Der dritte Körper des Königs

Hilary Mantel erzählt in ihrem umfangreichen Roman „Spiegel und Licht“ von den Abgründen staatlicher und religiöser Gesetze

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Auftakt wie den Abschluss dieses über eintausend Seiten langen Werks bildet je eine Hinrichtung. Anne Boylen, des Hochverrats angeklagte Königin und zweite Ehefrau von Heinrich VIII., hat mit dem ersten Satz des Romans gerade ihren Kopf verloren. Cromwell allerdings hat Hunger, denn er ist an diesem Tag schon lange auf den Beinen. Wir schreiben das Jahr 1536. Ziemlich genau vier Jahre später, am Ende des Romans, wird Cromwell selbst diesen Weg gehen müssen; der Leser weiß das von Beginn an, selbst wenn er nur über eher bescheidene historische Kenntnisse verfügt.

Man muss die beiden ersten Bände der Cromwell-Trilogie nicht zwingend notwendig gelesen haben, um zu verstehen, worum es in diesem abschießenden dritten Band geht. Aber ihre Kenntnis ist zweifelsohne hilfreich, denn erst allmählich offenbart sich mit der Lektüre der insgesamt etwa 2300 Buchseiten der Trilogie der Nucleus dieser gewaltigen Schreibanstrengung. Doch welchen Namen kann man diesem Kern trefflich geben, auf welchen Begriff sollte man ihn bringen?

Um die einhundert Figuren sind im Anhang von Spiegel und Licht aufgezählt, zu Gruppen geordnet nach ihrer familiären oder gesellschaftlichen Stellung. Da muss es den Leser nicht wundern, wenn er oftmals kaum exakt zu sagen weiß, wovon gerade erzählt wird und welche genaue Bedeutung den gerade auftretenden Figuren für den Erzählzusammenhang zukommt.    

Zu seiner Zeit galt Thomas Cromwell als Emporkömmling, vom Adel mit Neid und Misstrauen beäugt. In den vier Jahren von 1536 bis 1540, die der Roman Spiegel und Licht schildert, wächst die Macht dieses Sohnes eines Brauers und Schmiedes nahezu ins Unermessliche, sodass sein anschließender Fall umso dramatischer anmutet. Doch Hilary Mantel geht es in ihrem Roman, wie in der gesamten Trilogie, nicht allein darum, historische Ereignisse zu rekonstruieren. Auch sehen wir uns außerstande zu beurteilen, wie sorgfältig die Autorin mit der historischen Faktenlage umgeht. So, wie Mantel Thomas Cromwell schildert, erscheint er als Paradigma eines Menschen in seinem Versuch, seinem Leben Ziel und Richtung zu geben und von den ihm gegebenen Möglichkeiten umfassend Gebrauch zu machen. Überschattet wird die detaillierte Schilderung dieses Lebensweges vom Wissen um sein gewaltsames Ende. Verantwortlich für diese Hinrichtung ist Heinrich VIII., der König und Herrscher Englands. Cromwells Schicksal ist innigst und untrennbar verwoben mit der inneren Welt dieses Herrschers, mit seinen Plänen, seinen Launen und vor allen Dingen mit seiner Unfähigkeit, den Aufgaben eines Königs auch nur annähernd gerecht zu werden.

Wenn wir von der inneren Welt Heinrichs sprechen, so deshalb, weil Hilary Mantels Trilogie über weite Strecken genau diese zu schildern versucht. Der König ist, wie Ernst H. Kantorowicz in seiner Untersuchung Die zwei Körper des Königs rekonstruiert hat, einerseits sterblicher Mensch aus Fleisch und Blut, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben; andererseits aber hat er Teil an dem überzeitlichen Körper des königlichen Amtes, das er innehat und dem er seine Macht verdankt. Im ersten Band der Trilogie mit dem Titel Wölfe beschreibt Mantel dieses Phänomen der zwei Körper des Königs:

Der König hat zwei Körper. Der erste existiert innerhalb der Grenzen seines physischen Seins: man kann ihn messen, und das tut Henry oft, seine Taille, seine Wade, die anderen Körperteile. Der zweite ist sein fürstlicher Doppelgänger: losgelöst, ungebunden, gewichtslos, kann er gleichzeitig an mehreren Orten sein. Henry mag im Wald jagen, während sein fürstlicher Doppelgänger Gesetze macht. Der eine kämpft, der andere betet um Frieden. Einer ist eingehüllt in das Geheimnis seines Königtums: einer isst eine junge Ente mit grünen Erbsen.

Ironisch relativiert die Autorin das Zwei-Körper-Konstrukt. Denn Heinrich möchte eigentlich viel lieber jagen als herrschen. Er ist eher ein Lebemann von kindlichem Gemüt, denn ein verantwortungsvoller Herrscher. Diese Rolle wächst zunehmend Thomas Cromwell zu, dem Heinrich immer mehr Aufgaben überträgt, Aufgaben, die ihn, den eigentlichen Herrscher, zu überfordern drohen.

