Die Schrift lügt nicht!
Steffen Menschings brillantes Romanporträt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Von Arnd Beise
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchermanns Augen sahen Dinge, die man normalerweise nicht sieht. Zum Beispiel die Zukunft. Oder den Charakter einer abwesenden Person. Oder die verdrängten, vielleicht gar verleugneten Geheimnisse eines Menschen. Die Augen bekamen dann „einen entrückten Ausdruck, wobei unklar blieb, ob sie nach innen blickten, etwas in der Ferne lasen oder beides gleichzeitig taten.“ Vorher hatte er auf eine Handschriftenprobe geschaut, dann konnte Schermann seine Diagnosen, Enthüllungen oder Prophezeiungen machen.
Rafael Schermann war ein begnadeter Graphologe, besser gesagt: Psycho-Graphologe, wie er sich selbst nannte. Er ist nicht nur einer der Protagonisten in Steffen Menschings letztem Roman, sondern lebte wirklich. Er wurde 1874 in Krakau geboren und starb vermutlich 1943 in einem kasachischen Arbeitslager. In der Zwischenkriegszeit war er berühmt für seine Handschriftenanalysen, mit denen er zeitweilig sogar auf Tournee bis in die USA ging. Von 1910 bis 1927 wohnte er in Wien, dann in Berlin, von wo der gebürtige Jude 1933 nach Polen und 1939 nach Galizien floh, wo er von den Sowjets verhaftet wurde.
Schermann war ein Phänomen: „gleichzeitig Graphologe, Hellseher, Diagnostiker, Telepath“, wie es in der Zürcher Illustrierten 1932 hieß. Natürlich nahm sich die damalige Wissenschaft des Phänomens an. 1918 legte der Wiener Juraprofessor Eduard von Liszt Schermann Schriftproben eines unbekannten Mörderpaars vor, die der „Schriftsachverstände“ zutreffend analysierte. Der Wissenschaftsjournalist May Hayek publizierte 1921 und 1923 zwei Studien über den Schriftdeuter, der Prager Psychiater Oskar Fischer veranstaltete ausführliche Untersuchungsreihen mit Schermann, über die er 1924 in seinem Buch Experimente mit Rafael Schermann berichtete.
Fischers Studie fand sich auch unter den 4.000 Büchern, die Steffen Mensching 1998 in einem New Yorker Antiquariat kaufte, wovon sein Roman Jacobs Leiter unter anderm erzählt. Mensching ließ sich von dem Buch faszinieren, kannte auch eine Emigrantin aus Wien, die Schermann selbst noch kannte – Lily Hull (1919–2014) –, wollte dieser Mischung aus „großer Scharlatanerie und großer Begabung“ (Mensching in einem Interview am 13.8.2018) auf den Grund gehen. Zugleich plante er schon länger ein Buch über die kommunistischen Opfer des Stalinismus, in dem die 1942 in einem sowjetischen Gefängnis erschossene, für die deutschsprachige Exilliteratur extrem wichtige Journalistin, Redakteurin und Schriftstellerin Maria Osten im Zentrum gestanden hätte. Zu diesem Buch kam es nicht. Doch auch in Menschings Schermann-Roman kommt Maria Osten vor, unter anderem als kurzzeitige Geliebte des zweiten Protagonisten des Buchs, nämlich Otto Haferkorns.
Anders als Schermann ist Haferkorn eine Erfindung Menschings: ein junger Kommunist, in der Romanfiktion 1916 geboren, der vor den Nazis aus Berlin fliehen musste und über Prag nach Moskau kam, wo er als „Redaktionsassistent“ bei einer deutschsprachigen Zeitung arbeitete, bevor er im Zuge der stalinistischen Säuberungen 1939 als „Volksfeind“ verhaftet und in ein Arbeitslager verschleppt wurde. Dort trifft er Ende 1940 auf Schermann, an dem der Lagerkommandant ein zunächst rätselhaftes Interesse hat. Doch Kosinzews Ehrgeiz ist es, neuen Verzweigungen einer ubiquitär vermuteten trotzkistischen Verschwörung auf die Spur zu kommen: „Ich glaube, sagte der Hauptmann, man hat Ihren Fall, Herr Schermann, gründlich untersucht, aber nicht gründlich genug. Fangen wir also noch einmal an.“
Da Schermann behauptet, Russisch weder zu verstehen noch zu sprechen, benutzt der Kommandant Haferkorn als Dolmetscher. Außerdem unterhalten Schermann und sein Bettnachbar Haferkorn sich im Lazarett auch privat. Aus den beiden wird ein interessantes Paar: der Alte, dem seine „Lese-Kunst“ in der Zwischenkriegszeit ein Leben mit „Ruhm, Liebe, Luxus“ ermöglichte, und der Junge, der sich aus einfachen Verhältnissen zu einem „Satz-Kundigen“ entwickelte. Im schon zitierten Interview meinte Mensching, dies hätte ihm „die Möglichkeit“ gegeben, „einerseits eine Bewunderung auszudrücken und andererseits eine Skepsis und ein Hin und Her an Argumenten“.
