Man muss diesen Typen nur auf die Klamotten sehen
Rainer Bieling packt Masha Gessen in die große Kommunismuskiste
Von Walter Delabar
1. Masha Gessen und Rainer Bieling
Der Journalist Rainer Bieling hat auf literaturkritik.de einen Text veröffentlicht, in dem er seiner Kollegin Masha Gessen vorwirft, sie und Ihresgleichen (hier vornehm: Milieu genannt) seien Repräsentanten eines neo-sowjetsozialistischen Projektes. Der Titel des Textes: „Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären“.
Bieling fasst unter dem Totalitären einen angeblich immer noch vitalen, innerhalb der Linken sogar hegemonialen Sowjetsozialismus, der sich in fünf Haltungen bemerkbar mache: Antifaschismus, Antikolonialismus (wie Bieling ergänzt, neuerdings Postkolonialismus genannt), Antizionismus, Antirassismus und Antiimperialismus. Mindestens drei davon lastet er Gessen an (Antizionismus, Postkolonialismus und Antirassismus).
Erstaunlich an dieser Liste ist, dass der neuere Umweltaktivismus oder die postfeministischen Strömungen (etwa LGBTQ) hier keinen Platz finden, wo Gessen doch in Sachen postfeministischer Aktivitäten einiges anböte. Aber das mag damit zusammenhängen, dass weder der reale Sozialismus sowjetischer Prägung noch sein Nachfolgestaat daran besonderen Gefallen gefunden haben. Aber noch ist nicht aller Essay Ende erreicht.
Anlass für diesen Generalschlag gegen eine amerikanische Journalistin, die im Dezember mit dem Hannah Arendt-Preis geehrt wurde (wenngleich im peinlich kleinen Rahmen und ohne den Vorstand der Böll-Stiftung, die den Preis ja mit verleiht), ist ein Text Gessens, der am 9. Dezember 2023 im New Yorker erschien, „The Shadow of the Holocaust. How the politics of memory in Europe obscures what we see in Israel and Gaza“. Ein Text, so Bieling, der “von eben jenem sozialistischen Geist beseelt ist, den Hannah Arendt, lebte sie noch, totalitär genannt hätte“. Was zu beweisen wäre, und was er sich zu beweisen anschickt.
2. Die Ubiquität des Sowjetsozialismus
Allerdings folgt auf diesen Hinweis keine Lektüre des Gessen-Textes, wie man vermuten würde. Bieling steigt stattdessen tief in die vorgeblichen Basisstrukturen der Biografie, Persönlichkeit und Haltung Gessens ein. Das beginnt bereits bei der Charakterisierung Gessens im Untertitel Bielings, nennt er sie doch dort eine „jüdisch-russische US-Autorin“, was eine interessante Häufung von Eigenschaften und Zuweisungen ist, mit der – vielleicht? – schon alles gesagt sein soll.
Anscheinend, denn Bieling beschreibt Gessen als mehrfach und unhinterschreitbar durch ihre Sozialisation geprägt, auch als Jüdin und als Frau, aber vor allem als Russin, als Amerikanerin, als Autorin. Sie ist anscheinend alles zugleich, und zwar damals wie heute. Einmal katholisch ist immer katholisch, hat meine Mutter zu ihrer Zeit gesagt. Dennoch ein paar Nachfragen.
Fangen wir mit dem Schluss an: Masha Gessen versteht sich als Trans- und non-binäre Persönlichkeit, was unter anderem darin Ausdruck findet, dass Gessen im Englischen gern mit dem Personalpronomen „they“ bezeichnet wird.
Auch der Verweis auf Gessens Konfession ist zumindest eine einigermaßen waghalsige Ableitung, die auf einer Verbindung ethnischer und konfessioneller Kategorien beruht, was aber hinreichend verbreitet ist. Kerstin Holm schrieb eben in der FAZ vom 8. Januar 2024 noch von einem „charismatischen jüdischen Priester“ – was nur dann geht, wenn der russisch-orthodoxe Priester, von dem die Rede war, zwar die Konfession, nicht aber seine ethnische Herkunft gewechselt haben kann. Da halte ich es eher mit Walther Rathenau und dessen konfessionellen Verständnisses der Jüdischen. Ob Gessen bekennende Jüd*in ist, einer anderen Konfession anhängt oder laikal gesonnen ist, lässt sich erst einmal nur vermuten. Wie im Übrigen offen ist, ob Masha Gessen die amerikanische und russische Staatsangehörigkeit hat. Das entzieht sich meiner Kenntnis – ob Bieling da Genaueres weiß, ebenso. Wenigstens ist einigermaßen gesichert, dass Gessen schreibt und publiziert.
