Entbindung in der Sauna

Marie Malcovati erzählt in „Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut“ die faszinierende Geschichte einer Nordlandreise dreier Frauen

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sofort zieht das Buch in seinen Bann. Wieso ernährt sich ein Mann im Wald von Käferlarven und der Wachstumsschicht aus Fichtenstämmen? Und wie passt zu dieser Extremsituation ein Schauspiel am Himmel, in dem „kleine höfliche Wolken“ wie „erzwungene Grüße entfernter Verwandter“ wirken?

Die Faszination der bildhaften Sprache bleibt erhalten, das Interesse an dem Mann aber lässt in dem Maße nach, wie die Frauen, die es mit ihm zu tun hatten, an Statur gewinnen. Denn Tahvo Fährmann, Fotograf mit finnischer Mutter und deutschem Vater, kann zwar in polarer Kälte überleben, nicht aber in stabilen Beziehungen mit gegenseitigem Vertrauen leben. Wie eine seiner Geliebten feststellt, ist sogar das Schweigen des wortkargen Mannes oft eine Lüge.

Auktorial und psychologisch präzise wird aus der Sicht der Frauen erzählt, wobei Rückblenden, Zeitsprünge und Perspektivwechsel die Spannung erhöhen. Die nichtlineare Struktur ist wesentlich für diesen Roman; hier seien die Protagonistinnen vorgestellt.

Da ist zunächst Iona. Sie kennt Tahvo nicht, ist aber seine Tochter, von deren Existenz er ihrer Meinung nach möglicherweise nichts weiß. Zum 13. Geburtstag hat sie in einem Zeitungsartikel gelesen, dass Tahvo Fährmann seit über 13 Jahren mit Gefolgsleuten in den unberührten Wäldern Lapplands lebt. Einem zufällig gefundenen Laborbefund entnahm sie später, dass er sterbenskrank ist. Nachdem sie mittellos den halben Kontinent durchquert hat, kommt sie in dem deutschen Dorf Luchsberg an, wo Tahvo, wie sie weiß, ein Haus hat. Sie ist auf sein Geld angewiesen. Woher sie kommt, wird wie vieles im Buch zunächst nur angedeutet. Es heißt lapidar, „sie war an den Inselregen gewohnt“ – wer an England denkt, liegt richtig. Ihre ungeliebte Mutter heißt Susanne; das wird später wichtig.

Iona dringt in Tahvos „Hexenhaus“ ein, das als „efeuüberwucherter Steinhaufen“ beschrieben wird. Sie ist hochschwanger und sieht sich selbst als „Kastanienfrau“, als „Riesenbauch mit Zahnstocherarmen und Streichholzbeinen“. Vater ihres Kindes ist der breitschultrige Amerikaner Sam. Ihn hat sie auf skurrile Weise in dem Londoner Pub kennengelernt, in dem sie kellnerte: Sam verschluckte einen Zahn, und Iona rettete ihm mit kräftigem Griff das Leben. Sam war promovierter Dozent für Schauspielkunst. Bei den Aufführungen seiner Truppe kümmerte sich Iona um die Lichttechnik. Sie verpasste den Termin für den geplanten Schwangerschaftsabbruch, wohl auch, um Sam durch das Kind vor der Verzweiflung zu retten.

Am „Hexenhaus“ klingeln die rothaarige Christine („Tine“), eine Lehrerin, die täglich verzweifelt vor 16-jährigen Schülerinnen „mit leeren Augenpaaren“ steht, und deren Tochter Clara. Tine hasst die Bäuche von Schwangeren. Nach unerfülltem Kinderwunsch hat sie Clara adoptiert, die als Neugeborene in einem Kuhstall gefunden wurde. Tine hatte ein Verhältnis mit Tahvo, der ihr „dunkelgrau wie ein alter Wolf“ vorkam und nun verschwunden ist. Ionas Ähnlichkeit mit Tahvo findet sie unverkennbar: „Ihr Blick war wie seiner: gletscherblau, unschmelzbar.“

In einem Wohnwagen im Wald lebt die blinde Tuulikki, Tahvos Schwester, die Einzelheiten mitteilt: Ihr Bruder stammt aus Mittelfinnland, wurde in Helsinki zum Fotografen ausgebildet und zog nach Berlin, offensichtlich wegen seines deutschen Vaters. Später ging er mit seinen „idiotischen Jüngern“ und Tuulikki für ein paar kalte, lange Jahre an den Polarkreis. Wo er jetzt ist, verrät sie erst später.

