Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser

Ein sprunghaftes Zwei-Personen-Drama

Von Uwe WittstockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Wittstock

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag zur Beziehung zwischen Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser ist mit geringfügigen Änderungen und ohne Fußnoten der zuerst 2005 im Blessing Verlag, als erweitertete Ausgabe 2015 und zuletzt 2020 im Piper Verlag erschienenen Biografie „Marcel Reich-Ranicki“ von Uwe Wittstock und dort dem Kapitel „Popstar der Kritik“ entnommen. Die gedruckten Auflagen sind inzwischen vergriffen. Als eBook wird die Biografie weiterhin im Blessing Verlag angeboten. Wir danken Uwe Wittstock und dem Blessing Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung des Beitrags in literaturkritik.de. T.A.

Wie nie zuvor in seinem Leben konnte Marcel Reich-Ranicki sich um das Jahr 2000 von einer Woge der Popularität und der Zustimmung getragen fühlen. Die Zeichen öffentlicher Anerkennung seiner Lebensleistung bis hin zur demonstrativen Einladung von Bundespräsident Johannes Rau, die Abschiedssendung des Literarischen Quartetts im Dezember 2001 in dessen Berliner Amtssitz Schloss Bellevue stattfinden zu lassen, schienen ihn, den so lange Umstrittenen, über jede Form des Widerspruchs hinauszuheben. Er hatte im Kulturbetrieb des Landes einen Rang erreicht, der ihn und seine Arbeit nahezu unantastbar erscheinen ließ.

Vielleicht ist es also kein Zufall, sondern psychologisch gut erklärbar, wenn sich gerade in dieser Situation ein Schriftsteller wie Martin Walser, der sich von Reich-Ranicki oft missverstanden, verfolgt oder benutzt und gar gedemütigt fühlte, zu einem literarischen Protest provozieren ließ. Ein Protest allerdings, der bizarre Formen annahm. Im April und Mai 2002 brachte Walser beim Suhrkamp Verlag und in der Feuilletonredaktion der Frankfurter Allgemeinen das Manuskript seines Romans Tod eines Kritikers in Umlauf, der dann Ende Juni 2002 veröffentlicht wurde. Aber schon in den Wochen vor dem Erscheinen des Buches wurde es zu einem Skandal und löste eine der hässlichsten literarischen Kontroversen jener Jahre aus.

Wie viele große Affären wird auch diese erst dann ganz verständlich, wenn man ihre Vorgeschichte erzählt. Fast von Beginn ihrer Bekanntschaft an verband Reich-Ranicki und Martin Walser eine beruflich wie menschlich hochgespannte, gelegentlich explosive Beziehung. „Am 28. Oktober 1961, kurz nach zwei Uhr morgens“, schrieb Reich-Ranicki in einem seiner frühen Artikel für die Zeit, richtete Walser an ihn auf einer Tagung der Gruppe 47 „in Gegenwart mehrerer prominenter Zeugen eine kraftvoll-männliche, militärisch-knappe Ansprache, in der er die Literaturkritiker aller Länder und Zeiten mehrfach und nachdrücklich als ,Lumpenhunde‘ bezeichnete.“ Obwohl Reich-Ranicki 1961 auf Wunsch unter anderem von Günter Eich, Ilse Aichinger und Wolfgang Hildesheimer um ein Haar aus der Gruppe herausgedrängt worden wäre, nahm er diesen Angriff Walsers eher von der heiteren Seite und warb in seiner Erwiderung um Verständnis für eine Kritik, die, auch wenn sie einzelne Bücher ablehne, für die Literatur insgesamt notwendig und förderlich sei.

Doch das konnte am Unverständnis Walsers für die streng distanzierte Haltung, die Reich-Ranicki bei der Bewertung von Büchern einnahm, nichts ändern. Walser berief sich stattdessen gern auf den Satz Goethes, nur derjenige, der ihn liebe, habe auch das Recht, ihn zu beurteilen – und unterstellte Kritikern, insbesondere Reich-Ranicki, dass sie durch ihre Weigerung, Literatur distanzlos anzunehmen, gerade das Wesentliche der Literatur versäumten. Spitzt man die Positionen der beiden Kontrahenten zu, lassen sie den tiefwurzelnden Gegensatz zwischen einer aufklärerisch-intellektuellen (Reich-Ranicki) und einer romantisch-sentimentalen (Walser) Haltung zur Literatur erkennen. Und eine Vermittlung zwischen beidem war bei den ausgeprägten Egos dieser Männer wohl so gut wie unmöglich.