Wichtiger ist aber, dass Mensching mit Haferkorn außerdem eine dreifache Spiegelfigur gewinnt: Er kann erstens 30 Jahre nach dem Fall der Mauer davon erzählen, wie es sich anfühlt, als junger Idealist, der an den Kommunismus geglaubt hat und die Sowjetunion verklärte, mit den Widrigkeiten des real existierenden Sozialismus umgehen zu müssen; er kann zweitens von der beklemmenden Situation erzählen, in der die Linke in den 1930er und -40er Jahren zwischen nationalsozialistischer Verfolgung und stalinistischem Staatsterror zerrieben wurde, weil Osten dem jungen Freund ihre Erlebnisse erzählt; und er kann drittens über Schermanns Lebensgeschichte, wie sie in den Verhören und privaten Unterhaltungen zur Sprache kommt, von einer anderen, ebenfalls untergegangenen, bürgerlichen Kultur erzählen, denn Schermann kannte sie alle: Adolf Loos, Oskar Kokoschka, Alfred Döblin, Joseph Roth, Rainer Maria Rilke, Karl Kraus, Magnus Hirschfeld, Bela Balasz und so weiter.
Wichtig ist aber vor allem, dass Mensching es mit diesem Roman schafft, das Problem der im GuLag materialisierten Inhumanität aus einer nicht-antikommunistischen Perspektive einzufangen. Hier lernt man die verquere Welt der sowjetischen „Besserungsarbeitslager“ kennen, die durch eine seltsam gemischte Gesellschaft bevölkert sind: Da sind die politischen Häftlinge, die per se verdächtigen Ausländer, die Kriminellen („Urki“), die Wachmannschaft, die Lagerleitung. Die Fronten zwischen diesen Gruppen sind keineswegs klar, Solidarität gibt es auch innerhalb der Gruppen nur ausnahmsweise. „Die Posten steckten mit den Urki unter einer Decke“, Haferkorn galt wahlweise als Faschist oder Roter, weil er ein Ausländer war. Er hatte schon früher lernen müssen, dass die „Organe“, deren „Aufgabe darin bestand, Verräter zu enttarnen, sich weder um die Grundsätze der Vernunft noch den gesunden Menschenverstand kümmerten“. Am zivilisiertesten benimmt sich in dem Lager Kommandant Kosinzew, doch wird der bald von seinem rüpelhaften Stellvertreter Jegorin als „Feind des Volkes“ entlarvt und abgelöst. Zugleich sieht Jegorin genauer als der ebenso schöngeistige wie fanatische Kosinzew, dass Schermann unschuldig ist. Gleichwohl würde er keine Anordnung seines Vorgängers widerrufen; dann müsste er ja „jeden zweiten Häftling in die Freiheit entlassen. Es wäre unmöglich, den Produktionsplan zu erfüllen. Nein, Herr Schermann, man muss Person, Amt und Sachverhalt auseinanderhalten. Untersuchungsrichter kommen und gehen, aber NKWD-Befehle bleiben bestehen.“
Schermann rät dem jungen Haferkorn einmal, die Genossen zu „vergessen“. Er würde „nie herausfinden, wer wen ausspähte, wer wen auf dem Gewissen hat oder ans Messer lieferte. Sie haben alle geglaubt, es ginge um Vernunft, Wahrheit, Ergebenheit. Alles Unsinn. Es geht nur darum, wer zum richtigen Zeitpunkt den Finger am Abzug hat.“ Haferkorn will das nicht akzeptieren: So wie Schermann würden nur „Feinde, Trotzkisten, Faschisten“ sprechen. Haferkorn gehört nämlich zu den „Positivgläubigen“, auch noch im Lager: „Die meisten 58er“ – das sind die nach Artikel 58 des Strafgesetzbuches der Russischen Sowjetrepublik verurteilten „Volksfeinde“ – „gehörten, trotz aller Entbehrungen, erlittener Folter und hoher Strafmaße, noch immer zu den Positivgläubigen. Sie verdrängten alle Erfahrungen, die ihren Glauben bedrohten, als Zufälle, Unfälle oder Beispiele menschlichen Versagens. Die Negativgläubigen, Verbrecher und Kriminelle, nahmen alle Zufälle, Unfälle und Beispiele menschlichen Versagens als Bestätigung ihrer üblen Überzeugungen, sie fühlen sich als Verfolgte eines kranken Systems.“
