Verknüpfung, Verwahrung, Vervielfältigung

Jörg Magenaus überzeugendes Romandebüt „Die kanadische Nacht“ erzählt von der Kunst, dem Leben und Augenblicken des Erinnerns

Von Janna Lea KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Janna Lea Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jörg Magenau, 1961 im schwäbischen Ludwigsburg geboren, ist ein versierter Literaturkritiker und ein anerkannter literarischer Biograph. Zu seinem Werk zählen unter anderem Monografien über Martin Walser, Christa Wolf, die Brüder Ernst und Friedrich Jünger oder über das legendäre Treffen der Gruppe 47 in Princeton. Zudem ist Magenau mit zahlreichen Kritiken in den Feuilletons überregionaler Tageszeitungen wie im Rundfunk präsent. Mit Die kanadische Nacht hat er nun ein überzeugendes Erzähldebüt vorgelegt. Und um es gleich vorweg zu sagen: Der Roman ist eine gekonnte Verschränkung und Spiegelung literaturwissenschaftlichen und biographisch-autobiographischen Schreibens. Magenau spinnt in seinem Debüt ein sprachliches Netz aus Geschichten und Biographien, einen Dialog aus Erinnerungen und Erfahrungen, ein Spiegelkabinett aus Reflexionen und Ich-Entwürfen. Seine Kanadische Nacht ist ein Vater-Sohn-Roman, ein Roman über ferne Nähe und nahe Ferne, eine Erzählung über die Liebe, über das Abschiednehmen und Neuanfangen und nicht zuletzt ein Roman über Künstlerinnen und Sprache.

Den namenlosen Ich-Erzähler erreicht ein Anruf aus dem fernen Kanada. Sein über 90-jähriger Vater, ein ehemaliger Arzt, der mit seiner neuen Lebensgefährtin nach der Aufgabe der Praxis nach Kanada in die Rocky Mountains gezogen ist und zu dem der Sohn seit seinem Aufbruch zum Studium nach Berlin fast 40 Jahren kaum Kontakt hat, liegt im Sterben. Also macht sich der Erzähler nach ein paar Tagen nolens volens auf den Weg nach British Columbia, hoffend den Vater noch lebend anzutreffen. Hinter ihm liegen nicht nur eine Ehe in Berlin und ein Neuanfang mit der Philosophin A. und ihrem pubertierenden Sohn, sondern auch das gescheiterte Buchprojekt „Traumsegler“ über das mehrfach verschränkte Leben eines Dichters und einer Malerin: „So vervielfältigen sich beide in der Kunst“, räsoniert der Erzähler der „Traumsegler“-Biographie, 

wie man sich auch in der Zeit vervielfältigt von Augenblick zu Augenblick, so dass sich naturgemäß immer mehr Bilder, Ansichten, Ausschnitte und Einblicke sammeln im Lauf der Jahre eines Lebens. 

Dies ist die Erzählfolie in Die kanadischen Nacht mit ihren Einblicken in und Ausschnitten nicht nur eines Lebens: Ein Dichter und eine Malerin, die sich in ihren Künsten vervielfältigen, und ein Biograph, der über den Dichter schreiben soll, dessen Buch aber dann nach zweijähriger Arbeit am Veto der Malerin scheitert, eine lange Autofahrt durch das nächtliche Kanada dem sterbenden Vater entgegen. Die Reise, mit ihren Hölderlin-Reminiszenzen (der Vater ist nach seiner Pensionierung ein begeisterter Hölderlin-Leser; ein Hölderlin-Zitat schickt Magenau als Motto vorweg ) ins „Offene“ nach Kanada, entwirft Magenau als eine Reise in die eigene Vergangenheit, wobei Erinnerungen als schmaler Grat zwischen Fiktion und Fakt aufscheinen. Entstanden ist ein erzählerisch dichter und reflektierender Text, der gleichwohl nicht konstruiert wirkt.