In den sechziger Jahren fand Reich-Ranicki in den Büchern Walsers nur wenig, für das er sich begeistern konnte. Er bezeichnete ihn, ein wenig herablassend, als „wackeren Provokateur“, lehnte Walsers Theaterstücke ausnahmslos ab, nannte seine Lügengeschichten eine „Kapitulation“ und seinen Roman Einhorn „missraten“. Knapp zehn Jahre lang schien dann sein Interesse an diesem Autor erloschen, bevor er 1976 dem Roman Jenseits der Liebe einen schroffen Verriss widmete: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“ Da er sich in dieser Rezension zugleich über das politische Engagement Walsers für Klassenkampf und Kommunismus lustig machte und ihn einen „geistreichen Bajazzo der revolutionären Linken“ nannte, setzte sich Reich-Ranicki als Literaturchef der konservativen FAZ dem Verdacht aus, den Roman nicht zuletzt aus ideologischen Gründen abzulehnen. Allerdings bemühte er sich im letzten Absatz spürbar, dem Artikel eine weniger aggressive Wendung zu geben: „Martin Walser, den wir für einen der besten Erzähler seiner Generation gehalten haben, trieb viele Jahre mit seinem Talent Schindluder. Er hat es fast ruiniert und ist nun erneut an einem Tiefpunkt seiner Laufbahn angelangt. Doch es gibt Tiefpunkte, die sich als Wendepunkte erweisen. Hinter diesen Worten verbirgt sich keine Voraussage, wohl aber, das soll nicht verheimlicht werden, immer noch eine Hoffnung.“

Wie tief sich Martin Walser durch diesen Artikel getroffen und verletzt fühlte, wurde deutlich, als er 2010 seine Tagebuchaufzeichnungen aus jenen Jahren publizierte. Darin spielen auf fast fünfzig Seiten Reich-Ranicki und dessen Rezension die Hauptrolle: Walser entwirft hier einen „Offenen Brief an die Buchhändler“, in dem er um Beistand gegen diesen Verriss wirbt, dazu eine wutschnaubende „Rede an Herrn R-R“ und erwägt, gegen Reich-Ranicki zu prozessieren oder ihn immerhin zu ohrfeigen: „Da mir zum Prozessieren (…) das Geld fehlt, bleibt mir nichts als die Ohrfeige. Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde. Mit der flachen Hand übrigens, weil ich Ihretwegen keine Faust mache. Sollte Ihre Brille Schaden leiden, wird meine Haftpflichtversicherung dafür aufkommen.“

Die Heftigkeit, mit der Walser reagiert, weckt Mitgefühl mit ihm und stilisiert Reich-Ranickis Rezension indirekt zu einem Angriff von geradezu dämonischer Wucht. Doch nüchtern betrachtet, ist es ein Totalverriss und für den Autor zweifellos schmerzlich, aber keine Attacke, die alle Grenzen und Gepflogenheiten des Literaturbetriebs missachtet. Etliche Kritiker haben davor oder danach andere Romane anderer Autoren ähnlich hart abgefertigt wie Reich-Ranicki diesen. Auch für Walser war es nicht das erste und nicht das einzige Mal, dass eines seiner Bücher in einer Zeitung fundamental zurückgewiesen wurde. Zudem lassen Walsers Tagebuchnotizen erkennen, wie sich Reich-Ranickis Verdikt für ihn auswirkte. Der Verriss verschaffte Jenseits der Liebe vorübergehend erhebliche Aufmerksamkeit, machte das Buch zu einem Diskussionsgegenstand innerhalb des Literaturbetriebs. Andere Rezensenten setzen sich nun umso entschiedener für den Roman ein und er erreicht Spitzenplatzierungen auf verschiedenen Besten- oder auch Bestsellerlisten. Folglich klingen Walsers Tagebuchkommentare bald schon milder: „Seit ich diesen Artikel gelesen habe, überlege ich, wem er [Reich-Ranicki] wohl mehr schadet damit, sich oder mir?“

