Martin Buber und Johannes Bobrowski

Ethik und Erinnerung in der sarmatischen Lyrik

Von Sabine EggerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Egger

Bernd Leistner weist bereits 1981 auf Johannes Bobrowskis Rezeption der Schriften Martin Bubers in den fünfziger Jahren hin. Deren Bedeutung für die sarmatische Lyrik, d.h. die meisten der in Sarmatische Zeit (1961) und Schattenland Ströme (1962) enthaltenen Texte, geht allerdings noch über die von Leistner festgestellte, kurzzeitige Auseinandersetzung mit dem Weltbild der Chassidim hinaus. Bis in die sechziger Jahre hinein lassen sich die Mehrzahl der Gedichte Bobrowskis als eine Form poetischer Erinnerung lesen, deren dialogische Struktur eine interkulturelle Dimension besitzt.

Damit ist kein erzieherischer Dialog mit dem Leser gemeint, wie er zum Teil in Bobrowskis Prosatexten stattfindet. Stattdessen ist die sarmatische Lyrik weitgehend nach innen gerichtet. Es handelt sich um einen dichterischen, teils paradoxen Dialog mit der Vergangenheit. Er habe damit versucht, wie der Autor 1964 in einem Interview des Deutschlandsenders erklärt, das „Verhältnis der Deutschen zu den östlichen Nachbarvölkern […], auch mit dem Mittel des Gedichts in etwa für mich zu klären.“[1]  Das bedeutet in erster Linie die Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrung im Kontext deutsch-mittelosteuropäischer Geschichte: Bobrowskis Kindheit im Memelgebiet,  einer Gegend deren Kultur von jüdischen, deutschen, polnischen und litauischen Einflüssen geprägt ist,  und seine Teilnahme als deutscher Soldat an der Vernichtung der nun als „Untermenschen“ klassifizierten Angehörigen der anderen Kulturen, wie auch die Suche nach einer angemessenen ästhetischen Form für dieses Eingedenken.

Der Blick geht dabei räumlich über die vom Autor erfahrenen Orte und zeitlich sowohl über den biographischen als auch den geschichtlichen Rahmen hinaus – eine Perspektive, die Bobrowski im Titel seines ersten Gedichtbandes mit dem spätantiken Begriff „Sarmatia“ umschreibt. Durch die Adaption mythischer Stoffe und Strukturen und den Bezug auf Geschichtliches und Biographisches, entsteht in den Gedichten ein poetischer Gedächtnisraum, der strukturelle Parallelen zu Ernst Cassirers (1923-29) mythischem Raum aufweist und  in dem Begegnungen und Erfahrungen möglich sind, die im empirischen Raum nicht stattfinden könnten. Der Erinnerungsprozess nimmt darin immer wieder die Struktur eines  Dialoges mit einem vergangenen Anderen an, wobei das Andere durch einen zeitlichen und kulturellen Abstand vom Dichter der Gegenwart getrennt ist. Dieser Prozess entspricht in verschiedener Hinsicht der Dialogik Martin Bubers.

Bobrowski schrieb sich Bubers 1953 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in Frankfurt gehaltene Rede, „Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens”, die er im Radio hörte, ab.  Im Mittelpunkt dieser Rede steht die Zuversicht, dass das „Gespräch“ zwischen Individuen und „Völkern“ nach Ende des Zweiten Weltkrieges einen dauerhaften Frieden schaffen kann:

Ich glaube trotz allem, daß die Völker in dieser Stunde ins Gespräch, in ein echtes Gespräch miteinander kommen können. Ein echtes Gespräch ist eins, in dem jeder der Partner den andern, auch wo er in einem Gegensatz zu ihm steht, als diesen existenten Anderen wahrnimmt, bejaht und bestätigt; nur so kann der Gegensatz zwar gewiß nicht aus der Welt geschafft, aber menschlich ausgetragen und der Überwindung zugeführt werden.

Buber greift hier Grundgedanken der Ethik des Dialoges auf, die er 1923 in seinem  „Ich und Du“ entwickelt und welche die Basis für seine späteren Schriften darstellen: der Respekt für die „Anderheit“ des Anderen und die Bedeutung des Gesprächs für die Verwirklichung der Humanität. Dabei ist die Existenz eines Du notwendige Bedingung für die Realisierung eines Eigenen, also der Ich-Werdung. Seine Frankfurter Rede als „solidarisches Bekenntnis zum gemeinsamen – auch Juden und Deutschen gemeinsamen – Kampf gegen das Widermenschliche“ war Anfang der fünfziger Jahre gerade wegen ihrer versöhnenden Annäherung von Tätern und Opfern des Nationalsozialismus auch für andere deutschsprachige Autorinnen und Autoren, wie Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs oder Paul Celan, von Bedeutung.