Dass Bieling diese Prägemuster tatsächlich ernst meint, zeigt sich in den folgenden Absätzen, allerdings fokussiert er dabei auf zwei besondere Phasen im Leben Gessens. Zum einen ruft er die Indoktrinierung der heranwachsenden Gessen in der Sowjetunion bis zur eigenen Emigration auf, zum anderen lässt er Gessen im USA-Exil in einem realsozialistischen Milieu landen, das dann quasi das finishing übernimmt: Gessen habe „die Sowjetideologie von Kindesbeinen aufgesogen“ und sei „bis ins Teenageralter als Schulkind mit ihr indoktriniert worden“. Als Gessen dann in den USA zur Schule gegangen sei (also ab 1981), sei die Neue, soll wohl heißen antiautoritäre Linke bereits Geschichte gewesen, stattdessen sei der doktrinäre Sozialismus, hier die „Alte Linke“, der „reale Sozialismus sowjetischer Prägung“ (an einer Stelle schreibt er gar von „Bolschewisierung“) in dem Milieu, in dem Gessen – wie unterstellt wird – die Jugend verlebt haben soll, dominant, ja hegemonial geworden, erkennbar am Antirassismus der Black-Power-Bewegung, deren Vorzeigegestalt Angela Davis gewesen sei (auch in der DDR beliebt). Biografisch gesehen wäre Gessen also vom sowjetischen Regen in die amerikanische Traufe geraten – wer nach New York gerät, der kann dem nicht entgehen. Kein Wunder, dass Gessen heute so ist, denkt und schreibt, was wir jetzt lesen können.
Damit aber noch nicht genug, Bieling legt eine weitere Volte dazu, mit der dann mit großzügiger Geste Ökos und New Wave (vielleicht sogar LGBTQ) doch noch mit unter das Sowjetsozialistische gefasst werden können: Denn am Revival des realen Sozialismus habe, so wenige Absätze später, auch die Neue Linke ihren Anteil, und zwar durch ihre Rezeption des Marxismus-Leninismus, vor allem maoistischer Prägung, die dann die in zahlreichen Splittergruppen der späten 68er gemündet sei. Um aber den großen Bogen in die Gegenwart zu schlagen, lässt Bieling die K-Gruppen ohne weiteres in der Alternativbewegung und schließlich in den Grünen aufgehen, die damit als Sammelbecken des realsozialistischen Totalitarismus abgestempelt werden. Klar also, dass Daniel Cohn-Bendit (ja, der Rote Dany), Joschka Fischer und Jürgen Trittin Grüne geworden sind, ließe sich hinzufügen. Und klar, dass sie hier ihren Marsch durch die Institutionen fortgesetzt haben – siehe Heizungsgesetz und die stetige Weigerung, wieder auf Atomkraft zu setzen. Das korrespondiert halbwegs mit dem Ideologievorwurf, mit dem sich die Grünen seit einiger Zeit konfrontiert sehen, ob zurecht oder nicht.
Was das mit der amerikanischen Linken und dem Milieu, dem Gessen zuzuordnen sein soll, zu tun hat? Egal, die weitläufige Parallelführung von Angela Davis und Grünen hat bis dahin doch schon ihre Schuldigkeit getan: Alles Kommunisten … Gessen und überhaupt. Oder, ganz traditionell gesprochen, ihm passt die ganze Richtung nicht.
Allerdings hat Bieling anscheinend ein Problem gesehen, das er noch beiläufig zu lösen hatte, nämlich die Erscheinung Masha Gessens, die gar nicht zu einer Erb*in der Honecker- resp. Breschnew-Ära passen will, sondern eher zu einer zeitgenössischen Intellektuellen, ggf. mit Hinweisen auf eine Transgender-Identität. In den Worten Bielings: „kurze Haare, riesen Brille, cooles Outfit – schwarzer Anzug und rote Socken“.