Karolin, der die einzige Gastwirtschaft im Dorf gehört, vermisst Tahvo ebenfalls. Sie lernte ihn in Westberlin kennen, wohin sie als „knopfäugiges Schwarzwaldmädchen“ ihrer Freundin gefolgt war, der schönen und entschlossenen Susanne. Kurz zuvor waren Karolins Stimmbänder im Krankenhaus mikroskopisch verletzt worden, so dass ihre Karriere als Sängerin endete, ehe sie begann. Karolin brachte dann mit Kaiserschnitt ihren Jonathan zur Welt, sang ihn in den Schlaf und hatte plötzlich wieder eine Stimme. Nicht für klassischen Gesang, wohl aber für Bühnenauftritte mit einer Band.

Dann aber stürzte der vierjährige Jonathan zu Tode. Jahre später entdeckte Karolin in einem Brief die schreckliche Wahrheit: Im kritischen Augenblick hatte Tahvo nicht auf den Jungen aufgepasst, weil Susanne ihm am Telefon mitteilte, dass sie schwanger von ihm sei. Karolin schrie ihre Wut heraus.

Inzwischen ist ihre Traurigkeit aufgebraucht, geblieben sind die Narben. Als es klingelt, greift sie zum Messer, denn sie kann Tahvo nicht mehr mit bloßen Händen begegnen, doch vor der Tür stehen Tine und Clara. Später reisen Iona, Tine und Karolin in Finnlands hohen Norden, an den Ort von Tahvos Aussteigerprojekt, ohne dass man erfährt, wie sie sich darauf geeinigt haben. Unterwegs meint Karolin, sie hätten alle drei ein Hühnchen mit Tahvo zu rupfen, Tine aber will ihn nur zurück. Iona ist an diesem Gespräch nicht beteiligt, doch im kalten Norden beginnt sie, in ihrem Vater mehr zu sehen als das Monster ihrer Kindheit.

Iona begreift, dass ihr Vater in seinen dunkelsten Momenten in die Polargegend musste – nichts war so stark wie die Kälte. Von Janne, Tahvos alter Kumpel und Geschäftsführer gläserner Iglus, die auch ohne Werbung ständig ausgebucht sind, erfahren sie, dass Tahvo in den Wald gegangen ist. Tine solle ihn nicht in seinem Zustand mit Pankreaskrebs im Endstadium sehen; auch wolle er lieber erfrieren, als von innen zerfressen zu werden. Zwischen kahlen Bäumen mit bombastischer Schneelast finden Tine und Carolin einige Kleidungsstücke. Sie versichern einander, nicht an Tahvo zu denken, sondern an ihre Kinder. Aber sie haben sich verirrt, und ihre einzige Chance ist es, gehört zu werden. Karolin beginnt zu singen. Iona, die mit Janne nach ihnen sucht, hört ein näherkommendes Geräusch: Tonleitern.

Unpathetisch wird erzählt, wie Tine und Karolin zu besserem Verständnis füreinander finden. Iona entbindet in einer Sauna und wird in diesem Bunde die Dritte, nachdem sich Tine nicht mehr als unqualifiziert empfindet, nur weil sie nie jemanden geboren hat.

Die Autorin Marie Malcovati liebt lange Buchtitel, in denen unerfüllte Bedingungen eine Rolle spielen. Ihr Debütroman hieß Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte. Der neue Titel regt zum Nachdenken an, ob irgendwo ein Vogel ein Haus verlangt. In der „Vogelhochzeit“ ist nur von Bett und Kämmerlein die Rede. Und im Psalm 84 findet der Vogel ein Haus durch die Gnade Gottes. Auch der Vogel, von dem im Roman mehrfach erzählt wird, verlangt keinen Hausbau. Wie durch ein Wunder überlebt er einen Hurrikan und fliegt zu Inseln mit silbernen Stränden, auf denen Zucker wächst. Doch dann wird er erschossen und verspeist. Und Karolin hasst im Frühling alle Vögel. Dabei hat nie ein Vogel einen Hausbau verlangt – auch nicht, als Jonathans tödlicher Unfall nach dem Bau eines Vogelhauses geschah.

Hoffnungslos endet der Roman nicht. Clara heiratet Ionas Sohn Samu. Statt schmalziger Liebesbekundungen hört man Frotzeleien über die Herkunft aus Sauna und Kuhstall. Im Spiegel sucht Samuel vergeblich nach Ähnlichkeiten mit den Augen von Großmutter, Mutter und Vater. „Seine Augen gehören nur ihm.“

Titelbild

Marie Malcovati: Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut.
Edition Nautilus, Hamburg 2022.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783960542803

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