Bobrowski hatte sich in seiner 1952 enstandenen „Pruzzischen Elegie“ die Aufgabe gestellt, den „nie besungenen/Untergang“ des vom Deutschen Orden im 13. Jahrhundert weitgehend vernichteten „Volk[es]“ der Prußen ins kollektive Gedächtnis zu rufen (GW I, S. 33-35). Den Anspruch, dies für die verschiedenen Kulturen seiner Heimatregion in Form eines „Sarmatischen Divan“ zu versuchen, wird er in den folgenden Jahren zum Teil wieder aufgeben (GW I, S. XLIII). In Bubers Konzept muss er ein Modell des Dialoges erkannt haben, das sich poetisch umsetzen ließ und eine ethische Rechtfertigung für deutsche Gedichte „nach Auschwitz“ auch gegenüber den jüdischen Opfern bildete. Der biblische Humanismus des Juden Buber bot dem christlichen Humanisten Bobrowski eine gemeinsame Basis. Bobrowski erwarb 1956 eine Ausgabe der 1949 von Buber herausgegebenen Erzählungen der Chassidim. 1957 erhielt er eine von Buber überarbeitete Ausgabe des finnischen Nationalepos Kalewala als Geschenk von Edith Klatt. Außerdem befanden sich in Bobrowskis Bibliothek beide der von Buber 1921 und 1955 herausgegebenen Geschichten des Rabbi Nachmann,  Bubers Gog und Magog: Eine Chronik (1957), dessen Buch der Preisungen (1958) und der im selben Jahr erschienene Vortrag über „Schuld und Schuldgefühle“ (1958).

Die sarmatischen Gedichte stellen häufig eine Anrede bzw. Anrufen eines in der Gegenwart des Ich nicht mehr präsenten Anderen dar oder ein Lauschen auf dessen Rede. Das 1954 entstandene „Die Spur im Sand“ erinnert in dieser Form an ein Ereignis der Vergangenheit, die Abholung des orthodoxen Juden Aaron. Der Erinnerungsprozess findet ab der vierten Zeile in Form eines Gesprächs des lyrischen Ich mit dem Opfer statt, das als „Du“ angesprochen wird.

Die Spur im Sand

Der blasse Alte
im verschossenen Kaftan.
Die Schläfenlocke wie voreinst. Aaron,
da kannte ich dein Haus.
Du trägst die Asche
im Schuh davon.

Der Bruder trieb
dich vor die Tür. Ich ging
dir nach. Wie wehte um den Fuß
der Rock! Es blieb mir eine Spur
im Sand.

Dann sah ich
manchmal abends
von der Schneise
dich kommen, flüsternd.
Mit den weißen Händen
warfst du die Schneesaat
übers Scheunendach.

Weil deiner Väter Gott
uns noch die Jahre
wird heller färben, Aaron,
liegt die Spur
im Staub der Straßen,
finde ich dich.
Und gehe.
Und deine Ferne
trag ich, dein Erwarten
auf meiner Schulter. (GW I, S. 28)

Im Prinzip bleibt das Gespräch auf die Anrede des Opfers durch das Ich beschränkt. Versteht man das Dialogische als Strukturphänomen, lässt es sich aber als potentieller Dialog bezeichnen. Diese reduzierte Form des Dialoges charakterisiert die Gedichte Bobrowskis, in denen ein Gespräch mit dem Repräsentanten einer Opfergruppe versucht wird. Im Gegensatz zu seinen Liebes- und Porträtgedichten bleibt die Antwort des Angesprochenen auf eine Zukunftshoffnung beschränkt.