Doch wirklich beruhigt hatte sich Walsers Zorn nicht. Er empfand Reich-Ranickis Rezension offenbar als regelrecht existenzbedrohend. Ihm werde, glaubte er, darin jede schriftstellerische Fähigkeit ab- und ein Berufsverbot ausgesprochen: „Dieser Kritiker hat sich ja nicht wenig vorgenommen. Er will mich draußen haben aus der Literatur.“ Wie grundlos diese Befürchtungen waren, zeigte sich knapp zwei Jahre später mit dem Erscheinen von Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd. Reich-Ranicki feierte das Buch ebenso demonstrativ, wie er Jenseits der Liebe verrissen hatte, und ließ es in der FAZ als Fortsetzungsroman vorabdrucken. Er halte, schrieb er, Walsers Novelle „für sein reifstes, sein schönstes und bestes Buch. Die Geschichte zweier Ehepaare, die sich zufällig während ihrer Ferien in einem Ort am Bodensee treffen, ist ein Glanzstück deutscher Prosa dieser Jahre, in dem sich Martin Walser als Meister der Beobachtung und der Psychologie, als Virtuose der Sprache bewährt.“ Natürlich liegt der Verdacht nahe, Reich-Ranicki habe sich auf diese Weise öffentlich als heimlicher Lehrmeister Walsers darstellen wollen, der ihn durch seinen unbarmherzigen Verriss von Jenseits der Liebe auf den Pfad erzählerischer Tugenden zurückgebracht habe.

In den folgenden Jahren begann nun, wie Walsers Biograf Jörg Magenau schreibt, „ein erstaunlicher Befreundungsversuch“ zwischen den zwei Männern. Walser selbst wählt in seinem Tagebuch allerdings eine kühlere Formulierung und spricht von einer „Reich-Ranicki-Konsolidierung“. Die beiden  trafen  sich  häufiger privat oder traten bei öffentlichen Veranstaltungen zusammen auf. Walser schwärmte vom „Charme der beiden Reich-Ranickis“, als er bei dem Ehepaar in Frankfurt zu Gast war. Reich-Ranicki hielt die Laudatio, als Walser 1981 mit der Heine-Plakette ausgezeichnet wurde, und rezensierte zwei Jahre später dessen Essays in geradezu hymnischem Ton. Walser wiederum porträtierte Reich-Ranicki gut erkennbar als Romanfigur in Ohne einander und beschrieb in kurzen Prosastücken zunächst, wie sehr er sich von ihm verfolgt fühle, und dann, wie sehr für ihn dieses „Verfolgtwerden zum Lebensinhalt geworden“ sei. Die beiden wirkten vorübergehend wie eine eingespielte Arbeitsgemeinschaft, wie zwei routinierte Widersacher, die sich in Sachen Literatur zwar nichts schenkten, aber letztlich ihr Gegenüber im Guten wie im Schlechten zu schätzen wussten. Ein Vierzeiler, den Walser für Reich-Ranicki zu dessen 65. Geburtstag schrieb, lautet:

Clowns sind wir, der Zirkus heißt Kultur
Unsere Nummer: Watschen mit Gesang.
Streicheln dürfen wir uns nur
Draußen in dem dunklen Gang.

Walsers Tagebuch verrät allerdings auch, dass er hinter den Kulissen keineswegs nur Streicheleinheiten für seinen Clown- Kollegen übrig  hatte. In einer Notiz aus dem Jahr 1980 spricht er Reich-Ranicki – so wie später dem jüdischen Kritiker André Ehrl-König im Roman Tod eines Kritikers – seine intellektuelle Eigenständigkeit ab und beschreibt ihn als ein williges Sprachrohr seines Freundes Walter Jens: „Walter Jens, der dürre Sterbende, hat sich den großen Töter unter den Kritikern zum Freund dressiert: So kann er ungeniert töten las- sen. Immer wieder muss Reich-Ranicki verkünden, dass es momentan nur Schriftsteller und Bücher, aber keine Literatur gebe. Und Walter Jens kann nicht mehr schreiben, also darf nicht mehr geschrieben werden können.“ Bemerkenswert ist hier zweierlei: Wenn er Reich-Ranicki hier „den großen Töter“ nennt, verknüpfte Walser sein Bild des Kritikers wieder mit der Vorstellung, durch ihn als Schriftsteller in Lebensgefahr und in seiner Existenz bedroht zu sein. Weiterhin scheint es Walser nicht zu stören, dass er sich hier des alten antisemitischen Ressentiments bedient, das Juden pauschal einen Mangel an geistiger Autonomie und eine intellektuelle Abhängigkeit von „arischen“ Vordenkern unterstellt.

