Ein Roman der Vernunft gebiert Ungeheuer
Zum 100. Geburtstag von Luis Martín-Santos Ribera: Plädoyer für eine Wiederentdeckung seines Romans „Schweigen über Madrid“
Von Karl-Josef Müller
Luis Martín-Santos Ribera (11 November 1924 – 21 January 1964) was a Spanish psychiatrist and author of Time of Silence, often cited as one of the most important Spanish novels of the twentieth century.
„Ein spanischer Roman, gewaltig wie ‚Ulysses‘“, mit diesen Worten charakterisiert Hans Ulrich Gumbrecht in der FAZ vom 7. Mai 2011 den Roman Schweigen über Madrid des spanischen Autors Luis Martín-Santos, zuerst erschienen in Mexiko 1961, 1962 zensurbedingt in einer um zwanzig Seiten gekürzten Fassung veröffentlicht in Barcelona.
Tiempo de silencio, so der Titel des spanischen Originals, das in Spanien schließlich 1981 in ungekürzter Fassung erscheinen konnte, war dem deutschen Publikum erst zehn Jahre später zugänglich. Es erschien in der Reihe Die Andere Bibliothek des Eichborn Verlages in der Übersetzung von Eugen Helmlé.
Diese Ausgabe allerdings ist längst vergriffen. Eine Neuauflage, geschweige eine Neuübersetzung, über deren Notwendigkeit nur Kenner der spanischen Sprache urteilen können, ist nicht absehbar. Aus unserer Sicht dürfte eine überarbeitete deutschsprachige Version Sinn machen, wie die Übertragung des Titels andeutet. Denn uns will nicht einleuchten, warum aus einer Zeit des Schweigens ein Schweigen über Madrid geworden ist, zumal die englische Übersetzung Time of Silence lautet.
Wir zitieren einige Stimmen, welche die Bedeutung des Romans hervorheben und gleichzeitig das geringe Interesse in Deutschland an diesem Werk beklagen.
Die wenigen Leser des Werkes jedoch – unabhängig davon, ob sie den Roman denn nun mochten oder sich von ihm provoziert fühlten – zweifeln nicht daran, dass Tiempo de Silencio zu einer sehr kleinen Gruppe von Romanen gehört (wir mögen sogar von einem Subgenre sprechen), die durch bekanntere Texte wie James Joyces Ulysses, Marcel Prousts A la recherche du temps perdu oder Robert Musils Mann ohne Eigenschaften geprägt ist, also zu einer Gruppe von Texten gehört, die in mancherlei Weise die Literatur des 20. Jahrhunderts bestimmt hat.
Hans Ulrich Gumbrecht: Hispanische Vitalität? Über die Message – so es denn eine gab – des Romans Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/transcript.9783839421604.201/pdf
Das unter Aspekten der Gesellschaftskritik, der Romanästhetik wie der Stadtdarstellung höchst aufschlussreiche, originelle Buch hat in Deutschland nur ein geringes Echo erfahren, bis es im Vorfeld des Spanien-Schwerpunkts der Frankfurter Buchmesse endlich 1991 ins Deutsche übertragen wird (und eher durch Zufall zwanzig Jahre später durch Hans-Ulrich Gumbrecht einen Blitzauftritt im deutschen Feuilleton erfährt; s. Gumbrecht 2011).
Dieter Ingenschay: Von Madrid zum Himmel? Madrid-Literatur zwischen madrileñismo und Gesellschaftskritik, Berlin 2022.
Was ist für Sie ein moderner Klassiker?
Welge: Das sind für mich vor allem Werke (aber auch Autor:Innen) des 20. Jahrhunderts, die repräsentativ für die literarische Moderne sind und zugleich von immer neuen Generationen gelesen werden. Eine moderne Klassikerin in diesem Sinne ist etwa die brasilianische Autorin Clarice Lispector. Ein moderner Klassiker der spanischen Romanliteratur ist Luis Martín-Santos „Schweigen über Madrid“ (Tiempo de Silencio, 1962).
Im Roman fehlen exakte Zeitangaben; wenn wir uns nicht täuschen, dürfte das Romangeschehen in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielen, also mindestens sechs Jahre nach dem Ende des spanischen Bürgerkrieges 1936 bis 1939.
Ein junger Arzt mit Namen Pedro arbeitet in Madrid an einem Institut, das sich der Krebsforschung widmet. Die Mäuse, die er für seine Versuche benötigt, wurden aus den USA importiert und gehen zur Neige.