Und da kommt dann endlich New Wave ins Spiel, was Bieling folgendermaßen zusammenbringt: „New Wave und Old Left“ finden sich im Kleidungsstil Gessens perfekt wieder, klarer Fall, Rote Socken. So hießen, so Bieling, die „SED-Ideologen“ bei den „unangepasste(n) DDR-Bürgern“, was wohl als klarer Beweis zu gelten hat (wenns denn kein unausgewiesenes Wikipedia-Zitat ist). Und wenn denn nicht die CDU/CSU die Roten Socken immer wieder mal ausgepackt hätte, in den 1990ern oder zuletzt noch im Wahlkampf 2021. Und dann waren halt immer die „Linken“ gemeint, undogmatisch oder realsozialistisch, egal, manchmal sogar die Genossen von der Sozialdemokratie.
Auf „New Wave“ kommt Bieling, weil zu dem Zeitpunkt, zu dem Masha Gressen 1981 in die USA kam, die Hochzeit der Neuen Linken in der Tat vorbei war. Die K-Gruppen in Deutschland oder analoge Gruppen in den USA spielten keine Rolle mehr, die Musik und die Populärkultur waren stattdessen der lebensweltliche Hauptschauplatz der rebellischen Jugend, New Wave eben, mit allem, was dazu gehörte und aus der Ferne dazugezählt werden kann. Etwa Hiphop, Rave, Punk, Patti Smith, Blondie, Grandmaster Flash, Clash (sorry, England), Fehlfarben (ok, Düsseldorf) – und New York ist einer der weltweiten hotspots. In der Welt Bielings eng verbunden mit der Neuauflage des sowjetsozialistischen Experiments. Was sich ansonsten links und politisch wähnte, hatte sich von der Neuen zur Alten Linken verabschiedet. Und wer nach New York geriet, der konnte dem nicht entrinnen. Der wird vierzig Jahre später eben genauso auftreten wie Masha Gessen: „kurze Haare, riesen Brille, cooles Outfit – schwarzer Anzug und rote Socken“.
Woah! Wenn jeder, der kurze Haare, eine große Brille, ein weißes Hemd, ein schwarzes Jackett und rote Socken trägt, das Geschäft des Sowjetsozialismus betreibt, dann ist der schon weit gekommen. Und da dachte man immer, dass mit dem Sowjetreich der real existierende Sozialismus gleich mit untergegangen sei (China und Nordkorea lassen wir mal beiseite). Anscheinend weit gefehlt. Ich werde jedenfalls daran denken, wenn ich die roten Socken anziehe, die mir meine Kinder zum Geburtstag geschenkt haben.
Und das muss man sich auch erst mal als 78er (notabene) sagen lassen, der man ja selber ist, dass man nämlich eigentlich ein DKPler war oder analoges: Friedensbewegung, Bürgerinitiativen, Ökobewegung, Hausbesetzerszene, undogmatische Linke und was auch immer – alles Agenten des Sowjetsozialismus. Man braucht denen allen nur mal ins Gesicht oder auf die Klamotten zu sehen, klarer Fall.
Und wer hat das alles auf dem Schirm? Bieling!
Der aber ist dazu berufen, weil er eben – analog zur Indoktrinierung Gessens in UdSSR und USA – „als West-Berliner“ „die Ablehnung der Sowjetideologie von Kindesbeinen aufgesogen“ habe, mehr noch, er habe sogar den Berlin Besuch John F. Kennedys miterlebt und sei auf Linie des damaligen Regierenden Willy Brandt gewesen („antitotalitär antikommunistisch“), dessen Parteizugehörigkeit hier wohl keine Rolle spielt (von wegen Rote Socke). Hauptsache, die Amerikaner sind da, dann sind es nämlich nicht „die Russen“ (wenigstens schreibt er nicht „der Russe“).
Aber es geht noch weiter: Aus einem solchen Erfahrungsschatz (West-Berlin, John F. Kennedy, antitotalitärer Antikommunismus) entsteht zwangsläufig eine sehr beachtliche Fähigkeit, ein Sensorium – analog zu Gessens Grundierung als Rote Socke –, das von Kind an entwickelt wird und dass der Betreffende nie einbüßt: „Die rote Ideologie alten Schlags rieche ich seither zehn Meilen gegen den Wind“. Was als Superkraft dringend einer Marvel-Verfilmung bedarf. Man stelle sich vor: Rainer Bieling als Kommunisten-Schnüffler, das Cape stünde ihm sicher ziemlich gut, als Retter der Welt vor dem Sowjetsozialismus, dieser wierderum repräsentiert von Masha Gessen.
