigkeit jedoch nicht zu verbergen: „Ich sah, daß unser aller Leid ein Nichts bedeutet im Vergleich zur Herrlichkeit Gottes.“

Deutlich nüchterner gestaltet sich ein nachgelassener Text über das Träumen aus dem Anhang, in dem die Dichterin aus Anlass eines Traumes, in dem sie erschossen werden soll, über Todesarten philosophiert und sich fragt: „In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich? Diese furchtbaren Träume.“ Der Text endet völlig illusionslos:

In Deinem Jahrhundert hat es zwei Weltkriege gegeben –
Millionen Menschen sind durch die Kriege gestorben –
Millionen Juden sind vergast worden –
Dein Jahrhundert!
Gibt es etwas Positives zu melden?!
Ich habe nichts Positives zu melden.

Titelbild

Paula Ludwig: Träume. Traumaufzeichnungen und Texte aus dem Nachlass.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
400 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835355729

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