Doch diese vielsagende Eintragung ruhte in jenen Tagebüchern Walsers, die er erst ein Jahr nach Reich-Ranickis Tod veröffentlichte. So hätte das Verhältnis zwischen den Kontrahenten zwar nicht spannungsfrei, aber verträglich und maßvoll ausklingen können. Doch als 1998 Walsers Roman Ein springender Brunnen erschien, brach zwischen ihnen ein Konflikt auf, der immer weiter eskalierte und schließlich nicht mehr beizulegen war. Walser beschreibt in dem stark autobiografisch gefärbten Buch eine Kindheit und Jugend am Bodensee während der Nazi-Jahre und dem Zweiten Weltkrieg. Er weigert sich dabei, seine Erinnerungen aus rückblickender Perspektive politisch zu bewerten und einzuordnen. Denn wenn er sie im Nachhinein kommentieren würde, schilderte der Roman, wie Walser schreibt, eine „komplett erschlossene, durchleuchtete, gereinigte, genehmigte, total gegenwartsgeeignete Vergangenheit. Ethisch, politisch durchkorrigiert.“ Kurz, Walser versuchte in diesem Buch eine deutsche Jugend während des Dritten Reiches zu beschreiben, wie sie gelebt wurde – nämlich ohne nennenswertes Bewusstsein für die politischen Verbrechen der Zeit. So nimmt manches von dem, was Walser erzählt, einen nahezu idyllischen Ton an, obwohl er von den düstersten Jahren der deutschen Vergangenheit berichtet.

Schon aus biografischen Gründen war für Reich-Ranicki eine solche Haltung kaum nachzuvollziehen: „Ich hatte nichts von der Leichtigkeit, wie sie Siebzehnjährige so oft haben“, sagte er einmal in einem Interview. Wie hätte er eine solche Leichtigkeit auch entwickeln sollen angesichts seiner permanenten Bedrohung in jenen Jahren. Das nationalsozialistische Deutschland jenseits politischer Wertungen und nur aus den Augen eines naiven Jugendlichen zu beschreiben, musste für ihn befremdlich, ja auf eine bedenkliche Weise verharmlosend wirken. Zumal er sich bei seiner eigenen Autobiografie, die im darauffolgenden Jahr erschien, erklärtermaßen andere Ziele steckte – nämlich die Vergangenheit konsequent mit Blick auf die Gegenwart zu schildern: „Ich habe mich doch nicht an den Schreibtisch gesetzt, um mich selbst zu erforschen“, sondern er habe seine Erinnerungen ausgewählt im Hinblick auf die Frage: „Interessiert das überhaupt jemanden heute?“

Aus ihren Bedenken Walsers Roman gegenüber machten dann im Literarischen Quartett vom 14. August 1998 alle vier Kritiker keinen Hehl. Jeder von ihnen hielt dem Buch das ein oder andere zugute, doch keiner konnte sich ganz und gar mit der Perspektive anfreunden, aus der Walser ausgerechnet diesen Abschnitt der deutschen Geschichte schilderte. Dem Erfolg des Buches stand das nicht im Weg: 1998 erreichte es eine Auflage von 170 000 Exemplaren, bis Ende 1999 verkaufte er sich knapp 200 000mal. Doch obwohl alle Kritiker des Quartetts den Roman skeptisch beurteilt hatten, konzentrierte sich Walsers Zorn darüber allein auf Reich-Ranicki. In einem Interview unterstellte er Reich-Ranicki eine „Verdammungs- und Verletzungsabsicht“. Mehr noch: „Seine Fernsehsendung empfinde ich als Machtausübung. Machtausübung gegenüber bin ich wie jeder Mensch empfindlich. In unserem Verhältnis ist er der Täter, und ich bin das Opfer.“ Und schob dann einen angesichts der deutschen Verbrechen an den Juden haarsträubenden Satz nach: „Jeder Autor, den er so behandelt, könnte zu ihm sagen: Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude.“