So beginnt der Roman, doch, wie eigentlich immer bei Literatur von überzeitlicher Bedeutung: Der Inhalt dieses Werkes tritt zurück hinter seine Form. Wir zitieren nochmals Gumbrecht:
Luis Martín-Santos evoziert in seinem Roman Tiempo de Silencio die alltägliche Welt des Madrid der 1940er Jahre, als Spanien – ein früherer Alliierter der Achsenmächte, ein Alliierter jedoch, der sich geweigert hatte, am Weltkrieg teilzunehmen – international isoliert war und im Land die Talsohle materiellen und intellektuellen Mangels erreicht war.
Doch nicht nur die ästhetische Bedeutung dieses Romans sollte erneut das Interesse des deutschen Publikums wecken. Luis Martín-Santos hat etwa 1950 in Heidelberg studiert, bevor er 1951 zum Leiter des psychiatrischen Sanatoriums von San Sebastián ernannt wurde.
Und damit nicht genug. Wir zitieren den Wikipedia-Artikel zu Luis Martín-Santos, eine andere Quelle steht uns nicht zur Verfügung:
Er sollte in Madrid eine Ausbildung zum Chirurgen machen, hat sich dann aber auch unter Einfluss deutscher Philosophie für die Psychiatrie entschieden (seine 1953 abgeschlossene Dissertation befasst sich mit dem Einfluss von Wilhelm Dilthey auf Karl Jaspers und die Psychoanalyse).
Im Roman lassen sich eine Fülle von Anspielungen auf die spanische Kultur finden, natürlich Cervantes, insbesondere aber auch auf das grafische Werk von Goya, also die Zyklen Desastres de la guerra und Los Caprichos; unverkennbar sind weiterhin Verweise auf die deutsche Kultur der Nachkriegszeit. Schauplätze sind eine Pension, Pedros Unterkunft, deren Betreiberin ihn mit ihrer attraktiven Tochter verkuppeln möchte; ein Bordell, eine Gefängniszelle, ein Atelier; ein Vortrag wird gehalten, eine Abtreibung misslingt und führt zum Tod einer jungen Frau; und schließlich findet die Karriere des aufstrebenden jungen Forschers Pedro jäh ihr Ende, weil er versucht hatte, die nach der Abtreibung schon halb tote junge Frau noch zu retten, woraufhin er im Gefängnis landet. Eine Überfülle von Ereignissen, Eindrücken und Verweisen mündet letztlich in die makabre Geschichte des heiligen Laurentius, der bei lebendigem Leibe auf einem Rost „viviseziert“ wurde, wie es auf der letzten Romanseite heißt. Pedro sieht sein Schicksal in dem des Heiligen gespiegelt, und wie dieser möchte er seinen Peinigern zurufen, ihn endlich umzudrehen; nicht, weil auch er geröstet würde, sondern weil seine Lebenshoffnung bereits verbrannt ist:
Dreh mich um, denn auf dieser Seite bin ich schon geröstet … und der Henker drehte ihn um, bloß damit die Symmetrie gewahrt blieb.
Damit kommen wir auf ein anderes Thema zu sprechen, das unmittelbar mit unserem Plädoyer in Verbindung steht.
„Wir leben heute in einer Blütezeit des literarischen Übersetzens“, konstatiert der Deutsche Übersetzerfonds in einer Erklärung vom 16. August 2024, um gleichzeitig darauf hinzuweisen, wie gefährdet diese Blütezeit ist. „Die drohende Kürzung in der Förderung des Deutschen Übersetzerfonds (von 2,45 Millionen Euro / Haushaltsansatz 2024, bewilligt wurden letztendlich 2,15 Millionen – auf 1,5 Millionen im Haushaltsentwurf 2025) bedeute einen Bruch in dieser Geschichte – bei gleichzeitig steigendem BKM-Etat.“
Zu verantworten hat diese Kürzung unseres Wissens Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die noch zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse am 14. Oktober die wichtige Rolle des Übersetzens hervorhob. Scheinheilig, möchte man sagen, denn wenn wir nichts übersehen haben, fehlt jeder Hinweis auf die zu beklagende Kürzung des entsprechenden Etats:
Und ich weiß sehr wohl, dass die Zeiten für die Literatur, für die Übersetzer:innen, für die vielen kleineren Verlage, die den Reichtum der Vielfalt in unserem Land ausmachen, für die Buchhändler:innen und den Buchmarkt insgesamt überhaupt nicht einfach sind. Das ist mir sehr bewusst. Mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen unterstütze ich mit meinem Haus bereits Ihr so wichtiges Wirken: Mit dem Literatur- und Übersetzerfonds, mit dem Verlagspreis, mit dem Buchhandlungspreis, mit der Garantie, dass diese Regierung an der Buchpreisbindung und dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz festhalten wird – und nicht zuletzt mit dem bereits genannten KulturPass. In unserer sehr sehr schwierigen, und sie ist wirklich verdammt schwierig, Haushaltssituation habe ich für die Kultur, für den Kulturhaushalt gekämpft.