3. Hannah Arendt Preis 2023 für Masha Gessen
Am 3. August 2023 teilte die Heinrich-Böll-Stiftung mit, dass Masha Gessen den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken 2023 erhalten werde. In der Pressemitteilung verweist die Böll-Stiftung darauf, dass Gessen seit Jahren die „politischen Strömungen und Konflikte in der amerikanischen und russischen Gesellschaft“ beschreibe. Gessens Themen seien die „Machtspiele und totalitäre(n) Tendenzen“, der „zivile Ungehorsam“, „die Liebe zur Freiheit“, der „mühsame Alltag“, die „kulturellen Konflikte“ und der „Kampf um demokratische Selbstbestimmung“. Das sei einzubetten in die „autokratische Erosion in den USA“, in den „kriegsbereiten Totalitarismus in Russland“ und in Zeiten „gravierender Konflikte() zwischen den großen Mächten“. Das liest sich selbst in dieser Zusammenstellung an wie das Paradebeispiel aus der Schar der antitotalitären Autorinnen und Autoren, denen die Umsetzung und Erhaltung demokratischer Prinzipien am Herzen liegen.
Gessen ist im deutschen Sprachraum durch eine große Studie über das nachsowjetische Russland (2012) und eine kritische Abhandlung über das Entstehen autokratischer Systeme in Demokratien am Beispiel des Trumpismus (2020) bekannt. Über beide Publikationen bei Bieling kein Wort. Auch über Gessens Reportagen aus dem postsowjetischen Russland findet sich bei Bieling nichts, was – vielleicht unzulässig – darauf schließen lässt, dass er sie nicht kennt, wenigstens aber, dass sie ihm egal sind. Bis hin zu der These, dass er im Auftritt beim Böll-Podium Gessens wahres Gesicht zu sehen meinte, was dann Gessens sonstigen Publikationen zur Nebensache degradiert. Aber denkbar ist vieles.
Am 13. Dezember 2023 teilte die Böll-Stiftung mit, dass sie sich ebenso wie die Landesstiftung Bremen von der Preisverleihungszeremonie zurückziehe. Konkreter Anlass sind die Passagen im Text, in denen Gessen die Situation in Gaza mit den jüdischen Ghettos im nationalsozialistisch besetzen Osteuropa vergleicht. Gessen impliziere damit, so die Böll-Stiftung in ihrer Pressemitteilung, dass „Israel das Ziel“ habe, „Gaza wie ein Nazi-Ghetto zu liquidieren. Diese Aussage ist kein Angebot zur offenen Diskussion, sie hilft nicht, den Konflikt im Nahen Osten zu verstehen. Diese Aussage“ sei für die Böll-Stiftung „nicht akzeptabel“ und werde zurückgewiesen. Einen Tag später reichte die Stiftung eine weitere Begründung nach und kündigte das Gespräch an, das dann wenig später, am 18. Dezember 2023, in Berlin stattfand (im übrigen im Netz auch im Nachgang zu besichtigen).
Nun wirft Bieling Gessen auch vor, in der Veranstaltung der Böll-Stiftung keine Worte zum Massaker der Hamas am 7. Oktober, zur „Kollusion“ (also geheimes Einverständnis) von „russischem Postsozialismus und arabischem Islamismus“ und zur Beschreibung der „Terrorherrschaft des Hamas-Staates auf dem Territorium des Gazastreifens“ gefunden zu haben.