Das unterscheidet sich auf den ersten Blick von der dialogischen Ich-Du-Beziehung, die Buber als Verwirklichung menschlicher „Verantwortung“ bezeichnet, wobei Verantwortung hier auch wörtlich zu verstehen ist, als Bereitschaft, sich ansprechen zu lassen und Antwort zu geben. Denn diese bezieht sich bei Buber zunächst auf die konkrete Begegnung zweier Menschen in einem beliebigen sozialen Kontext, sie umfasst beide Seiten und deren ganzes Wesen. Bereits in „Ich und Du“ geht Buber aber darüber hinaus und schließt, neben der Beziehung zu Naturgegenständen prinzipiell auch die zu Toten und damit zur Vergangenheit ein. Die lebenden Menschen sollen untereinander und mit den Toten „zusammenwirken“, um eine Gemeinschaft zu schaffen. Denn das  echte Gespräch zwischen Menschen schließt für Buber immer das Gespräch mit dem transzendentalen, absoluten Anderen des Glaubens mit ein.

Hier deuten sich bereits Anknüpfungspunkte für den räumliche und zeitliche Grenzen überschreitenden Dialog des Ich mit dem Du der Vergangenheit in Bobrowskis Lyrik an. Weit wichtiger für das Verständnis des reduzierten Dialoges in den sarmatischen Gedichten ist aber das „Zwischen“ als Grundbegriff von Bubers Ethik. Es bezeichnet die strukturelle Ganzheit, die über die Haltung des Einzelnen hinausreicht und Ich und Du umgreift. Das weist auf den ontologischen Charakter seiner Dialogik hin. Gefühle sind für Buber nur eine Begleitung der „Beziehung, die sich nicht in der Seele, sondern zwischen Ich und Du vollzieht“. Das Zwischen ist grundsätzlich der Raum, in dem etwas aus sich heraus und damit in eine Beziehung zu einer anderen Wirklichkeit tritt. In der Erzählung „Dazwischen“, die Bobrowski sich in seiner Ausgabe von Bubers Erzählungen der Chassidim rot markiert hatte, heißt es

Kein Ding der Welt vermag aus einer Wirklichkeit in eine andere Wirklichkeit zu kommen, wenn es nicht vorher zum Nichts, das ist zur Wirklichkeit des Dazwischen, kam.

Das Zwischen verbindet Ich und Welt. Dabei verdankt sich das Ich „dem Dusagen, nicht der Person, zu der ich Du sage“, wie Buber in „Antwort“ ausführt. Das unterstreicht die besondere Bedeutung der Sprache als Kommunikationsmittel zwischen Menschen in Bubers Dialogik. Denn erst durch die Sprache erwirbt der Mensch die Fähigkeit, etwas als anders zu erfassen und damit den Anderen als Du wahrzunehmen.  Vor allem verweist es auf die Bedeutung des Anrufens oder Dusagens selbst, auch wenn das Ich darauf keine Antwort erhält. (So heißt es in Bubers Rede von 1953: „Der Krieg hat von je einen Widerpart, der fast nie als solcher hervortritt, aber in der Stille sein Werk tut: die Sprache, – die erfüllte Sprache, die Sprache des echten Gesprächs, in der Menschen einander verstehen und sich miteinander verständigen.“)

Auf der räumlichen Ebene konkretisiert sich das Zwischen in „Die Spur im Sand“ in der Bewegung des Ich zwischen Distanz und Nähe zum Du. Das Ich beobachtet das Du aus einer Ferne, die in der drittletzten Zeile des Textes direkt angesprochen wird. Dass er es „flüstern“ hört, statt Worte zu verstehen, ihm nachgeht, statt ihm direkt zu begegnen, weist ebenfalls auf die zeitliche und ethische Distanz, die den Dialog zwischen Ich und Opfer bestimmt. Diese Distanz ist auch in Gedichten wie „Gedenkblatt“ (1960) oder „An Nelly Sachs“ (1961) spürbar. In„Urdistanz und Beziehung“ (1951) schreibt Buber: „ohne Distanz kommt keine Achtung vor der inneren Zweckhaftigkeit der Selbständigkeit, der ‚Anderheit’ des Gegenüber [sic!] zustande“. Umgekehrt führt die Distanz ohne das Beziehungsstreben zu einer kühlen, objektivierenden Wahrnehmung der Wirklichkeit. Beide Tendenzen sind also notwendig. Diese Art der Distanz ist nach Buber die Voraussetzung für das menschliche Gewissen.

