Von Siebenbürgen in die Welt und zum Mond

In „Die Erfindung des Countdowns“ erzählt Daniel Mellem das Leben des Raketenpioniers Hermann Oberth

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein promovierter Physiker anfängt zu schreiben – dies tut er übrigens professionell am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig –, verwundert es nicht, dass er die Lebensgeschichte eines Physikers für seinen Debütroman auswählt. Die ereignisreiche Reise des Raumfahrtwissenschaftlers und Vordenkers Hermann Oberth durch fast ein Jahrhundert und viele Staaten hätte es durchaus verdient, einem größeren Publikum vorgestellt zu werden. Wenn aber Saša Stanišić auf dem Buchcover die Hauptfigur als „großen streitbaren Träumer“ bezeichnet, dann ist das mehr als diplomatisch ausgedrückt.

Der Roman beginnt Ende des 19. Jahrhunderts in Schäßburg, Siebenbürgen, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Vater Oberth, ein eingefleischter Chefarzt, sieht im ältesten Sohn seinen Nachfolger und weckt beim jungen Hermann mit seinem Teleskop, durch das dieser zum ersten Mal den Mond im Detail erblickt, dessen Lebenswunsch, den er auch sofort formuliert: „Kann man da hinfahren?“   

Sehr schnell kümmert er sich darum, diesem Ziel näher zu kommen. Seine Mutter schenkt ihm Jules Vernes Reise um den Mond, versteht aber die Gedanken des eigenen Sohnes bald nicht mehr, als er in dieser fantastischen Geschichte des Vaters des Sciences-Fiction-Genres einen folgenschweren Konstruktionsfehler entdeckt. Hermann nimmt die Sache eben ernst und steckt auch bald den ersten Dämpfer locker weg, als der erste Raketenstart auf dem Friedhof, moderiert von seinem kleinen Bruder, zum Flop wird.

Aber Hermann geht nicht nur den Dingen auf den Grund, er erklärt im Karpatenkrieg dem Vorgesetzten die deutschen Repetierwaffen und ohrfeigt als Gefreiter den Stabsarzt, der ihn wegen seiner Selbstbehandlung sanktionieren lassen möchte. Während Vater und Großvater über den Fortschritt in der Medizin streiten, ist Hermann sich sicher, dass der technische Fortschritt den Krieg sauberer oder gänzlich hinfällig machen kann. Solange Raketen allerdings nur sieben Kilometer weit fliegen, nimmt keiner diesen Gedanken ernst.

Nach der Schule lernt Hermann Tilla kennen, die den großen Tüftler, Arzt und Lehrer in Sachen Liebe an die Hand nehmen muss. Sie wird in der Folge jahrzehntelang auf ihn warten und trotzdem immer für die vier Kinder und im Falle beruflicher Rückschläge auch für ihn da sein. Hermann beginnt in Klausenburg Physik zu studieren. Als die Donaumonarchie aber endet und die Stadt rumänisch wird, zieht er in die Universitätsstadt Göttingen, die zu dieser Zeit einen wahren Forschungsboom erlebt und in vielen technischen Fachbereichen eine europäische, wenn nicht weltweite, Führungsposition einnimmt. Er, der das akademische Ambiente der Stadt sehr genießt und sich abstrampelt, um dazuzugehören, gilt nicht als Volksdeutscher, wie er sich selbst sieht, sondern als Rumäne vom Balkan. Auch seine Dissertation über eine Weltraumrakete findet bei keiner Göttinger Koryphäe Anklang und selbst der Wechsel an die Universität Heidelberg bringt ihm nur eine Empfehlung für Verlage zur Veröffentlichung seiner Gedanken ein. Finanziert durch die Ersparnisse seiner Tilla erscheint 1923 endlich sein Werk Die Rakete zu den Planetenräumen und wird zu einem Erfolg. Bis zur Verwirklichung seines Lebenstraumes muss aber noch der Kampf gegen ignorante Gelehrte, zweifelnde Investoren und eine angefachte Raketenromantik gewonnen werden.

Fritz Lang ruft ihn für den Film Frau im Mond als Experten nach Berlin, wo Wernher von Braun als junger Assistent an seine Seite tritt. Jahre später, zurück in Siebenbürgen, schlägt Oberth ein Angebot der Russen aus und bietet seine Kriegsrakete als ungeliebter Ausländer lieber Hitler-Deutschland an, dem Land, dessen Respekt er immer hinterherhechelte. Von Braun verdankt er es, zum Ende des Krieges nach Peenemünde zu dürfen, wo an der Aggregat4-Rakete, die später als V2 in England schreckliches Leid anrichtet, gearbeitet wird. Oberth spielt bei den Umsetzungen keine Rolle, man wollte ihn nur nicht beim Feind wissen.

