Gabriel García Márquez – Romanfragment, journalistische Arbeiten und Erinnerungen

Zum 10. Todestag des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers sind drei neue Titel erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez (1927-2014) gilt als einer der bekanntesten Autoren Lateinamerikas. In den 1960er Jahren war er gewissermaßen der Türöffner der lateinamerikanischen Literatur, die dann auch in Europa große Anerkennung und Beliebtheit erfuhr. García Márquez war ein Meister des magischen Realismus, der Elemente des täglichen Lebens mit magischen oder fantastischen Elementen verband. Mit dem Roman Cien años de soledad (1967, dt. Hundert Jahre Einsamkeit (1970)) gelang ihm der literarische Durchbruch. Seit seiner Veröffentlichung wurde er in 37 Sprachen übersetzt und über 30 Millionen Mal verkauft. Ähnlich erfolgreich waren die beiden Romane Crónica de una muerte anunciada (1981, dt. Chronik eines angekündigten Todes (1981)) und El amor en los tiempos del cólera (1985, dt. Die Liebe in den Zeiten der Cholera (1987)). 1982 erhielt García Márquez den Literaturnobelpreis „für seine Romane und Erzählungen, in denen sich das Phantastische und das Realistische in einer vielfacettierten Welt der Dichtung vereinen, die Leben und Konflikt eines Kontinents widerspiegeln“.

Die deutschen Ausgaben seiner Werke erschienen in den letzten Jahren zumeist im S. Fischer Verlag oder im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Beide Verlage haben zum 10. Todestag (17. April) von Gabriel García Márquez einige Neuerscheinungen herausgebracht. Als literarische Sensation wird sein letztes Romanfragment Wir sehen uns im August (Originaltitel: En agosto nos vemos) angepriesen, das nach dem Willen des Schriftstellers eigentlich unter Verschluss bleiben sollte. García Márquez war mit dem Werk selbst nicht zufrieden, zu sehr hatte ihn die Demenz bei der Niederschrift beeinträchtigt. Seine beiden Söhne Gonzalo und RodrigoGarcía Barcha kamen jedoch nach Prüfung des Manuskriptes zu der Ansicht, dass es doch einen literarischen Wert und die typische Bildsprache des Vaters besitzt, die er in den letzten Jahren infolge seines Gedächtnisverlustes möglicherweise nicht bemerkt habe. Außerdem war es ein feministisches Buch, in dem eine Frauenfigur im Zentrum stand, was sonst nur in seinen Kurzgeschichten geschah. Daher entschlossen sie sich zu einer Veröffentlichung.

Die Story ist kurz erzählt: Ana Magdalena Bach, eine sechsundvierzigjährige Lehrerin, die seit siebenundzwanzig Jahren glücklich verheiratet ist, fährt jedes Jahr mit einer Fähre zu einer karibischen Insel, um dort auf dem Grab ihrer Mutter einen Strauß frischer Gladiolen abzulegen. An jedem 16. August wiederholt sie die Reise, stets zur gleichen Zeit, mit demselben Taxi und derselben Blumenfrau. Danach verbringt sie eine Nacht immer im selben Hotel. Bei ihrem ersten Besuch fiel Ana Magdalena in der Hotelbar ein Mann auf, mit dem sie ins Gespräch kam und ihn anschließend mit auf ihr Zimmer nahm. Auf der Rückfahrt mit der Fähre überkam sie die Ahnung: „Nie wieder würde sie dieselbe sein.“

Fortan betrachtet Ana Magdalena ihre perfekte, aber konventionelle Ehe kritisch. Dieser 16. August bietet ihr jährlich die Gelegenheit zu einem Liebesabenteuer voller Zärtlichkeit und unvorstellbarer Lust mit einem jeweils neuen Mann. Dabei verliert sie niemals ihre Würde, auch nicht, wenn ihr wie einer Prostituierten ein Zwanzigdollarschein zugeschoben wird. Bei ihrem letzten Besuch verschmäht sie jedoch das Glück und sagt nach einer erstaunlichen Entdeckung am Grab ihrer Mutter Adieu zu ihrer Vergangenheit.

Márquez ist es gelungen, den Handlungsablauf der jährlichen Wiederholungen stimmungsvoll zu variieren, sodass eine atmosphärische Novelle über die Liebe und die erotischen Abenteuer einer Frau entstanden ist. In seinem Nachwort beleuchtet der Herausgeber Cristóbal Pera die Diskussion um die Entstehung und Veröffentlichung des Buches. Er selbst sah sich in der Rolle eines Restaurators, der das Fragment nicht verändern, sondern es Seite für Seite stärker machen wollte.

Rodrigo García, Regisseur und Kameramann, hat zudem mit A Farewell to Gabo and Mercedes (2021, dt. Abschied von Gabo und Mercedes) (Gabo Kosename für Gabriel) Erinnerungen an seine Eltern vorgelegt. Der Vater ist im März 2014 mit einer Lungenentzündung in ein Krankenhaus in Mexiko-Stadt eingewiesen worden. Doch es ist Lungenkrebs und nach Ansicht der Ärzte bleiben ihm noch ein paar Monate, womöglich länger, aber nur mit einer Chemotherapie. Die Familie entschließt sich, den Vater nach Hause zu nehmen, wo er von Pflegekräften versorgt wird. Doch aus den prognostizierten Monaten werden Wochen. Der Sohn fliegt zwischendurch nach Los Angeles, wo er ein paar Tage im Schneideraum verbringt. Dann der nächtliche Anruf seines Bruders: „Er hat hohes Fieber. Der Arzt meint, du solltest lieber zurückkommen.“ Die neue Prognose der Ärzte ist unerbittlich: „Ihm bleiben keine vierundzwanzig Stunden mehr.“

Die letzten Stunden am Krankenbett, bis sein Herz stillsteht. Später müssen die Medien informiert werden. Am frühen Abend kommt bereits das Bestattungsinstitut. Tage später eine Gedenkfeier mit Blitzlichtgewitter, zu der auch der kolumbianische Präsident eingetroffen ist. Aus der ganzen Welt treffen Kondolenzschreiben ein.