Die Spannungen zwischen den beiden literarischen Langzeitwidersachern radikalisierten sich, als Walser zwei Monate später im Oktober 1998 seine Friedenspreis-Rede in der Frankfurter Paulskirche hielt. Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, griff diese Rede als „geistige Brandstiftung“ an und sorgte damit für eine lang anhaltende Debatte über Walser und sein Verhältnis zur deutschen Vergangenheit. „Jeder kennt unsere geschichtliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird“, hatte Walser in seiner Rede gesagt. „Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muss ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. Kein ernst zu nehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerrepräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.“

Mit dieser Rede, meinten etliche Kommentatoren, verginge sich Walser am Grundkonsens der Bundesrepublik, die historische Verantwortung für den Holocaust nicht zu verdrängen, sondern im Bewusstsein zu halten. Die Angriffe gegen ihn wurden bald schon maßlos, aufgebrachte Demonstranten bezeichneten ihn bei Lesungen als Antisemiten und nannten ihn einen Auschwitzleugner. Obwohl Reich-Ranicki mit Walsers Rede keineswegs einverstanden war und ihn drängte, einige seiner Überlegungen nachträglich zu präzisieren, um Beifall von rechtsradikaler Seite zu vermeiden, nahm er ihn gegen den Vorwurf, ein Antisemit zu sein, ausdrücklich in Schutz. Und Reich-Ranickis Stimme hatte, nicht nur, weil er der landesweit bekannteste Literaturkritiker, sondern auch, weil er Jude und Opfer des Holocaust war, in diesem Fall besonderes Gewicht.

Vielleicht aber hatte Reich-Ranicki mit dieser Fürsprache den in allen literaturbetrieblichen Machtfragen hochempfindlichen Walser erst recht schmerzhaft gekränkt. So zumindest wollte es Frank Schirrmacher scheinen, als ich ihn zu dem einzigen direkten Gespräch zwischen Walser und Ignatz Bubis befragte, das er im Dezember 1998 für die Frankfurter Allgemeine moderiert hatte. Angesichts der Attacken gegen seine Rede steigerte sich Walser in immer tieferen Trotz hinein und habe es schließlich übel genommen, so erklärte es Schirrmacher später, „dass er durch Reich-Ranicki verteidigt werden musste, um gut dazustehen, so kam mir das vor“. Walser habe es als Demütigung empfunden, dass er gerade von ihm „den ,Persilschein‘ benötigte“.

Zusätzlich dürfte es Walser zugesetzt haben, dass Reich-Ranicki in seiner bald darauf erschienenen Autobiografie Mein Leben, die zudem viel erfolgreicher war als sein kurz zuvor erschienener autobiografischer Roman Ein springender Brunnen, mit Kritik nicht sparte: „Hat Walser in dieser monatelang heftig diskutierten Rede das Wegschauen von der deutschen Vergangenheit empfohlen, wollte er das Kapitel Auschwitz beenden und den berüchtigten Schlussstrich ziehen? Er hat es bestritten. Dass aber viele Zeitgenossen seine Rede, in der es von vagen Formulierungen und bösartigen Anspielungen wimmelt und von Beschuldigungen, denen die Adressaten fehlen, so und nicht anders verstanden haben – konnte das wirklich Walser überraschen? Sicher ist: Er hat nichts getan, um den voraussehbaren Missverständnissen, wenn es denn welche waren, vorzubeugen. Im Gegenteil: Sein trotziges Bekenntnis zum Wegschauen von nationalsozialistischen Verbrechen war, ob er es wollte oder nicht, ein Aufruf zur Nachahmung seines Verhaltens.“