Das gilt auch für den Umgang des Einzelnen mit seiner Beteiligung am Völkermord. Er muss „die einst durch ihn verletzte Seinsordnung an seinem Orte und nach seinem Vermögen durch das Verhältnis einer aktiven Hingabe zur Welt wiederherstellen. Denn die Wunden der Seinsordnung können an unbestimmbar vielen anderen Orten geheilt werden, als an denen sie geschlagen wurden“, so Buber in den Erzählungen der Chassidim. Die zwischen Distanz und Nähe changierende Hinwendung des Dichter-Ich zu den Opfern der Vergangenheit im obigen Gedichtbeispiel lässt sich damit aber nur zum Teil erklären. Sie ist hier und in den übrigen Gedichten Ausdruck eines aufgrund der Mitschuld des Dichters an ihrer Vernichtung gebrochenen Annäherungsprozesses an ein zeitlich und kulturell Anderes. Dieser Bruch kommt in Bobrowskis Gedichten der sechziger Jahre deutlicher zum Ausdruck. Desorientierung und Fremdheit als Teil dieses Prozesses als einer Form des Eingedenkens kommt z.B. in „Erzählung“ (1961) durch die Bewegung des Ich in einer unwirklichen Umgebung und die nicht bestimmbare Identität des in der Schlussstrophe angesprochenen Du zum Ausdruck.   Auf der sprachlichen und bildlichen Ebene manifestiert sich hier eine paradoxe Dynamik: Einerseits beschreiben Verben wie „erblicken“ oder „zutreten auf“ die Annäherung des Ich an das Vergangene, andererseits enthalten die in denselben Sätzen benutzten Attribute „augenlos“, „unhörbar“ und „ohne Stimme“ eine gegenteilige Aussage: „[…]//augenlos erblicke ich dich,/ich tret auf dich zu/unhörbar,/ich rede dich an/ohne Stimme.“ (GW I, S. 87).

Das Gegenüber des Ich erscheint in unterschiedlicher Gestalt. In den Gedichten aus den sechziger Jahren befindet sich das Dichter-Ich in zunehmendem Maße im Gespräch mit einer elementaren, menschenleeren Naturlandschaft. Angesichts der Vernichtung ihrer Bewohner im Laufe der Geschichte agiert die Natur hier als Sprecherin dieser Opfer, in einer Sprache, die dem Leser im Gegensatz zum Ich nicht unmittelbar verständlich ist. So wird in „Nachtfischer“ von 1963 eine Natur evoziert, in der zwar ein allseitiges Gespräch möglich scheint, aber keine konkreten Spuren der menschlichen Kultur sichtbar sind. Diese werden vom Ich akustisch wahrgenommen:

Nachtfischer

Im schönen Laub
die Stille
unverschmerzt.
Licht
mit den Händen
über einer Mauer.
Der Sand tritt aus den Wurzeln.
Sand, geh rot
im Wasser fort,
geh auf der Spur der Stimmen,
im Finstern geh,
leg aus den Fang am Morgen.
Die Stimmen singen silberblaß,
bring fort,
in Sicherheit,
ins schöne Laub die Ohren,
die Stimmen singen:
tot ist tot. (GW I, S. 186)

Der Naturgegenstand „Sand“ wird hier aufgefordert, der „Spur der Stimmen“ zu folgen. Wie die menschlichen Stimmen singt die Natur vom Tod. In ähnlicher Weise spricht sie in „Antwort” (1963) für die in ihr verscharrten Toten, und in „Die Sarmatische Ebene” (1956) oder  „Wilna” (1955) „singt” die Landschaft von ihren vernichteten Bewohnern. Die Interpretation der Naturlandschaft auf menschliche Geschichte hin ist dabei ganz in die Wahrnehmung des Ich verlegt. Denn die Natur als Zeugin und von der geschichtlichen Zerstörung Mitbetroffene gibt in Gedichten wie dem zitierten nur durch ihre eigene Natursprache, d.h. die Finsternis, in anderen Texten die Stille, die Jahreszeit Winter und die Leere Auskunft über das Geschehene. Bubers Verständnis der Natur als Exempel für ein ganz Anderes ist daher wohl die wichtigste Parallele zum Dialog mit der Natur in der sarmatischen Lyrik. 

