Die Achsen der Poesie

Gerhard Meisters Gedichte verweigern den „hohen Ton“

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist Poesie? Der klassische Strukturalismus definiert die sogenannte „poetische Funktion“ der Sprache als Schwerpunktverlagerung vom semantischen Standbein auf das ästhetische Spielbein, oder etwas technischer mit Roman Jakobson: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“. Gemeint ist etwas sehr Einfaches und sehr Grundsätzliches, dass nämlich ein sprachliches Gebilde in dem Maße zu „Kunst“ beziehungsweise zu „Poesie“ wird, indem es auf seine phonetischen, also klanglichen und rhythmischen Mittel achtet. Oder noch simpler ausgedrückt: Lyrik beginnt da, wo die Semantik mit der Schönheit ringt.

Natürlich „darf“ Lyrik heute alles, sie muss nicht „schön“ sein, sie darf hässlich und ekelhaft sein, eiskalt und pornografisch, sie darf erzählen, dozieren, prahlen und schweigen. Definitionshubereien, poetologische und formale Vorschriften jeder Art wirken nicht nur altbacken und deplatziert, sie sind es auch. Halten wir das ganz grundsätzlich mal fest. Und darüber, was ein „gutes“ Gedicht ist, lässt sich gewiss ganz vortrefflich streiten, besonders dann, wenn man (darüber wenigstens scheint Einigkeit zu herrschen) gar nicht weiß, welche Kriterien eigentlich anzuwenden sind.

Es ist schwer zu sagen, ob die Gedichte von Gerhard Meister „gut“ sind, vielleicht sind sie es. Aber „schön“ oder gar „poetisch“ sind sie meines Erachtens nicht. Und ich habe mir wirklich Mühe gegeben, ihre Schönheiten und Besonderheiten zu entdecken. Zunächst sind ja erst einmal alle Ingredienzen schöner Poesie versammelt. Schon der Titel Eine Lichtsekunde über meinem Kopf changiert zwischen dem frühen Gottfried Benn und dem späten Rolf Dieter Brinkmann. Auf der Rückseite des Gedichtbandes liest man Verse, in denen die Wörter „Sehnsucht“, „Städte“, „Lichter“, „Sterne“ vorkommen – alles prima Lyrikwörter mit heller, ja greller Aura. Auch innen geht es dann ums große Ganze: um Planeten, Wasserstoff und Leben, und tropfendes Vanilleeis. Das ist modern und stellenweise auch ziemlich lustig. Im Gedicht „Oh Mond/ du ziemlich grosse Kugel, […] du Käse du Zitronenschnitz […] du Sparlampe […] du Staubniere im Sonnenschein“ kommt es zur Begegnung, schließlich gar zur bildlichen Fusion von Mondlicht und Dichterschatten. Hier weht ein Hauch von Kurt Schwitters, Hans Arp und Christian Morgenstern – leider nur ein Hauch, doch immerhin.

Und so geht es weiter: Von Sonne, Mond und Sternen („Löchlein im schwarzen Tuch der Nacht“) zurück zum Big Bang, zurück zur Erde, ihren Bergen und Flüssen, Flugzeugen, Mauern, Geldautomaten, Menschen und Sprüchen. Die Stärke des Bandes ist seine klare Dramaturgie. Man folgt einem kraftvollen Zoom: von den äußersten Rändern zum intimsten Innenraum, vom außerirdisch kalten „Glitzern und Funkeln“ in die Kühlboxen der Leichenhalle, von ganz „hinten im Weltraum“, wo Gott als „Riesenohr ohne Kopf drauf“ sich die „triste Botschaft von Darwin und Co“ ausdenkt bis nach Olten und Berlin. Es fliegt und geflügelt himmlisch, astrologisch und neurologisch, „wie Engel“ und „first class“ – doch irgendwie hebt es dabei nie richtig ab. Nichts schwebt, nichts tanzt, nichts schwingt. Hin und wieder finden sich kleine und mit durchaus vorhandenem Sprachgefühl hingetupfte Wölklein „dort oben/ wo Engel mit ihren Flügeln/ langsam die Luft umrühren“ oder Federn „splitterscharf graupeln“. Auch kleine surreale Verschiebungen kommen vor: Krähen, die von Bäumen fallen, Mägen, die durch den Mund schießen, oder auf dem Rost der Lüftungsschächte gedörrte Engel. Da ist Phantasie am Werk, keine Frage. Manchmal bringt auch eine simple Wiederholung wie „sorgfältig seifen/ sorgfältig trocknen“, ein „Ticktack der Schritte“ oder eine verstohlene, kleine Reimerei so etwas wie rhythmische Kontur. Oder es ist ein zwar wackeliges, aber doch ganz interessantes Enjambement, das den etwas zähen Sprachfluss dieser Gedichte dynamisiert. Dafür ist man dann dankbar und liest auch gerne weiter.