Der letzte Akt dieses sprunghaften Zwei-Personen-Dramas – das endgültige Zerwürfnis – trug sich dann im Frühjahr 2002 zu. Im April schickte Walser, so sein Biograf Jörg Magenau, einen ersten Teil seines Romans Tod eines Kritikers an den Suhrkamp Verlag. Anfang Mai übermittelte er das vollständige Manuskript sowohl an den Verlag, als auch die Frankfurter Allgemeine mit der Anfrage, ob die Zeitung das Buch, bevor es im Herbst in die Buchhandlungen komme, als Fortsetzungsroman publizieren wolle. Am 29. Mai antwortete ihm Frank Schirrmacher als Mitherausgeber der Zeitung in einem offenen Brief: Die FAZ werde das Buch keinesfalls vorabdrucken, denn es sei eine als Schlüsselroman nur notdürftig getarnte, polemische Abrechnung mit Reich-Ranicki. Mehr noch, Walser entwerfe hier nicht bloß lustvoll ein Mordszenario an dem jüdischen Kritiker André Ehrl-König, sondern greife dabei auf „das Repertoire antisemitischer Klischees“ zurück. Damit war der Skandal da: In Erinnerung an die Attacken gegen Walser wegen seiner Friedenspreisrede war dies der schwerste Vorwurf, der ihm gemacht werden konnte. Umgehend griffen fast alle deutschen Zeitungen, Fernsehsender und sonstigen Medien den Fall auf – und entrüsteten sich entweder über Walsers Roman oder über Schirrmacher, weil der das Buch angriff, bevor es vom Verlag veröffentlicht wurde.

An dem Tag, als Schirrmachers offener Brief in der FAZ erschien, verteidigte Walser sein Buch in einem Gespräch mit mir. Die ihm vorgeworfenen antisemitischen Äußerungen seien, erklärte er, lediglich Rollenprosa: „Der Autor identifiziert sich weiß Gott nicht mit jeder seiner Figuren. Was in einem Roman geschieht oder gesagt wird, kann nur danach beurteilt werden, wie es eingebettet ist in die Romanatmosphäre und -prosa. Man kann aus einem Roman nichts verabsolutieren. Dies aber tut Schirrmacher in seinem Artikel unentwegt. Es ist doch verrückt, mir zu unterstellen, ich würde Reich-Ranicki oder den Kritiker in meinem Roman angreifen, weil sie Juden sind. Das ist überhaupt nicht mein Interesse. Mir geht es darum, wie so eine Figur wie Reich-Ranicki seine Macht im Literaturbetrieb ge- und missbraucht.“ Walser fühlte sich, wieder einmal, gründlich missverstanden und befürchtete, dass Schirrmacher es durch seine Vorwürfe den Lesern unmöglich gemacht habe, den zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erschienenen Roman als das wahrzunehmen, was er nach seinem Willen sein solle: eine Mediensatire. „Schirrmacher macht aus meinem Buch eine Mordfantasie an einem Holocaust-Überlebenden. Aber das ist niemals das Thema meines Romans, ich bin doch nicht wahnsinnig, das würde ich niemals tun.“

Doch auch oder gerade wenn man den Blick darauf richtet, wie Walser seine Figuren im Roman eingebettet hat, muss man erkennen, dass er dem Kritiker Ehrl-König wenig Menschliches mitgibt. Er lässt ihn als ein jüdisches Monster an Vulgarität, perverser Geilheit und Machtgier auftreten, als einen zutiefst korrupten und intriganter Popanz, der von Literatur keine Ahnung hat und schon deshalb, wie Walser bereits in der Tagebuchbemerkung von 1980 mit Blick auf Reich-Ranicki notierte, von einem gebildeten „arischen“ Freund intellektuell abhängig ist. Dass Walser damit einige typische judenfeindliche Ressentiments bedient, ist unübersehbar. Dennoch wurde sich die Literaturkritik selbst bei der Beurteilung eines solchen Romans nicht einig: Manche Rezensenten wie Joachim Kaiser und Sigrid Löffler zeigten sich begeistert, andere wie Ruth Klüger und Jan Philipp Reemtsma hatten an der antisemitischen Tendenz des Buches keinen Zweifel und nannten es „übel“ und eine „literarische Barbarei“. Drei Jahre nach der Affäre erschien eine akribische, gut fünfhundertseitige wissenschaftliche Studie zu Tod eines Kritikers und der „Judendarstellung“ in Walsers Werk. Ihr Autor, der Kulturwissenschaftler Matthias N. Lorenz, kam zu einem ebenso knappen, wie vernichtenden Resümee: Walser habe mit dem Roman ein „geradezu archetypisch antisemitisches Stück Literatur geschrieben“.