Im Gegensatz zu Buber geht es Bobrowski in seinen Naturlandschaften aber nur indirekt um ontologische Zusammenhänge. Die Natur steht für den anderen Menschen und seine geschichtliche Erfahrung, wie auch für die Erfahrung des Ich; sie bewahrt die Geschichte und teilt sie dem lyrischen Ich als eine Antwort auf sein Rufen und Suchen mit. Jedoch stellt die Natur keinen bloßen Informationsspeicher dar, dessen Inhalt direkt verfügbar ist, sondern ein Lebewesen, das dem Ich nicht immer sofort antwortet oder die Antwort sogar verweigert. Sie offenbart ihren zeichenhaften Charakter im Rahmen eines epiphanischen Geschehens, das eine „Antwort auf die Erwartung“ des Ich darstellt, wie Oliver Schütze in seiner Untersuchung zur Lyrik Bobrowskis und Hölderlins zeigt. Die Beziehung des Dichter-Ich zu den Zeichen der Natur ist also ein Wechselverhältnis. Dabei kann die momentane Identifikation mit der Natur, d.h. eine zu große Nähe, auch eine existentielle Gefahr für das Ich bedeuten, wie z.B. in „Wetterzeichen“ (1960). Die Natur behält dem Ich gegenüber also einen Grad von Fremdheit.

Diese Fremdheit verschwindet allerdings auf der Ebene des Sprachverständnisses. Zwar wird der Natur als Du auch hier eine größere Unabhängigkeit zugestanden als bei einer objektivierenden, begrifflichen Vereinnahmung. Denn das Dichter-Ich nimmt die Zeichen zuerst wahr und empfängt sie, bzw. „benennt”/„beschwört” sie, um sie dann – antwortend – im Zusammenhang seines Geschichtsverständnisses zu deuten. Letztlich bringt die mit dem Benennen verbundene Rolle des Ich als Übersetzer der Natursprache es jedoch in eine der kreatürlichen Natur überlegene Position.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt von Bubers Naturverständnis, der für Bobrowskis Gedichte von Bedeutung ist.  Denn sowohl Mensch als auch die nicht-menschliche Natur verweisen für Buber auf „Gott“ als „ewiges Du“. Dies geht auf den Chassidismus zurück – eine der Hauptquellen für Bubers Dialogik. Der chassidischen Bewegung liegt die Vorstellung zugrunde, dass Gott die gesamte Schöpfung durchdringt. Durch die Konzentration auf das Wesenhafte der Dinge und ekstatische „Begeisterung“ gelangt der Mensch zur Einheit mit Gott. So übt der Gläubige seine Religion nicht nur im Gebet und im Dienst am Nächsten aus, sondern auch im Tanz und Gesang. Grundlegend für den Chassidismus ist, wie Buber in seiner Einleitung zu den Erzählungen der Chassidim schreibt, die Überwindung des Weltleids durch Freude, damit „einigt der Gläubige Gott und Schechina, die einwohnende Gegenwart Gottes in der Welt“, Ewigkeit und Zeit, und verwirklicht so eine mystische Einheit aller Dinge im Jetzt.          Gedichte wie „An den Chassid Barkan“ (1960) zeichnen das Bild einer chassidischen Kultur, die trotz erfahrener Verfolgung von Harmonie und Lebensfreude geprägt ist.  Auch weist das Motiv der Wanderschaft in den sarmatischen Gedichten deutliche Züge der chassidischen Schechina auf. Dass Bobrowskis typisierende Darstellung jüdische Opferfiguren dadurch in die Nähe eines philosemitischen Stereotyps rückt, steht dem Dialog mit dem Anderen im Wege – was übrigens in noch höherem Maße auf das von Buber vermittelte Bild osteuropäischer Juden zutrifft, ebenso wie dessen freie Adaption der chassidischen Legenden. Dabei geht die Vorstellung von „Völkern” und ihren Beziehungen zueinander sowohl bei Buber als auch bei Bobrowski auf J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91) zurück.

Bobrowski hat sich in Bubers Erzählungen der Chassidim nicht zuletzt die Stellen angestrichen, in denen es um Ganzheitlichkeit geht. Dazu gehört Bubers Hervorhebung der chassidische Einheit von sinnlicher Wahrnehmung und Geist in seiner Einleitung. Weit wichtiger für die Natursprache bei Bobrowski ist jedoch bereits in den späten fünfziger Jahren der Einfluss Johann Georg Hamanns. Hamann zufolge ist alle Wirklichkeit eine Rede Gottes an den Menschen, die dessen Antwort herausfordert. Spricht Gott in der Bibel offen zum Menschen, so spricht er auf rätselhafte Weise durch die Natur und die Geschichte zu ihm. Bobrowski setzt diese Vorstellung in seinen Gedichten um, indem er das Ich in der Natur Zeichen lesen lässt, die auf die menschliche Geschichte deuten.