Nur, die meisten der hier attestierten Desiderate waren überhaupt nicht Thema der Veranstaltung. Stattdessen ging es dort vor allem um Gessens Ghetto-Vergleich (an dem Gessen im Gespräch im übrigen festhielt). Aus dem Publikum heraus zur Haltung zur Hamas gefragt, verwies Gessen darauf, an anderer Stelle dazu geschrieben zu haben. Im New Yorker-Text selbst findet sich dazu auch eine Passage, allerdings in einem spezifischen Zusammenhang: Gessen stellt die Vorwürfe, die die russische Führung gegen die Ukraine erhebt, gegen die Vorwürfe, die die israelische Regierung gegen die Hamas erhebt. Dabei betont Gessen, dass die Vorwürfe gegen die Hamas sich zwar signifikant von denen unterscheiden, die Russland gegen die Ukraine vorträgt. Zweifelsfrei sei es so, dass die Hamas eine tyrannische Macht sei, die Israel angegriffen habe und Gräueltaten begangen habe, die kaum vollständig begriffen werden könnten. Aber – und darauf kommt es Gessen an – angesichts dessen, dass in beiden Kriegen Kinder getötet werden, rückten diese Unterschiede in den Hintergrund. Aber da sind wir dann schon tief in Gessens Text eingetaucht und beim Versuch, eben nicht nur das Unvergleichliche vergleichbar zu machen oder unerhörte Ereignisse angemessen sprachlich zu fassen, sondern auch darüber hinaus zu gehen. Unabhängig davon, ob Gessen das dann auch gelingt.
4. Im Schatten des Holocausts
Wenigstens abschließend sei doch ein Blick auf den Text gewagt, der Anlass der vorwiegend deutschen Debatte um Masha Gessen ist.
Gessen beschäftigt sich in diesem Text intensiv damit, wie die Erinnerung an den Holocaust die Wahrnehmung Israels und Gazas bestimme, und damit auch die Rollen festlege, die beide Seiten in dem mittlerweile 75 Jahre währenden Konflikt einnehmen, Israel das grundlegend und grundsätzlich bedrohte Opfer, der Krieg in Gaza der zwingend notwendige Versuch Israels, die drohende Vernichtung abzuwehren.
Dabei schlägt Gessen einen weiten Bogen von der Erinnerungskultur der Bundesrepublik, über die kurrenten Antisemitismusdefinitionen, die Einrichtung der Antisemitismusbeauftragten in Deutschland, die Haltung der offiziellen bundesdeutschen Kulturpolitik zur israelkritischen Bewegung BDS (Boycott, Divestment, Sanctions), die Beziehungen Polens und der Ukraine zu Israel bis hin zu den persönlichen Erfahrungen Gessens, die aus einer Familie mit jüdischem Bekenntnis stammt (was eine Reihe von argumentativen Zwischen- und Seitenschritten unterschlägt).
Am Schluss steht der Versuch, die Sicht vor allem des Staates Israel auf die aktuelle Situation in Israel und Gaza und dabei die politische Strategie des Staates Israel in ihrer Widersprüchlichkeit zu benennen – die Opferrolle Israels und von Israelis ebenso wie ihre Rolle als Täter. Gessen visiert dabei vor allem die israelische Regierung an, deren Politik aus der Erfahrung des Holocausts gespeist ist, und damit von der Grundhaltung, dass die Existenz des Staates Israel wie der Juden insgesamt grundsätzlich gefährdet sei, heute mehr denn je. Die Politik der israelischen Regierung lasse sich auf dieser Folie erklären.
Nun muss Gessen bewusst gewesen sein, sich in einem schwierigen diskursiven Gelände zu bewegen, also zwingend Kritik, wenn nicht kategorische Ablehnung zu provozieren (was gegebenenfalls Absicht war). Eine frühe Stelle in Gessens Text scheint jedenfalls darauf zu verweisen. Dennoch hat Gessen diesen Vergleich formuliert, wie anzunehmen ist, um sich deutlich gegen die derzeitigen Kriegsziele Israels zu positionieren. Setzte sich Gessens Vergleich als angemessen durch, wäre dieses Vorgehen grundsätzlich diskreditiert.
Insofern war an dieser Stelle mit Widerspruch zu rechnen. Aber auch sonst: Die Präferenz für die „Jerusalemer Erklärung“, in der die Kritik an Israel eben nicht als antisemitisch gewertet wird, wenigstens soweit sie nicht antisemitische Muster nutzt, macht die Argumentation angreifbar, schottet sie aber zugleich gegen Kritik ab. Ebenso wie Gessens Kritik an der grundsätzlichen Problematisierung der BDS-Aktivitäten (bis hin zum Bundestagsbeschluss), mit denen – aus der Sicht Gessens – der Druck auf Israel verstärkt werden soll, seine Palästinapolitik zu ändern und Palästinensern gleiche Rechte wie der eigenen Bevölkerung zu gewähren. Dagegen wird in der Kritik des BDS dessen verborgene Agenda angeführt. Jürgen Kaube hat soeben noch (gleichfalls in der FAZ) betont, dass der BDS das Existenzrecht Israels, wenngleich verdeckt, abstreite. Vice versa hat der amtierende israelische Ministerpräsident allerdings betont, dass er sich gleichfalls eine Zwei-Staaten-Lösung nicht vorstellen kann, sondern eher eine Art Protektorat für geboen halte.
