Das weite Meer, der unendliche Sternenhimmel und dazwischen der winzige Mensch

Klaus Marxen auf den Spuren eines Einzelgängers

Von Tim HeptnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tim Heptner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lulin oder I´m just a lonely boy erzählt die fiktive Lebensgeschichte von Jakob Brettschneider (1945–2014). Titelgeber des Buches ist ein Komet namens Lulin, der unser Sonnensystem im Jahr 2009 „einsam auf einer unverrückbar fixierten, unvorstellbar großen Umlaufbahn“ passiert hat; ein Himmelskörper, der blind für die menschlichen Geschicke ist, wohingegen „der Mensch, dieses schwache, unbeholfene verwirrte Eintagswesen ihm Bedeutung beilegen kann.“ Klaus Marxen, Hochschullehrer für Recht sowie ehemaliger Richter am Berliner Kammergericht, hat die Hauptfigur seines zweiten Romans als lonely boy, als Einzelgänger und Sonderling, als Spaziergänger durchs Watt und als Sternenbeobachter gestaltet. Zur thematischen Einstimmung hat er seinem Buch ein Motto von Joseph Conrad – „We live as we dream… alone“ –  vorangestellt.

Von Freiheit, Einsamkeit und Vergänglichkeit handelt Marxens Roman, und von dem konfliktträchtigen Verhältnis zwischen Individuum und Staat. Jakob kommt unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Behelfslager für ostpreußische Flüchtlinge auf die Welt. Die alleinerziehende Mutter, Hilfsarbeiterin in einer Fischfabrik, ist Trinkerin. Sein Taschengeld verdient der Junge mit dem Ausmisten von Viehställen. In der Schule entfachen Lehrer in dem unter ganz ärmlichen Umständen Heranwachsenden eine Leidenschaft für Bücher, für Philosophie und Astronomie. Jakob erweist sich als wissbegierig und intelligent. Bald macht sich eine starke Neigung zum Eigensinn, zum antiautoritären Denken und zur streitbaren Rede bemerkbar. Nachdem Jakob von den Gräueltaten im NS-Regime erfahren hat, fordert er: „Eine Philosophie ganz anderer Art muss es nach Ausschwitz geben. Eine rein analytische Philosophie, die sich von allem fernhält, die auf Abstand geht, die sich nicht vereinnahmen lässt. Herauskommen wird eine Philosophie der Verachtung für Mensch, Staat und Gesellschaft.“ 

Jakob stellt seine persönliche Freiheit und Unabhängigkeit über alles andere. Im Laufe seines Lebens gerät er deshalb gleich mehrfach mit der Staatsgewalt in Kontakt. Nach einem bewaffnet ausgetragenen Streit mit zwei Polizisten wird Jakob schließlich wegen versuchten Totschlags angeklagt und, aufgrund eines psychiatrischen Fehlgutachtens, zu drei Jahren in einer geschlossenen Anstalt verurteilt. Gutachten und Urteil werden später revidiert, doch er zieht sich nach seiner Freilassung in eine selbst gewählte Isolation zurück.

Auffallend ist die kleinteilige Gliederung des Romans. Es gibt 3 Hauptteile mit insgesamt 12 Kapiteln und 46 Unterkapiteln, außerdem das schon erwähnte Motto, sowie ein Vorwort und einen Nachtrag. Der erste und der letzte Teil des Romans schildern die Ereignisse nur einer Nacht, in der es zu einer dramatischen Begegnung zwischen Jakob, seiner ehemaligen Freundin Doris und dem Nebenbuhler Carsten kommt. Es geht um eine Jahrzehnte zurückliegende unglückliche Liebesgeschichte, und um enttäuschte Hoffnungen und Schuldgefühle, die nicht verjähren.

Marxens Nebenfiguren haben biografische Tiefe und treten den Lesern mit ihren Wünschen und Ängsten deutlich vor Augen. Auch die Zusammenkunft der ehemaligen Klassengemeinschaft, die das 45. Jubiläum ihres Abiturs feiert, gestaltet der Autor eindrücklich und humorvoll mit treffend beschriebenen Charakteren und Dialogwitz. Allerdings – und das ist ein Problem – agiert das Romanpersonal im ersten Teil des Buches  unvermittelt, weil es an einem Erzähler fehlt, der eine übergreifende, verbindende Perspektive böte. Bis zu seinem Auftreten wirkt die Handlung richtungslos und verlangt dem Leser Geduld ab. Erst in Teil zwei stellt der Erzähler die zentrale Frage nach Jakob: „Wer ist dieser merkwürdige Mensch, der uns erst ganz zuletzt vor Augen getreten ist? Was hat ihn so merkwürdig werden lassen?“ Der Beantwortung dieser Frage widmet sich der Mittelteil des Buches. 

Dabei bleibt der Protagonist auf Distanz. Sein Lebensweg wird postum rekonstruiert, aus den Aussagen von Zeitzeugen und aus Gerichtsakten. Dadurch wirkt das Ganze wie die Aufarbeitung eines Kriminalfalls. Erzählerisch ist das zwar konsequent, bietet dem Leser aber wenig Möglichkeit zur Einfühlung und hält das Interesse an der Hauptfigur eher gering. Dass der Roman insgesamt wenig bewegend ist, liegt dabei nicht so sehr am Inhalt, sondern vor allem an der gewählten Erzählperspektive. Der namenlose Ich-Erzähler trägt sein Material zwar fleißig zusammen, stiftet aber wenig Spannung und agiert ohne überzeugenden inneren Antrieb, weil er eher zufällig auf sein Thema gestoßen ist, was der Leser im Nachwort des Buches erfährt.

Das ist schade, denn die Handlung selbst ist durchaus lesens- und bedenkenswert. Sie erstreckt sich vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund entfaltet sich ein Einzelschicksal aus den lebhaften Erinnerungen der beteiligten Zeitzeugen, bei denen es sich um drei ganz unterschiedliche Charaktere handelt, die in anschaulichen Szenen auftreten. Variantenreich, mitunter in Natur- und Tierbildern, schwingen dabei die Themen Freiheit und Selbst- beziehungsweise Fremdbestimmtheit mit. Das große Interesse des Autors an den vielen Episoden und Figuren, die Stoff für eine ganze Reihe weiterer Geschichten bieten, ist spürbar. Sympathie und Antipathie sind klar verteilt: Opportunisten, Macht-, Geld- und Karrieremenschen kommen nicht gut weg. Marxens Buch ist ein Plädoyer für die Unangepassten, die Leidenschaftlichen, Nachdenklichen und Wissbegierigen.

Titelbild

Klaus Marxen: Lulin oder I’m just a lonely boy. Roman.
Bouvier Verlag, Bonn 2017.
235 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783416040112

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