Der zweite Weltkrieg ist zerstörerisch, auch in der Familie des Protagonisten. Sein ältester Sohn beschimpft ihn als Naziunterstützer und fällt im Krieg, die ältere Tochter stirbt beim Raketenbau an ihrem letzten Arbeitstag, aber der Vater glaubt bis zuletzt, dass der Krieg mit seiner Flakrakete anders verlaufen wäre, „die Bombardierung wäre unmöglich gewesen.“  Nach harten Nachkriegsjahren in Feucht bei Nürnberg ist es wieder von Braun, der ihn aus Dankbarkeit in die USA holt. Wenigstens Tilla beginnt nun das Leben zu genießen, während ihr Mann sich und seinen Gedanken weiterhin mehr Wert beimisst, als dies andere tun. Der Fortschritt, den er in seiner Jugend stets befürwortete und vorantrieb, überholt ihn in Form von Computern. Als Rentner zurück in Feucht, erreichen ihn zahllose Ehrungen, sogar die Ehrendoktorwürde der TU Berlin wurde ihm verliehen. Seine späte Zuwendung zur Ufologie und Parapsychologie sei ihm allerdings wesentlich leichter verziehen, als der Beitritt in die neugegründete NPD, für den Tilla ihn zum Mond schießen wollte, beziehungsweise mit der Scheidung drohte. Sein letzter großer Moment ist dann mit Tilla in Cape Canaveral 1969, als Apollo 11, bemannt mit drei Männern, wie Oberth es immer selbst geplant hatte, in einer Saturn V Rakete zum ersten Mondflug startet.

Daniel Mellem erzählt unspektakulär, chronologisch, ohne literarische Finessen. Die Kapitel von zehn bis null runterzuzählen und damit der Erfindung des Countdowns ein kleines Denkmal zu setzen, ist eine das Werk umfassende Idee, aber kein Geniestreich. Bei der Fachsimpelei des Physikers ist der Autor natürlich in seinem Element. Tilla versteht stellvertretend für viele Leser kein Wort und fühlt sich deshalb wie im Weltraum. Die vielen historischen Persönlichkeiten aus Film, Politik und Wissenschaft musste der Autor sich nicht ausdenken, die sind allesamt biographisch festgehalten. Wie er aber das Leben im siebenbürgischen Schäßburg, die Studienzeit in Göttingen, die Luftangriffe auf die militärische Forschungsbasis in Peenemünde, die entbehrungsreiche Nachkriegszeit in Feucht und abschließend das Land der unbegrenzten Möglichkeiten mit dem Volk, „das gerne halb auf Tischkanten saß“, Cola trank, das Fast Food erfand und im Krieg CARE-Pakete schickte, ausschmückt und stets eine sehr authentische eigene Stimmung erzeugt, das hat Potenzial. Um den American Way of Life erfahrbar zu machen, sei denen, die keine Vorstellung von einem DeSoto Fireflite haben, empfohlen, diesen Ami-Schlitten, mit dem Tilla am Ende in den Staaten das Leben genießt, als Highlight während der Lektüre des Romans einmal zu googeln. Aber bitte unbedingt in rot-weiß.

Der Autor zeigt mit seiner Erzählung auf, wie fokussiert und egoistisch der Wissenschaftler Oberth ein Leben lang gedacht, gelebt und gearbeitet hat. Nachvollziehbar ist in seiner Darstellung auch, wie Hermann als Deutscher aus Siebenbürgen nichts sehnlicher wollte, als in Deutschland als Deutscher angesehen zu werden. Doch die Tatsache, dass er vom Forscherdrang angetrieben, sich und seine Visionen im nationalsozialistischen Krieg von Hitler-Deutschland missbrauchen ließ, wird von Mellem wenig hinterfragt. Hermann Oberth war kein „unpolitischer Angepasster“, was seine Mitgliedschaft von 1965–1967 in der NPD beweist. Es gibt Kritiker, die in ihm den faustischen, nach den Sternen strebenden Wissenschaftler sehen. Für andere dominiert die Rücksichtslosigkeit Faustens (Faust I lässt grüßen) seine Persönlichkeit, sodass Tilla wohl ganz nach Gretchen entfahren könnte: „Hermann! Mir graut`s vor dir.“

Titelbild

Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns.
dtv Verlag, München 2020.
288 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282383

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