Zwischen all diesen Ereignissen und Aktivitäten immer wieder Erinnerungen an die Eltern, stets liebevoll und respektvoll, an die eigene Kindheit mit dem Bruder und den persönlichen beruflichen Werdegang. Die Verbindungen zum Vater waren aber durch seinen Ruhm und den langen Abschied aufgrund seines Gedächtnisverlustes von „einer komplizierten Gefühlslage begleitet“. Am Ende dann ein Sprung in den August 2020, als die Mutter mit fünfundsechzig Jahren verstarb. Mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Selbstbewusstsein war sie stets ein Vorbild. Der Verlust des zweiten Elternteils war für Rodrigo García wie ein Blick durch ein Teleskop, wo plötzlich ein Planet nicht mehr zu finden ist. Erst nach dem Tod der Mutter entschloss sich Rodrigo García, die Notizen, die er am Sterbebett seines Vaters gemacht hatte, in Buchform herauszubringen. Ergänzt wird die Neuerscheinung durch einige private Familienfotos und eine dreiseitige Auflistung der wichtigsten Lebensdaten von Gabriel García Márquez.

Neben dem umfangreichen literarischen Werk von García Márquez sind seine journalistischen Arbeiten weitgehend unbekannt. Aus den Tausenden von Reportagen, Glossen, Berichten und Erzählungen haben die Übersetzerin Dagmar Ploetz und der Lektor Hans Jürgen Balmes eine repräsentative Auswahl unter dem Titel Der schönste Beruf der Welt zusammengestellt. Die Auswahl ist in vier chronologische Kapitel aufgeteilt. Den Auftakt machen Texte aus den Jahren 1948 bis 1952, als García Márquez mit Zeitungsartikeln seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht verdiente. In der frühen Reportage Der Dompteur des Todes nahm er z.B. auf ein aktuelles Ereignis Bezug: Ein Schiff mit einem Zirkus an Bord war in der Karibik gesunken. Bereits in diesen frühen Texten, die eher poetische Feuilletons sind, ist der spätere Romancier zu entdecken.

1954/55 verfasste García Márquez eine mehrteilige Reportage über La Sierpe, eine geheimnisvolle Gegend in den Sumpfgebieten an der kolumbianischen Atlantikküste. Ihn faszinierten die kulturellen Traditionen und das Zusammenleben der abgeschiedenen Gemeinde. Außerdem schrieb er eine Reihe von Mini-Chroniken über „El Chocó“, eines der historischsten und ältesten Departements des Landes. Ab 1955 begann für García Márquez ein neuer Lebensabschnitt, er unternahm als lateinamerikanischer Journalist einige Reisen durch Europa. Hier berichtete er zunächst aus Italien und Paris. Als die Zeitschrift El Espectador jedoch von der Militärregierung eingestellt wurde, hat er keinen Arbeitgeber mehr. So musste er sich in Paris durchhungern, ehe er Ende der 1950er Jahre mit dem Journalisten Plinio Apuleyo Mendoza einige sozialistische Länder bereiste. Diese Ostblockreportagen zeigen den ernüchternden Blick eines Fremden hinter den „Eisernen Vorhang“. Die ausgewählten Artikel der Jahre 1961 bis 1995 befassen sich mit dem Militärputsch in Chile 1973, dem spurlosen Verschwinden des argentinischen Schriftstellers Haroldo Conti (1925-1976?) oder mit der Regierungskrise in Spanien 1994. Selbst nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1982 schrieb García Márquez weiterhin fast wöchentlich Artikel. „Den Journalismus halte er für seinen eigentlichen Beruf“, hatte er einmal in einem Interview geäußert.

Im Anhang der Neuerscheinung finden sich Nachweise zu den verschiedenen Übersetzer*innen der Reportagen und Geschichten. Außerdem gibt Dagmar Ploetz in ihrem Nachwort einen Überblick über die Spannbreite der journalistischen Arbeiten von García Márquez und darüber, welche Motive und Figuren aus diesen Texten in seinen späteren literarischen Werken Verwendung fanden.

Titelbild

Gabriel García Márquez: Wir sehen uns im August. Roman.
Mit einem Vorwort von Rodrigo und Gonzalo García Barcha. Mit Anmerkungen des Herausgebers Cristóbal Pera.
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
142 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783462006421

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Titelbild

Rodrigo García: Abschied von Gabo und Mercedes. Erinnerungen an meinen Vater Gabriel García Márquez.
Mit einigen historischen Abbildungen und einer Chronologie.
Aus dem Englischen von Elke Link.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
176 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462003055

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Gabriel García Márquez: Der schönste Beruf der Welt. Journalistische Texte und Reportagen aus fünf Jahrzehnten.
Ausgewählt von Dagmar Ploetz und Hans Jürgen Balmes. Mit einem Nachwort von Dagmar Ploetz.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
316 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783596904235

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