Ob das System wirklich krank sein könnte, wagten viele der linken Idealisten nicht zu fragen. Manche konnte es sich einfach nicht vorstellen. Als Maria Osten auf die Nachricht hin, dass ihr Freund Michail Kolzow, der „Journalist Nummer 1“ der Sowjetunion, verhaftet worden wäre, beschließt nach Moskau zu fahren, um das Missverständnis aufklären zu helfen, habe Willi Bredel, „der kein Feigling war, zu zittern angefangen“. Die „Einwände ihrer Freunde – Feuchtwanger, Kesten, auch Kisch –, sie werde gar nicht zu den entscheidenden Stellen vordringen, Kolzow sei nicht zu retten, ließ sie nicht gelten. Ob sie etwa glaubten, man werde einen erfahrenen Parteisoldaten so einfach an die Wand stellen“, fragte Osten, worauf „sich betretenes Schweigen ausbreitete“.
Beklemmende Szenen wie diese werden in dem Roman nicht ausgeschlachtet. Sie werden umstandslos erzählt, das Verhalten der Beteiligten nicht gewertet. Der Erzähler ist kein Richter und kein Moralist, eher ein Chronist einer immer absurder werdenden Welt. Deswegen wurde der Roman öfters mit der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss verglichen. Offensichtlich hat Mensching bei Weiss Einiges gelernt. Doch unterscheidet Menschings Roman sich von Weiss’ Text durch die bei aller Tragik immer wieder aufblitzende Komik. Als Schermann in einem Verhör um „Stift und Papier“ bittet, um etwas zeichnerisch zu verdeutlichen, bewilligt ihm Kosinzew dies mit Fritz Teufels berühmter Bemerkung: „Wenn es der Wahrheitsfindung dient“. Der Humor, wenn man es so nennen will, ist zuweilen aber auch bitter. Während der verschärften Haft in der Dunkelzelle des Isolators singt der Häftling Haferkorn, um in der totalen Finsternis nicht den Verstand zu verlieren die Internationale: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit […] zum Lichte empor. Hell aus dem dunklen Vergangenen, leuchtet die Zukunft hervor!“
Auch die Ironie, mit der Mensching sein eigenes Tun mitunter reflektiert, findet man bei Weiss nicht. Schermann hat eine dezidierte Abneigung gegen Romane, Erzählungen, Gedichte und dergleichen; er habe alles „Belletristische“ gemieden „wie der gojische Teufel das Weihwasser“ – auch wegen des „Größenwahns“ und der „Eitelkeit“ jedes Schreibenden, der sich „auf die eine oder andere Art für auserwählt hält, halten muss, sonst würde er die tägliche Zeilenschinderei nicht zustande bringen.“ Zugleich ist aber Mensching mit seinem Roman auf der Wahrheitssuche wie seine Hauptfiguren. Die Journalistin Maria Osten, überhaupt die exilierten Autorinnen und Autoren, der Schriftdeuter Schermann, der Schriftsetzer Haferkorn sind alle Diener des Worts und auf der Suche nach Wahrheit.
Schermanns Augen sei „ein außergewöhnliches literarisches Ereignis“, meinte Michael Opitz (Deutschlandfunk, 21.10.2018), „vor allem“ wegen der „sprachlichen Souveränität, mit der Mensching den Stoff erzählend zu entfalten weiß, denn erst dadurch wird die Lektüre zu einem Leseerlebnis“. Dieses Leseerlebnis sei allen Leserinnen und Lesern, die daran interessiert sind zu erfahren, warum die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so grauenvoll war, noch einmal nachdrücklich ans Herz gelegt. Ein großes Buch hat es nicht verdient, nach nur einer Saison ad acta gelegt zu werden. Dieser Roman war das Ereignis im letzten Bücherherbst 2018, und er ist es in diesem Herbst immer noch.
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