Doch viele Gedichte lesen sich wie eine etwas umständlich formulierte und ins Bild transportierte naturwissenschaftliche oder soziologische These. Besonders unbeholfen und klischeehaft sind die Gedichte über das eigene Schreiben.

Doch wahrscheinlich liege ich völlig daneben. Mit meiner Erwartung, meine ich. Denn Gerhard Meister ist ein in der Schweiz relativ anerkannter Spoken Word-Performer und Kabarettist. Der Verlag, in dem seine Gedichte erscheinen, ist eine engagierte und etablierte Spoken Word-Plattform. Wahrscheinlich braucht es die Bühne, eine Stimme, ein Publikum, um diese Texte zum Klingen zu bringen. Wahrscheinlich will Meister gar keine schönen Gedichte schreiben, im Gegenteil. Poesie ist ihm suspekt, der „hohe Ton“ wird explizit gebasht: „Flugsalben parfümiert/ mit lyrischen Essenzen […] ausflockenden Kondensstreifen“ und „kinderleichte Rilke-like Höhenflüge“ und andere Kleinode aus dem „Poetensortiment“ der „süffig snobistischen“ Höhenkammlyrik gehören ausdrücklich nicht ins Programm. Damit ist Meister natürlich zunächst mal in allerbester Gesellschaft. Den großen Lyrikverweigerern und Anti-Schamanen der Konkreten Poesie, der Beat-Generation und anderer Underground- und Underdog-Bewegungen war das Raunen der Poesie schon vor 60 Jahren verdächtigt, selbst Ingeborg Bachmann verkündete 1968 das Ende lyrischer „Delikatessen“.

Statt schöner Klänge aus der Achse der Kombination verwendet Meister „ein Dutzend Wörter/ so gut wie irgendwelche“ und stellt sie nach folgender Gebrauchsanweisung zusammen: „da ist das Ventil am Wort/ da bläst du rein genau/ als wärs ʼne Luftmatratze, tüchtig blasen das macht/ aus kleinen Wörtern grosse.“ Man lacht, fühlt sich ein bisschen ertappt und sehnt sich klammheimlich nach dem Sound von Rilke und Bachmann oder irgendeinem Schweizer Lyriker, der sich nicht geniert, auch mal mit dem Klang an die Decke zu stoßen.

Vieles ist bildstark respektive anschaulich, fast schon cinematografisch – gewiss. Doch warum, so frage ich mich, klingt es trotzdem so vorsprachlich, so ausgedacht und unpoetisch? „Wenn meine Ohren zu Dünger verbrennen/ und aus ihnen nie gehörte Töne wachsen“, dann tut das ein bisschen weh. Muss das so sein? Natürlich kann ich mir solche Metaphern-Arrangements vorstellen, auch eine Szenerie aus der nächtlichen Großstadt wie diese: „das tote Fleisch dreht penetriert/ von einem Eisenstab/ auf der alten Platte Schmerz ist geil/ am Dönerstand um sich selber wie der Himmel/ mit seinen Rostlöchern/ aus denen der Schweiss tropft“. Ich sehe das vor mir, gewiss, den penetrierten Döner und die rostigen Schweißlöcher und finde ja auch, Gottverdammt!, dass das alles doch sehr zum Himmel stinkt. Und dann drehe ich mich verstohlen zu Roman Jakobson um und frage mich, wie so ein Döner klänge, spießte man ihn auf die Achse der poetischen Kombination.

Titelbild

Gerhard Meister: Eine Lichtsekunde über meinem Kopf. Gedichte.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2016.
111 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783038530282

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