Den Kampf verloren, muss man wohl sagen, teilweise zumindest. Bestseller, egal in welcher Sprache sie geschrieben wurden, sind auf den Deutschen Übersetzerfonds nicht angewiesen, wohl aber Bücher abseits des Mainstreams. Erlaubt sei in diesem Zusammenhang eine persönliche Bemerkung. Der Roman Im Saal von Alastalo des finnischen Autors Volter Kilpi, Umfang etwa eintausendeinhundert Seiten, galt lange Zeit als unübersetzbar, doch „dank der kongenialen Übertragung von Stefan Moster können wir uns nun endlich an diesem sprachlichen Wunderwerk erfreuen.“
Diese Übersetzung wurde, neben einigen anderen Institutionen, auch vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Nein, weder Volter Kilpi noch Luis Martín-Santos werden in Zukunft ein breites Publikum erreichen. An dieser Stelle muss ich deshalb, ganz egoistisch, auf meine eigene wenn nicht Verzweiflung, so doch Trauer zu sprechen kommen. Trauer darüber, vielleicht nie die wissenschaftlichen Texte von Luis Martín-Santos mangels Übersetzung ins Deutsche lesen zu können, ihre Titel lauten Dilthey, Jaspers y la comprensión del enfermo mental. Madrid: Paz Montalvo, 1955. Druckfassung seiner Dissertation, sowie Libertad, temporalidad y transferencia en el psicoanálisis existencial: para una fenomenología de la cura psicoanalítica. Prólogo de Carlos Castilla del Pino. Barcelona: Seix Barral, 1964. (Biblioteca Breve; 197). Oder die durchaus vorhandene Biografie, auf Spanisch, selbstredend: José Lázaro Vidas y muertes de Luis Martín-Santos. Biografía, erschienen 2009.
„Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Literaturfonds e.V. für die großzügige Förderung ihrer Arbeit.“ Zu finden ist diese Danksagung in der btb-Ausgabe des Romans von Bora Ćosić Die Tutoren, zuerst auf Deutsch erschienen im Schöffling-Verlag, von Brigitte Döbert aus dem Serbischen übersetzt. Der Roman ist keine leichte Kost, um es vorsichtig auszudrücken, und gerade deshalb ein Erlebnis der besonderen Art, ein Erlebnis, das durch nichts zu ersetzen ist. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe erklärt Bora Ćosić Folgendes:
Obwohl mir meine deutschen Freunde seit zwanzig Jahren versichern, das Buch sei unübersetzbar, liegt es dank der Hartnäckigkeit seines Verlegers und der gewaltigen Anstrengung von Brigitte Döbert nun doch auf Deutsch vor. Die Unermüdliche hatte horrende Herausforderungen vor sich, ich weiß das sehr gut, weil ich selbst in früher Jugend die unübersetzbaren Gedichte von Welimir Chlebnikow übersetzt habe. Genaugenommen gibt es keine unübersetzbaren Bücher, wenn man von unvermeidlichen Abweichungen gegenüber dem Original absieht. Insofern hat die Übersetzerin ein Buch vorgelegt, das sie mit kritischen, schrägen Blicken in mein altes Manuskript selbst verfasste. Nun, der Autor selbst geht ganz ähnlich vor: Während er schreibt, schaut er natürlich in das, was vor ihm da war, und erschafft daraus eine Welt.
Welch ein Kompliment an die Übersetzerin Brigitte Döbert, und welch eine Wertschätzung von Übersetzungen generell.
Man stelle sich vor, jemand erzählt von einem Musikstück, das ihn tief beeindruckt hat. Etwas Unerhörtes, im wörtlichen Sinne. Und dann: nein, du kannst es nicht hören, du wirst es nie hören. Wie die kaiserliche Botschaft von Franz Kafka, von der es heißt, dass es sie sehr wohl gibt, sie uns aber nie erreichen wird, denn dem Boten stehen unüberwindliche und unendliche Widerstände im Weg. Immer wieder die Formulierung „und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen.“ Was bleibt, ist ein Traum: „Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt“
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