Natürlich macht man es sich dennoch zu leicht, wollte man Walser wegen Tod eines Kritikers kurzerhand und pauschal zum Judenfeind erklären. Auch wenn ein Autor ein Buch schreibt, das antisemitische Ressentiments bedient, muss dieser Schriftsteller nicht unbedingt ein Antisemit sein. Es ist nie ratsam, von einem literarischen Werk umstandslos auf dessen Autor schließen zu wollen, weder im Guten noch im Schlechten. Die Haltung eines so differenziert denkenden Schriftstellers wie Walser ist zu komplex, als dass sie sich auf ein simples Schlagwort reduzieren ließe. Walser hat sich seit seinem 1965 publizierten Essay Unser Auschwitz intensiv, ja manchmal selbstquälerisch mit der deutschen Vergangenheit und der Judenverfolgung beschäftigt. Er hat als Schriftsteller, so wie Reich-Ranicki als Kritiker, auf seine Weise dazu beigetragen, die Erinnerung an die Verbrechen des Holocaust zu einer intellektuellen Grundvoraussetzung der Bundesrepublik zu machen. Parallel dazu hat er aber auch oft erkennen lassen, dass er hier zwar Meinungen vertritt, die er für richtig und notwendig hält, zugleich jedoch „sein Eigentliches oder ein Eigentliches immer verschweigt“.

Reich-Ranicki betrachtete Walsers Roman und dessen Verkaufserfolg in erster Linie als ein Symptom für eine allmählich sinkende Hemmschwelle gegen Antisemitismus in Deutschland. „Was ist so schrecklich an diesem Buch?“, fragte er im Juli 2002, kurz nachdem das Buch erschienen war. „Einen Autor, der im ,Dritten Reich‘ aufgewachsen ist und, wie er uns selbst berichtete, im nationalsozialistischen Geist erzogen wurde, überkommt die Wut: Er kann seine Affekte nicht mehr beherrschen. Das ist zunächst einmal abstoßend. Dass aber dieser Autor tatsächlich glaubte, jetzt, gerade jetzt sei in der Bundesrepublik Deutschland endlich der Augenblick, seinem Hass freien Lauf zu lassen – das ist das Beunruhigende, das Gefährliche.“ Wie schon im Historikerstreit, wie schon in Walsers Roman Ein springender Brunnen und in dessen Friedenspreisrede sah Reich-Ranicki auch im Tod eines Kritikers vor allem ein Indiz für einen allmählichen Wandel im politischen Klima der Bundesrepublik. In seiner Autobiografie verknüpfte er diesen aufmerksam registrierten Wandel mit der Formel vom „Ende der Schonzeit“: Die in der Bundesrepublik lange geübte Achtsamkeit im Umgang mit Opfern des Holocaust werde von einigen Zeitgenossen aufgekündigt.

Die Frage, ob diese Diagnose den allgemeinen politischen Realitäten entsprach oder entspricht, mag dahingestellt bleiben. Die klaren Reaktionen deutscher Politiker, beispielsweise von Bundespräsident Gauck oder von Bundeskanzlerin Merkel, auf antisemitische Äußerungen während des Gaza-Kriegs im Sommer 2014 sprechen dafür, dass sich an der offiziellen Haltung des Landes in dieser Frage nichts geändert hat, auch wenn Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums seither stärker werden. Doch mit Blick auf Reich-Ranickis Leben ist nicht dies der entscheidende Punkt, sondern die Feststellung, dass er auch noch im hohen Alter jederzeit mit der Möglichkeit eines Wiedererstarkens antisemitischer Affekte in Deutschland rechnete und alle entsprechenden Anzeichen genau beobachtete.