Dass solchen Positionen Gessens widersprochen wird, ist naheliegend – nicht zuletzt freilich allerdings auch deshalb, weil die Erinnerungskultur unter anderem der Bundesrepublik aus Gessens Sicht relativ weit reichende Ausgrenzungen vornehme, etwa indem öffentliche Institutionen Veranstaltungen, denen eine Nähe zum BDS nachgesagt werde, die Förderung entzögen – was insofern fatal sei, so Gessen, da auf diese Weise das Gespräch zwischen den Parteien mehr oder weniger unterbunden werde. Der Fairness halber sei angefügt, dass Gessen in diesem Kontext auch die Zensur der McCarthy-Ära assoziiert, was wiederum Widerspruch erregen wird. Strittig ist sicher auch Gessens Verständnis des Holocausts: Hauptreferenz ist hier der britische Soziologe Zygmunt Bauman, der Ende der 1980er Jahre mit der These von der engen Verbindung von Moderne mit dem Holocaust Aufsehen erregt hat.
Der Vorwurf, dass Gessen nicht zuletzt in dem New-Yorker-Text die Singularität des Holocausts abweise und ihn auf diese Weise bagatellisiere, nimmt auf Baumans Schriften keinen Bezug, die bei ihrem Erscheinen in Deutschland breit wahrgenommen wurden. Die Revisionismusdebatte der 1980er Jahre ist hingegen in Deutschland noch weitgehend präsent.
In diesen Kontext ist der Vergleich Gazas mit den jüdischen Ghettos in Osteuropa unter der NS-Besatzung zu rücken: Sprachlich, argumentiert Gessen, sei dies die einzige Möglichkeit, das, was in Gaza geschehe, angemessen zu benennen, nämlich die Einhegung einer vermeintlich bösen und verhängnisvollen sozialen Gruppe, der Palästinenser, in einem abgegrenzten Gebiet. Diese Gruppe sei zeitweise sich selbst überlassen worden, nun aber drohe ihr – analog den historischen Ghettos – die Auslöschung.
Man mag diese Anamnese und diese Analogiebildung für unangemessen halten, etwa weil hier die Rolle der Hamas, deren Aufstieg zur dominanten Macht in Gaza und der Überfall vom 7. Oktober nicht hinreichend mitgedacht würden. Das Ziel des Textes ist es aber nicht, Schuldzuweisungen vorzunehmen, auch wenn er sich fast ausschließlich auf die Kritik Israels und eben auch seiner westlichen Verbündeten fokussiert, legitimerweise oder auch nicht.
Gessen versucht stattdessen, die Logik der eben auch gegenseitigen Vergeltung zu überwinden, um eine lange überfällige Lösung eines schon sehr lange währenden und blutigen Konflikts zu ermöglichen. Niemand ist nur Opfer und nur Täter, betont Gessen, die Israelis nicht und die Palästinenser ebenwenig.
Ob Gessen das gelungen ist, respektive ob dieser Versuch mittelfristig zur Lösung des Palästina-Konfliktes beitragen wird, wird sich zeigen. Wahrscheinlich ist das nicht, vor allem deshalb, weil der Text zu provokativ ist und zu großem Widerspruch erregt. Freilich ist das diskursive Feld derzeit sehr dynamisch, es gibt starke Stimmen, die vergleichbare Ziele wie Gessen verfolgen, aber weder der Gaza-Krieg noch die Diskussion darüber, was folgt oder folgen sollte, ist abgeschlossen.
Im New Yorker-Essay Gessens allerdings einen verdeckten Realsozialismus am Werk zu sehen, ist aus seiner Lektüre, wie strittig sie auch sein mag, nicht zu begründen. Das sollte auch Bieling bewusst sein, was zu der sehr spekulativen Frage führt, was er dann mit dem Essay bezweckt haben mag. Aber zugegeben, unsereins fehlt das Sensorium eines Herrn Bieling.