Die Gegenwart zerspiegeln

Jörg Schieke legt mit „Silverman schickt mich” einen fulminanten Lyrikband vor

Von Marie Isabel Matthews-SchlinzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie Isabel Matthews-Schlinzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kürzlich behauptete eine wissenschaftliche Studie, Leser*innen würden von Künstlicher Intelligenz berechnete Gedichte jenen vorziehen, die von Menschen verfasst wurden. Ein Grund dafür sei die einfachere Zugänglichkeit. Worüber wiederum manches Medium besorgniserregend unkritisch berichtete, denn der KI-Hype ist in aller Munde, Lyrik dagegen schon länger als Orchideeninteresse abgehakt. Was wiederum Grund genug ist, von Menschen für Menschen gemachte Lyrik, die uns in unserer ganzen Wesenhaftigkeit herausfordert und betört, mit besonderer Wertschätzung zu begegnen.

Mehr als verdient hat diese Jörg Schiekes jüngster Band, Silverman schickt mich: ein reichhaltiger Band, der verwirrt, amüsiert, verlangsamt und aktiviert, indem er überraschende Haken schlägt. Der sich mit diesem und anderen Mitteln gegen schnellen, oberflächlichen Konsum sträubt. Der unsere von eben jenem Konsum so bestimmte Welt auf die Schippe nimmt. Der auf lustvolle und sinnliche Weise mit Wörtern spielt, neue erfindet, über beides reflektiert und dabei Atmosphären erzeugt, die einen daran erinnern, dass es neben der rationalen andere Arten des Verstehens und Hinterfragens gibt.

Doch konkreter: Silverman schickt mich ist ein Gedichtband in drei Teilen: Während der erste Teil die Entfremdungen der gegenwärtigen westlichen Arbeits- und Kulturwelt fokussiert und witzig bebildert ins Absurd-Surreale dehnt, konzentriert sich der zweite Teil auf den Alltag und die Gedankenwelt von deutschen Soldaten vornehmlich der DDR. Der dritte Teil schließlich widmet sich Aspekten von Zeitlichkeit, schildert genau beobachtete Szenen und Erfahrungen, in denen ab und an Motive eingewebt sind, die schon in den ersten beiden Bandteilen auftauchten.

Wo relevant, bildet die Kindheitslandschaft des Dichters – das Ostseemeer, seine Küste, Städte, Menschen – den konkreten geographischen Hintergrund. Dazu tritt als Landschaft der Armeezeit maßgeblich der Thüringer Wald. Entsprechend tippen die Verse Sprache und Kultur der DDR immer wieder an: etwa in verkürzter, mehrfach mit Bedeutung aufgeladener Form in dem Gedicht Langsam durch Fußgängerzonen fahrende Autos („Hört die Signale“).

Womit wir mitten im ersten Teil wären, wo uns der titelgebende, rätselhafte Silverman begegnet – und zwar als Arbeitgeber des lyrischen Ichs:

Silverman schickt mich, ich bring das Hundefutter
und den kalten, treuen Scheiß, Eingemachtes
von den Fliegen und Fleischern, Tausend-
tagegeschmeiß. Ich soll was abholen

und was bringen. Ein Paket voller Dickmilch, bisschen
Fummel fürs Äffchen. Silverman zahlt mich aus, Silverman
hält an mir paar Prozente. Silverman schickt mich. Rein
durch das Schlüsselloch, durch den Spion

wieder raus. […]

Wie viele Figuren und Bilder Schiekes entwickelt Silverman eine große Lebendigkeit und Leuchtkraft: Er zieht an, vielleicht auch weil er schwer greifbar bleibt, ambivalent, geheimnisvoll. So lässt er sich beispielsweise lesen als kollektives Individuum des „Pauschalzeitalters“: als eine Verkörperung der sichtbar undurchsichtigen Mächtigen eines Wirtschaftssystems, dessen „Preis“ die „Gewalt gegen Sachen“ und dessen „Lohn“ die „Gewalt gegen Tiere“ ist, und das auf der Selbstvermarktung, -transformation und letztlich -ausbeutung des Einzelnen beruht.

Der zitierte Gedichtbeginn gibt Einblick in einige der vielfältigen literarischen Mittel des Dichters: Mit Schwung setzen sich die Verse auf sprachlich routinierte Gleise, nur um gleich wieder aus diesen auszubrechen und die evozierten Bilder in eine andere, unerwartete Richtung zu lenken. Verschiedene Sprachformen und -ebenen werden miteinander vernäht: hier etwa die Sprechblasen des Geschäftlichen mit umgangssprachlichen Formulierungen.

Konkret Vorstellbares und Sinnliches wie das „Hundefutter“ kontrastiert mit dem vagen „treuen Scheiß“, der ob der ungewöhnlichen Wortkombination ein starkes Echo hervorruft. Dazu gesellen sich unter anderem Assonanz, Binnenreim und (variierende) Wiederholung, die der Autor mit großem und hilfreichem Effekt häufig einsetzt. Das präzise Sprachspiel verrätselt und ironisiert den Inhalt aufs Amüsanteste. Die Umkehrung von erwartbaren Reihenfolgen sowie der Gebrauch surrealer beziehungsweise absurder Elemente verdichten die Verse.

