Ein Kampf gegen Lernplattformen und andere digitale Ungeheuer
Anna-Elisabeth Mayer widmet sich in ihrem neuen Roman „Kreidezeit“ der Digitalisierung des Bildungsbereichs
Von Nuria Demessier
Wer sich in der österreichischen Literaturszene auskennt, dem ist der Name der Schriftstellerin Anna-Elisabeth Mayer vielleicht schon einmal begegnet. Die heute 46-jährige Wienerin gewann in den Jahren 2011 und 2015 in ihrer Heimat den Nachwuchspreis Alpha sowie den Reinhard-Priessnitz-Preis für ihre Romane Fliegengewicht und Die Hunde von Montpellier. Mit Kreidezeit veröffentlicht sie nun ihren vierten Roman, mit dem sie trotz aktueller Thematik leider nicht ganz ins Schwarze trifft.
Wien im Jahr 2020: Eine Rundmail der Direktorin versetzt die Grundschullehrerin Martha in Aufruhr. Das Start-up-Unternehmen Agentur für Bildung hat eine neue digitale Lernplattform entwickelt, die nun, vermittelt über das Bildungsministerium, ausgerechnet an ihrer Schule getestet werden soll. Die KREIDE − Kreative Intelligenz durch E-Learning − verspricht bahnbrechende Neuerungen: individuelle Förderung jedes Kindes, das Erstellen von Begabungsprofilen und exakte Auswertungsmöglichkeiten für die Lehrkräfte. Die Schüler*innen werden beim Lösen der Aufgaben durchgängig gefilmt. Die Lerngeschwindigkeit und der Grad der Aufmerksamkeit werden durch Eye-Tracking-Verfahren aufgezeichnet. Die totale Kontrolle − für Martha ein Unding. Während Zacharias Reisinger von der Agentur für Bildung und Anatol Penzel vom Bildungsministerium die Ausarbeitung und die PR für die KREIDE vorantreiben, startet die Lehrerin die ersten Protestaktionen und Petitionen.
Wer im Fortgang des Romans nun eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik des E-Learnings erwartet, wird jedoch enttäuscht. Auch wenn einschlägige Argumente gegen und für die Lernplattform genannt werden, verharrt der Roman leider in einem Schwarz-Weiß-Denken („die KREIDE ist super“ versus „die KREIDE muss weg“). Dementsprechend sind auch die zunächst sympathisch gestalteten Figuren konstruiert, die sich mit Ausnahme des noch zweifelnden Anatols in zwei Lagern gegenüberstehen. Ein gewinnbringender Dialog bleibt aus. Die Frage, wie Digitalisierung sinnvoll im Bildungsbereich eingesetzt werden kann, spielt keine Rolle. Sie wäre in Bezug auf die Lernplattform auch deshalb schwer zu diskutieren, weil Mayer entscheidende Punkte zur KREIDE offenlässt: Welche Arten von Aufgaben werden zur Verfügung gestellt? Wer entwickelt diese Inhalte? Soll die KREIDE den normalen Unterricht voll und ganz ersetzen?
Der einzige Spannungsbogen des Romans besteht darin, welcher Seite Anatol sich letztlich zuwenden wird. Das Ergebnis ist nicht überraschend. Die Kreidezeit steht – ähnlich wie auch viele Romane von Juli Zeh – im Dienst eines Standpunktes zu einer gesellschaftlichen Debatte und lässt dabei wenig Interpretationsspielraum. Einzig und allein das Einsetzen des ersten Corona-Lockdowns bringt etwas Schwung in die Handlung, bleibt aber am Ende nur ein kurzes Intermezzo ohne Folgen. Die Autorin legt ihren Fokus stattdessen den gesamten Roman hindurch auf das Thema der Digitalisierung als allgemeine Entwicklung und zeigt, wie sich moderne Technologien schon jetzt in allen Lebensbereichen ausgebreitet haben. Von Programmierbienen im Kindergarten, Fitness-Apps für das Smartphone bis hin zu Saugrobotern und selbstfahrenden U-Bahnen wirft sie dabei aber alles in einen Topf, ohne auf Unterschiede einzugehen. Zudem wirken einige dieser digitalen „Fortschrittlichkeiten“ heute gar nicht mehr so neu, sodass der Roman schon fast veraltet erscheint.
Auch das detailliert ausgearbeitete Privatleben der Hauptfiguren trägt zum Thema des Romans bei. Besonders Anatols Alltag, der durch den kurz zuvor erfolgten Tod seiner Frau geprägt ist, bezieht sich indirekt auf die neue digitale Welt. Durch seine Trauer und die Beschäftigung mit dem Tod stellt Mayer den „gefühllosen“ Technologien das genuin Menschliche entgegen:
Anatol war versucht, Zachy von diesem Zustand zu erzählen. Vielleicht würde er so erkennen, dass nicht alles, was nicht in Zahlen messbar war, notwendig aus dem vergangenen Jahrhundert stammte. Dass das eigentlich Rückständige doch die KREIDE mit ihrem Punktesammeln, gegenseitigen Ausstechen und ihrer Filmerei war. Dass die Schule Kindern vielmehr einen Weltzugang schaffen sollte, einen, der zwingend über sie selbst hinausging – denn der Wind konnte sich drehen und einen aus der Welt blasen.
Solche Prämissen, die mit sachlichen Argumenten nicht widerlegt werden können, kommen im Roman immer mal wieder zum Vorschein, beispielsweise auch, wenn Anatols Tochter zu dem Schluss gelangt, die Digitalisierung komme den Menschen bei ihrer Tendenz zur emotionalen Verarmung geradezu entgegen. Wer diese Meinung teilt, wird hier applaudieren; die Optimisten dieser Welt haben zumindest etwas, woran sie sich reiben können.
Die sprachliche Gestaltung von Kreidezeit erzeugt skeptische Blicke. Vor allem zu Beginn fallen unrunde, staksige Satzkonstruktionen mit teils seltsamen Einschüben auf, die im weiteren Verlauf jedoch seltener werden. Zudem sprechen und denken die Figuren stellenweise in einem viel zu gelehrt wirkenden Ton und seufzen so oft, dass es mit der Zeit fast komisch erscheint. Bereichernd ist hingegen Mayers Technik, Gleichzeitigkeit im Text herzustellen. Einer Kamera ähnlich wechselt die allwissende Erzählinstanz immer wieder zwischen den verschiedenen Figuren und ihren zeitgleich stattfindenden Handlungen, was das Lesen kurzweilig erscheinen lässt. Teilweise nutzt die Autorin auch einzelne Objekte, um Verbindungen zwischen den Passagen herzustellen. Das wirkt teils originell, stellenweise und vor allem durch die Häufigkeit des Einsatzes aber auch zu gewollt:
Auf alle Fälle erschien Anatol ein Abend, dem Zachy entgegenfieberte, wie ein riesengroßer Eiswürfel. Eiswürfel klackerten auch in den Cocktails, die Martha, Lynn und Frederika im Los Tacos schlürften.
Letztlich entscheiden wahrscheinlich vor allem die eigene Einstellung und die Erwartungshaltung, mit der man an Mayers Kreidezeit herangeht, ob man hier Spaß am Lesen findet. Wer sich von der Geschichte neuen Input zum Thema Digitalisierung erhofft, wird wohl eher seufzend zurückbleiben.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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