Cromwell lebt bis zu seiner Anklage in der Überzeugung, als dritter Körper des Königs zwischen dem unfähigen Herrscher und den Anforderungen des Amtes vermitteln zu können. Dabei ist er jedoch darauf angewiesen, die Ordnung der Dinge, wie sie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Bestand hat, mit in seine Überlegungen einzubeziehen. Nicht nur er, alle Protagonisten des Romans sind dieser Ordnung wie Marionetten ausgeliefert, einer Ordnung, die sie selbst geschaffen haben und die ihnen dennoch als unabänderliches Schicksal erscheint, dem sie sich beugen müssen.

Cromwell kämpft bereits im ersten Romanband auf Betreiben des Königs gegen diese gegebene Ordnung an; allerdings nicht offen, sondern indem er die bestehenden Regeln dergestalt dehnt und missbraucht, bis er den übermächtigen Wunsch des Königs, sich von seiner Ehefrau Katharina von Aragón zu trennen, erfüllen kann. Lange Zeit scheint es, als würde der Papst dieses Spiel mitspielen: eine Ehe, aus der ein Kind, die spätere Königin Maria I. hervorgegangen ist, mit so absurden wie scheinheiligen Gründen für nichtig zu erklären. Vordergründig geht es dem Herrscher darum, mit dieser Scheidung und mit der Heirat Anne Boleyns für einen männlichen Nachfolger zu sorgen. Der Roman liefert ein anderes Bild, nämlich das eines von seinen Trieben und Leidenschaften beherrschten Mannes, der von seinem Amt als König von England heillos überfordert ist.

Hilary Mantel zeigt uns Cromwell als so hochintelligenten wie weltläufigen Berater seines Herren, der letztlich dennoch daran scheitert, dass er, wie das gesamte Personal dieses historischen Romans, die Grenzen seines Handelns nicht erkennt. Letztlich sind sie alle Marionetten, vergleichbar den Mafiosi in Francis Ford Coppolas Dreiteiler Der Pate. Wie Thomas Cromwell scheint Don Vito Corleone in seinem Reich mit absoluter Macht zu herrschen. Nicht in einem Zustand krimineller Anarchie, denn die Mafia handelt nach ungeschriebenen Gesetzen, die allerdings nur so lange gelten, solange sie den kriminellen Machenschaften nicht im Wege stehen. So, wie das kirchliche Gesetz von der Unauflöslichkeit der Ehe nur so lange gelten darf, wie es den sexuellen Gelüsten Heinrichs VIII. nicht im Wege steht. Im dritten Teil des Paten, gegen Ende der Trilogie, schlendern Michael Corleone, der Nachfolger von Don Vito Corleone, mit seiner Frau über einen Marktplatz in Sizilien. Dort wird ein Puppenspiel aufgeführt; es geht um die eine Frau, es geht – vermeintlich – um die Ehre. Und deshalb muss Blut fließen. Michaels Frau Kay deutet das Geschehen auf der Bühne entsprechend:

„Wegen der Ehre, mh?“ Doch Michael, der für sich eigentlich ein Leben außerhalb des Clans geplant hatte, weiß es besser: „Was hilft es, wenn ich Dir sage, es sind nur Marionetten.“

Von der ersten Zeile dieser ausufernden Trilogie über Aufstieg und Fall Thomas Cromwells an weiß der Leser um dessen gewaltsamen Tod. Wir alle sind sterblich; doch wird jemandem willentlich das Leben genommen, so überschattet dies die gesamte Existenz dieses Menschen. In ihrer Besprechung zweier Romane von Marga Minco, die 1942 in den Niederlanden untertauchen und so der Vernichtung in Auschwitz entgehen konnte, benennt Susanne Klingenstein diesen fundamentalen Unterschied: „Man liebt sie, weil man weiß, dass sie es schaffen wird, ohne etwas zu beschönigen, uns Leser über die Abgründe zu tragen.“ (FAZ vom 27. August 2020)

Die politisch-gesellschaftliche Ordnung der Dinge ist eine von Menschen gemachte, wie auch die religiöse. In den Gesetzen und heiligen Schriften sind die Regeln dieser Ordnung festgelegt und erwecken den Anschein überzeitlicher Gültigkeit. Der Jurist Thomas Cromwell weiß, dass sein Handeln gleichermaßen gebunden ist an den Körper des Königs wie an ein Gesetzeswerk, das er, Cromwell, teilweise selbst entworfen hat. Doch hinter dem Verweis auf Gesetz und Religion kann sich die brutale Willkür des Menschen, die von diesen doch eigentlich im Zaum gehalten werden soll, nur für Momente verbergen. Es gab einen Menschen, der gesagt hat, das Gesetz sei für den Menschen da, nicht der Mensch für das Gesetz. Er endete am Kreuz.

Ein Blick in unsere Gegenwart zeigt, dass sich seit den Zeiten Cromwells kaum etwas verändert hat; denn die Vernunft im Sinne einer humanen Ordnung, welche die Unversehrtheit und freiheitliche Existenz von uns allen weltweit garantieren würde, hat weiterhin einen schweren Stand.

Titelbild

Hilary Mantel: Spiegel und Licht.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
1200 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783832197247

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