In triadischen Absätzen verschränkt der biographische Erzähler seine Erinnerungen an die Vergangenheit mit dem Vater mit der Binnengeschichte des gescheiterten Buchprojekts und der Lebensrealität der Malerin und des Dichters sowie der eigenen Lebensrealität mit der neuen Partnerin A.. Zugleich zieht der Ich-Erzähler immer wieder Parallelen zu Hölderlins Biographie. Dabei wird das ‚Suchbild des Vaters‘ auf allen Ebenen verwahrt. So hatte der Dichter des „Traumsegler“-Projekts „seinen abwesenden Vater schließlich einmal besucht, als er schon mit der Malerin zusammenlebte“, während in Erinnerung an den eigenen emotional abwesenden Vater der Kindheit der Erzähler sinniert, ob er „deshalb immer wieder Biographien über berühmte Schriftsteller geschrieben [hat], weil […] die Vaterfigur fehlte. Der abwesende Vater war eine Leerstelle, die es zu füllen galt.“ Und „[a]uch Hölderlin war vaterlos aufgewachsen, und vielleicht bestand darin die Nähe, die mein Vater zu ihm empfand.“

Vor dem Hintergrund der kanadischen Landschaft malt der Roman nicht nur ein sprachliches, sondern auch ein philosophisches Kunstwerk, das gespickt ist mit Bemerkungen zu Heimat, Herkunft und dem eigenen Gewordensein, zu Fragen der Autonomie der Künste und nach Autorschaft. 

Wie geht Leben und wie kann man Leben (biographisch) erzählen? Das biographische Schreiben als Nacherzählung eines Lebens interpretiert und schreibt so die eigene Realität mit. Dass die subjektive erzählerische Komponente des biographischen Nacherzählens zum Problem werden kann, zeigt das Scheitern des „Traumseglers“. Nicht nur das biographische Schreiben als Hervorheben und Akzentuieren eines Lebens, sondern auch die eigenen Erinnerungen sind einer nachträglichen Konstruktion ausgesetzt, wie im Text nicht zuletzt durch das Motto aus Goethes Bemerkung zu den Wahlverwandtschaften betont, wonach kein Strich darin enthalten ist, der nicht erlebt ist, aber eben auch keiner so enthalten ist, wie er erlebt ist. Oder wie es der Erzähler in Die Kanadischen Nacht formuliert: „Welche Lebensgeschichte wäre keine nachträgliche Konstruktion?“ Und schließlich heißt es in einer Reflexion über das Erzählen: „Schreiben heißt, mit der Vergangenheit aufzuräumen.“ 

So wird der Roman zu einem Text, der Sprache vorführt. Sprache wird reflektiert und zugleich als Mittel der Reflexion hinterfragt. Die Erinnerung ist der Stoff des Textes. Sprachlich werden Erinnerungen kunstvoll konserviert und – ja auch – konstruiert: „Jedes Erzählen ist ein Zurechtrücken.“ Dabei bietet der Text Antworten auf Fragen nach Autorschaft und Sinn eines Textes, wenn „Kunst“ nicht als „Ratespiel“ verstanden werden soll. Denn „Wissen und Wahrheit changieren darin, weil sie erst in der Begegnung mit dem Betrachter oder dem Leser entstehen.“

Der biographische Erzähler schreibt gegen Ende seines Weges nach Innen und in die Vergangenheit gewandt: „Ich war Autor, aber jenseits dieser Funktion abwesend.“ Die Antwort auf die Frage nach dem Autor wie auch der biographischen Beglaubigung einer Geschichte gibt der Roman, wenn der Künstlerbiograph wie der Ich-Erzähler am Ende eine kunstvolle und nahbare „Ganzheit“ zustande gebracht haben, eine Verknüpfung der Künste, einen breiten und reichen literarischen Erinnerungsteppich. So wird Die kanadische Nacht zu einem dichten und lesenswerten Textgewebe, reich an philosophischen, ästhetischen und existenziellen Reflexionen, bei dem immer auch ein „Ich“ – der Autorin wie der Leserin gleichermaßen – auf dem Spiel steht.

Titelbild

Jörg Magenau: Die kanadische Nacht.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021.
200 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783608984033

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