Die Philosophie Hamanns ist für  Bobrowskis Gesamtwerk von besonderer Bedeutung. Lässt sich seine Rezeption Bubers zwar relativ deutlich in der dialogischen Struktur und im Judenbild der bis Anfang der sechziger Jahre entstandenen Gedichte erkennen, bilden Ideen Hamanns bereits in dieser Phase einen ästhetischen und philosophischen Rahmen dafür.  In den späteren Gedichten tritt dies noch stärker in den Vordergrund, während sie sich gleichzeitig von einem Dialog im Sinne Bubers entfernen. Ihre dialogische Struktur weist zunehmend Brüche auf: den historisch-biographischen Bruch, von dem der Erinnerungsprozess bestimmt ist, wie auch den damit verbundenen Widerspruch zwischen dem wachsenden Bewusstsein der Unmöglichkeit des Dialogs mit den Opfern des Völkermords in einer im Sinne Herders sinnlichen Gedichtsprache und dem Festhalten an der Hoffnung auf Kommunikation durch eine solche Sprache. Im Grunde bleibt dieser Widerspruch in den späten Gedichten bestehen, wenn Bobrowskis Naturzeichen darin auch eine moderne Form von Ganzheitlichkeit im Sinne Hamanns darstellen, da ihre sinnliche Konkretheit durch die Fragmentierung von Bildlichkeit und Sprache gebrochen wird.

Dieser Bruch findet keine Entsprechung in Bubers Dialogik. Das ist vielleicht mit ein Grund für die Verlagerung des sarmatischen Themas in die Prosa in dieser Zeit. Trotz ihrer zunehmenden Problematisierung ist die von Buber beeinflusste dialogische Grundstruktur selbst in späteren Gedichttexten noch erkennbar, die sich mit dem sarmatischen Erinnerungsthema beschäftigen. In diesen Gedichten entsteht durch die Bewegung des Ich im Raum, die Gedichtsprache, wie auch stoffliche Bezüge zu den fremden Kulturen ein dialogischer Zwischenraum. Die absolute Polarität von Ich und Du, Eigenem und Fremden, Gegenwart und Vergangenheit wird teilweise überwunden, ohne diese Opposition einfach umzupolen oder das Spannungsmoment ganz aufzulösen. Die ästhetische Verklammerung von Gegensätzen, ohne sie zu vereinheitlichen, macht die Text zu einer dichterischen Form dialogischer Fremderfahrung. Diese ästhetische Umsetzung des Dialoges ließe sich mit dem auf Buber aufbauenden Ansatz des französischen Philosophen Emmanuel Lévinas fassen, wenn dieser Bobrowski auch nicht bekannt war.

Denn Lévinas weitet Bubers Vorstellung des Dialoges konzeptuell aus und bietet dabei Ansatzpunkte für das Verständnis der Erinnerung als eine Form der Beziehung zum Anderen. Diese ist bei ihm nicht von der Erfahrung des Holocaust zu trennen. So ist das Andere für Lévinas in Die Zeit und der Andere (1948) in erster Linie „der stumme Punkt“ oder „blinde Fleck“, den der Holocaust hinterlassen hat, und dem das Ich sich in der Erinnerung dialogisch zu nähern versucht. Diese geschichtliche Dimension, die das Andere bei Lévinas von dem Bubers unterscheidet, ist für die sarmatische Lyrik von zentraler Bedeutung. Ebenso entsprechen  Komplexität und Grad der Fremdheit des Anderen aufgrund des Bruches, der die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges in Bobrowskis Gedichten markiert, eher der Fremdheit bei Lévinas. Liegt der Schwerpunkt der ethischen Beziehung zum Anderen bei Buber auf dem Gespräch und damit letztlich auf der Gegenseitigkeit dieser Beziehung, steht bei Lévinas der Respekt und die Verantwortung des Ich dem Anderen als einem unüberwindbar Fremden gegenüber im Vordergrund. Für ihn kann sich die Anderheit des menschlichen Du nur als „Spur“ zeigen, welche dem Ich ganz und gar unbegreifbar und unverfügbar im „Antlitz“ der Person gegenübertritt, eine „personale Ordnung“ „jenseits des Seins“. Lévinas grenzt sich hier bewusst von Bubers Dialogik ab und führt dies in seinem Aufsatz zu „Martin Buber und die Erkenntnistheorie“ aus. 