Ein anderer Aspekt der Affäre um Tod eines Kritikers ist nicht politischer, sondern psychologischer Natur. Er hat mit der Frage, ob Tod eines Kritikers ein antisemitischer Roman ist oder nicht, wenig zu tun. In seiner Fernsehsendung Solo verlas Reich-Ranicki Anfang Juni 2002 eine Erklärung in eigener Sache: Die „Mordfantasie“ Walsers habe ihn und seine Frau tief getroffen. Sie seien in ihrer Vergangenheit „mit der Absicht, uns zu ermorden, hinreichend konfrontiert worden. Wir sind schon leidgeprüft. Aber dass ein solches Buch von einem bekannten und anerkannten deutschen Schriftsteller im Jahr 2002 geschrieben werden kann, damit haben wir nicht gerechnet.“ Natürlich schießt Reich-Ranicki hier, wenn man seinen Vorwurf wortwörtlich nimmt, übers Ziel hinaus. Die Romanfigur André Ehrl-König wird im Roman nicht von einem Schriftsteller ermordet, sondern dieser Schriftsteller gerät lediglich in den Verdacht, ihn ermordet zu haben, weil Ehrl-König für ein paar Tage spurlos verschwunden ist. Man kann Walser also schlecht vorwerfen, er habe in seinem Roman den Mord eines Schriftstellers an einem Kritiker ausfantasiert, dessen reales Vorbild unverkennbar Reich-Ranicki ist. Doch liegt auf der Hand, dass jemand, der fünf Jahre lang täglich mit seiner Ermordung rechnen musste, auf einen Schlüsselroman wie Tod eines Kritikers anders und empfindlicher reagiert als Menschen, die ein solches Verfolgungstrauma nicht erlitten haben. In dieser Hinsicht ist Walsers Roman, selbst wenn er keine antisemitischen Anklänge enthielte, von erschreckender seelischer Brutalität. Walser hätte wissen können, besser: er hätte wissen müssen, wie leicht sein Buch Erinnerungen des Ehepaares an das Grauen des Warschauer Gettos aufwühlen konnte. Walser zielte mit dem Roman entweder unabsichtlich oder aber kühl berechnend auf den empfindlichsten Punkt Reich-Ranickis und seiner Frau, auf die mutmaßlich schutzloseste Stelle ihrer psychischen Befindlichkeit. Gleichgültig ob ihm dies aus Gedankenlosigkeit unterlief, oder ob es das Ergebnis einer bewussten Kalkulation war: Beides rückt Walser in kein sonderlich gutes Licht.

„Ich bin“, sagte Walser, als ich ihn gut ein Jahr nach Reich-Ranickis Tod traf, „durch eine wahrhaft nicht glückliche Fügung für den mächtigsten Kritiker der Zeit zum Objekt geworden.“ Die Äußerungen Reich-Ranickis über seine Bücher seien nicht ästhetisch begründet gewesen, sondern Willkürurteile, die vor allem auf Wirkung beim Publikum abzielten: „Was mir nicht gefällt, kann nicht gut sein – das war sein Credo, seine Praxis. Weil er das so konnte, so recht instrumentalisieren konnte, gab es auch das Literarische Quartett. Es hat davon gelebt, dass die Leute erlebt haben, dass da jemand ganz und gar dahinter war, hinter dem, was er da gesagt hat. Und das waren lauter solche Urteile: Das gefällt mir, das ist gut. Das gefällt mich nicht, das ist Quatsch.“

Solche pauschalen Behauptungen sollte man besser nicht auf die Goldwaage legen. Auch Walser wäre bei ruhiger Überlegung wohl für die Ironie empfänglich, die darin liegt, dass er hier ohne differenzierte Begründung darüber klagt, Reich- Ranicki habe in seiner Literaturkritik auf differenzierte Begründungen verzichtet. Wie gründlich und ausführlich Reich-Ranicki in seinen Rezensionen argumentierte, lässt sich leicht nachprüfen. Doch Walsers Bedürfnis, im Rückblick auf seine Kontroversen mit Reich-Ranicki lieber zu einfachen, statt zu abwägenden Urteilen zu kommen, war in unserem Gespräch unübersehbar. So wischte er den Einwand, Reich-Ranicki habe seine Bücher keineswegs nur verrissen, sondern – wie im Falle der Novelle Ein fliehendes Pferd oder seines Essaybandes Liebeserklärungen – ebenso begeistert gelobt, mit dem eigenwilligen Argument vom Tisch, er „habe nur das Gedächtnis der Verletzung. Wenn mir etwas gut tut, merke ich mir das nicht.“ Von einer Bereitschaft, sein Verhältnis zum alten Kontrahenten zu überdenken, nachdem er von ihm inzwischen weder etwas zu befürchten noch etwas zu erhoffen hat, war nichts zu spüren. Walser zeigte sich vielmehr beherrscht vom Geist der Abrechnung und der Revanche: „Bei Reich-Ranicki tut mir nichts leid. (…) Er hat mir mehr Böses angetan, als ich ihm antun konnte.“