Ähnlich dem anzitierten Text wirken viele Gedichte des Bands wie überbordende Sprachpakete. Beim genaueren Hinsehen erweisen sie sich als vom Autor äußerst sorgfältig gepackte, die man als Leser*in ebenso behutsam aufschnüren muss. Das in den Versen deutliche Beharren auf der Komplexität, ja Unüberschaubarkeit menschlicher Wahrnehmung und Realität mag manche*n zunächst irritieren. Jedoch entfalten die im Klappentext zu Recht als von „filmische[r]“ Qualität beschriebenen Texte einen so eigenen, bestrickenden Sog und bereiten zu viel Spaß, um sich nicht näher auf sie einzulassen.

Vor allem im ersten und im dritten Teil des Bands bewegt das Meer die Verse als Verortung und unsteter Anker. Man verbringt die „Saison“ dort, Liebesgeschichten finden statt, Männlichkeitsprägungen werden hinterfragt, die Lokalpolizei verfolgt wie nach realsozialistischem Plan „Pro Tag drei Alarme“. Gegen Ende des Bands mündet schließlich eine morbid daherkommende Kreuzfahrt in den Satz: „wir sind schnell erzählt“.

In, zwischen sowie hinter den Zeilen tritt als Motiv mehrfach der Krieg in seinen kalten wie heißen Erscheinungsformen auf. Zentrale Bedeutung nimmt er im zweiten Teil des Bands ein, in dem sich primär eine „Lädie“ (das heißt ein Längerdienender, wie der hilfreiche Kommentar am Ende des Buchs erklärt) über ihre Dienstzeit mitteilt: „Als ich Soldat war, war ich wer“, setzt das erste Gedicht dieses Abschnitts mit dem bezeichnenden Titel Heimgang 86/I ein.

Es wimmelt auch hier von wunderbaren Wortneuschöpfungen: Manche nehmen den Jargon des Militärs auf (die erwähnten „Lädies“) oder hauchen Klischees zum ‚Männerbund‘ neues Leben ein („Unterleibsmelancholie“). Andere bringen diffizilere Emotionen des Armeedaseins zur Sprache: etwa die „Pachmatschen“, böse Geister, die wir selber rufen, oder das treffliche „Nieheimgepäck“.

Wie im ersten Teil schauen die Gedichte hinter alle Kulissen und zersplittern jedwede noch vorhandene Illusion über die Natur des Kriegs:

je länger ein Krieg zurückliegt
desto anschaulicher wird er für uns

und wie naiv muss einer sein;
Dörfer, von ihren Äckern geschieden
die Tiere sprachen vom Fressen, die Frauen vom Ficken“ […]

(aus: Musike)

 

der Krieg sieht genauso aus
wie auf der Skizze, die bei mir an der Tür
klebt. Immer hält er den Schoß auf
und lässt sich von der hohen Sonne

bestäuben. Der Krieg singt immer mit. 
[…]

(aus: Wer ins nächste Leben umzieht)

Deutlich werden zudem die Tristesse und Brutalität des Dienstalltags, die Ahnungslosigkeit der Neuankömmlinge und die Hilflosigkeit der Lädies im etwaigen Konfliktfall. Selbst Offiziere, die ihre Waffe immer bei sich haben dürfen, leiden unter einem allgegenwärtigen Bedrohungsgefühl. Die Widersprüchlichkeiten von Kameradschaft und der seltsamen Idee der Armee als neuer Familie arbeitet der Autor ebenfalls hervor. Immer wieder sprechen die Verse außerdem die Selbstentfremdung des Einzelnen in der institutionalisierten Truppe an – ein Thema, das auch in den anderen Bandteilen vorkommt, beispielsweise mit Bezug auf die Zurichtungen des Individuums für den Arbeitsmarkt.

Indem neben dem Vokabular der DDR und Anspielungen auf antifaschistische Werke wie Die Abenteuer des Werner Holt oder den Zweiten Weltkrieg älteres Sprachmaterial auftaucht (etwa „Oberprimaner“), deuten die Gedichte zudem auf prägende Kontinuitäten hin und zwar nicht nur zwischen drittem Reich, DDR und BRD, sondern Kriegen und Armeen insgesamt.

Im dritten und letzten Teil des Bands verlangsamt sich das Tempo ein wenig, gibt einer neuen Suchbewegung Raum. Wie schon angedeutet, versammelt der Autor hier neben den bereits angesprochenen Themen vermehrt Lebensnachdenkliches, Anekdotenhaftes, das Getane und Gelassene – wobei potentieller Pathos von Humor und Ironie durchbrochen wird. Der grundsätzlich gesellschaftskritische Ton sowie der reflektierte Einsatz von Sprache agieren weiterhin als rote Fäden. Allerdings spielen Liebe und Intimität eine stärkere Rolle – etwa in Gestalt von Freund*innen und Familie des lyrischen Ichs. Angesichts allgemeiner Vergänglichkeit schlägt mancher Vers einen überraschend sanften Ton an. Hier findet sich jedoch auch das herrliche Sind die Mustangs der Bannmeilenindianer, dessen Zeilen durcheinandergewürfelt sind, weshalb wir sie in die ‚richtige‘ Reihenfolge bringen müssen. Ein Gedicht, das gewissermaßen emblematisch ist für das Buch überhaupt.

Mit Silverman schickt mich hat Jörg Schieke einen Lyrikband verfasst, der ebenso zeitgemäß und relevant ist, wie er sich den Bedingungen der Gegenwart gegenüber spröde zeigt. Diese Besprechung konnte nur einen Teil des Reichtums seiner Texte vorstellen. Dass die Lektüre die Rezensentin begeistert hat, sollte deutlich geworden sein. Es bleibt zu hoffen, dass viele diese Begeisterung teilen werden.

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Jörg Schieke: Silverman schickt mich. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2024.
88 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305222

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