Trotz der Parallelen zwischen Bobrowskis sarmatischer Erinnerungspoetik und Aspekten des Denkens Bubers und Lévinas‘ ist zu fragen, inwiefern die  Auseinandersetzung mit dem – jüdischen – Anderen in Bobrowskis Lyrik letztlich doch einem absolut gesetzten christlichen Weltbild im Sinne Hamanns untergeordnet wird. Denn die moralische Pflicht des Gedenkens, die für Bobrowskis Erinnerungspoetik so eine zentrale Rolle spielt, basiert auf einer christlichen Vorstellung von Schuld und Sühne. Diese Perspektive wird besonders in den späteren Gedichten, wie „Der Wanderer“ (1960) oder „Wiedererweckung“ (1963), reflektiert, aber zu keiner Zeit grundsätzlich in Frage gestellt. Zugleich stellt die Offenbarung Gottes die Zukunftshoffnung auf Versöhnung und damit das Gegenteil der geschichtlichen Erfahrung dar. So ist die religiöse Komponente der Hamannschen Vorstellung auch hier in Form der Hoffnung als eschatologischer Erwartung vorhanden.

Literaturhinweise:

Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hg. Eberhard Haufe/Holger Gehle. Stuttgart/Berlin: dva 1987-1999 ( Bd. I-IV (Hg. E. Haufe) Stuttgart/Berlin 1987, Bd. V (Hg. E. Haufe) Stuttgart 1998; Bd. VI (Hg. H. Gehle) Stuttgart 1999).

Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich: Manesse 1949.

Buber, Martin: Werke, Bd. I-III. München: Kösel 1962-1964.

Buber, Martin: Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens. In: Fünf Ansprachen anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Frankfurt/M.: Börsenverein Deutscher Verleger- und Buchhändler-Verbände 1953 [Sonderdruck], S. 33-41.

Bukauskaite, Dalia: Kommentierter Katalog der nachgelassenen Bibliothek von Johannes Bobrowski. Trier: wvt 2006.

Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I-III Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964.

Hanssen, Beatrice: Walter Benjamin’s Other History: Of Stones, Animals, Human Beings and Angels. Berkeley u.a.: University of California Press 1998.

Israel, Joachim: Martin Buber: Dialogphilosophie in Theorie und Praxis. Berlin: Duncker & Humblot, 1995.

Leistner, Bernd: Johannes Bobrowski. Studien und Interpretationen. Berlin: Rütten & Loening 1981.

Schütze, Oliver: Natur und Geschichte im Blick des Wanderers: Zur lyrischen Situation bei Bobrowski und Hölderlin. Würzburg: Königshause & Neumann 1990.

Robertson, Richie: Western Observers and Eastern Jews: Kafka, Buber, Franzos. In: The Modern Language Review (1988), Bd. 83, Nr. 1, S. 87-105.

Werner, Hans-Joachim: Martin Buber. Frankfurt/M./New York: Campus 1994.

Veldhuis, Henri: Ein versiegeltes Buch. Der Naturbegriff in der Theologie J. G. Hamanns (1730-1788). Berlin/New York: de Gruyter 1994.

Lévinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere, übers. und mit Nachwort von L. Wenzler. Hamburg: Meiner 1984.

Lévinas, Emmanuel: Martin Buber und die Erkenntnistheorie. In: Martin Buber. Hg. Paul A. Schilpp und Maurice Friedmann. Stuttgart: Kohlhammer 1963.

Anmerkung und Hinweis

[1] Interview mit H. Baldauf: Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn. In: J. Bobrowski: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hg. Eberhard Haufe/Holger Gehle. Stuttgart/Berlin 1987-1999,  hier Bd. IV, S. 463-466, S. 463; Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle GW, Band- und Seitenangabe nachgewiesen.

Hinweis der Redaktion: Der Text basiert auf dem gekürzten Manuskript des unter dem TitelMartin Bubers Ethik und die Ästhetik der Erinnerung in der sarmatischen Lyrik“ 2009 in Andreas Degen/Thomas Taterka (Hg.), Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski – Leben und Werk (Colloquia Baltica 15), München: Martin Meidenbauer, erschienenen Beitrags der Verfasserin.