Lange Schatten der Vergangenheit
„Wie die Saat, so die Ernte“ und „Feuerprobe“, der 32. und 33. Fall von Donna Leons Commissario-Brunetti-Reihe, erzählen in unterschiedlichem Tempo von lang gehüteten Geheimnissen
Von Thomas Merklinger
Als jüngste Veröffentlichungen zu Donna Leons Commissario Guido Brunetti finden sich zwei Titel in den Regalen der Buchhandlungen: Wie die Saat, so die Ernte. Commissario Brunettis zweiunddreißigster Fall (So Shall You Reap) liegt im Taschenbuch vor und Feuerprobe. Commissario Brunettis dreiunddreißigster Fall (A Refiner’s Fire) ist in der Hardcover-Ausgabe erschienen. Wie immer seit dem 18. Fall sind die Bücher von Werner Schmitz übersetzt. Beide Romane führen in die Vergangenheit, schlagen dabei aber einen je anderen Ton an. Während der ältere fast schon beschaulich klassischen Pfaden folgt, ist der neuere düsterer und mündet in einem furiosen Finale, das auf dem Hintergrund des Vorgängers umso stärker wirkt.
Im venezianischen Spätherbst gibt es zunächst einmal wenig zu tun für Commissario Brunetti. Er hat genug Zeit, um die vier Regale mit Büchern, die er im Arbeitszimmer seiner Frau besitzt, auszusortieren und Platz für eine mehrbändigen Pausanias-Übersetzung zu schaffen. Für seinen Schwiegervater, den Visconte, soll er zudem Erkundigungen über den möglichen Verkauf eines Palazzo einholen. Zwischendurch gibt es eine Pecorino-Verkostung mit der Familie und es liegen Leistungsbeurteilungen sowie die üblichen Alltagsverbrechen der Lagunenstadt auf dem Schreibtisch. Zwar gibt es zu Beginn von Wie die Saat, so die Ernte einen kurzen Schreckmoment, als Sergente Alvise auf einer Gay-Pride-Demonstration in Treviso festgenommen wird, doch löst sich die Situation schnell in Wohlgefallen auf und der Kriminalroman schaukelt wie eine sanfte Bootsfahrt auf dem Canale Grande vor sich hin. Aber man ist ja nicht für wilde Verfolgungsjagden in Brunettis Venedig eingetaucht. Und auch der Commissario hält seine Eile gezügelt:
Wann immer ihn der Gedanke an die auf diesen lahmen Vaporetti vergeudete Zeit quälte, vergegenwärtigte er sich, wie er als Tourist fühlen würde, der das alles zum ersten Mal und zum Spottpreis von einem Euro vierzig zu sehen bekam. Erstaunlicherweise beruhigte ihn diese Vorstellung jedes Mal und ließ jegliche Ungeduld als Torheit erscheinen.
Wie sein Held hat es der Roman ebenfalls nicht eilig, die Kriminalhandlung voranzutreiben. Für den um eine Null ergänzten Aufpreis von vierzehn Euro darf man den Polizisten bei dieser kriminalistischen Entschleunigungsübung begleiten. Wie die Saat, so die Ernte beschäftigt sich stärker mit dem Figurenensemble, bevor zur Hälfte des Buches dann doch noch ein Toter aus dem Kanal gezogen wird.
Der aus Sri Lanka stammende Mann gibt dabei nicht nur Rätsel auf, weil sich in seiner Hosentasche etwas findet, was zunächst „wie ein kurzes Stück einer ungekochten penne“ aussieht, sich dann aber als menschlicher Fingerknochen entpuppt. Seltsam scheint zudem, dass er sich offenbar für den politischen Terror der 1980er Jahre und die Roten Brigaden interessiert hat und neben den Kriminalromanen, mit denen er sein Italienisch verbesserte, eine Sammlung linker Flugblätter und Sachbücher zu diesem Thema im Regal stehen hatte. Ein Motiv, warum jemand den praktizierenden Buddhisten hätte ermorden wollen, fehlt ebenfalls. Brunetti selbst ist dem Mann bereits begegnet, als er für seinen Schwiegervater Informationen über den Palazzo del Leone einholen sollte. Das Mordopfer kümmerte sich um das Anwesen, weshalb er das Gartenhaus bewohnen durfte, wo er sich zudem heimlich um einen kleinen, herrenlosen Hund gekümmert hatte.
So richtig scheint sich der Roman aber nicht für die Kriminalthematik zu interessieren, ist es zuletzt doch eine aus dem Hut gezauberte Überwachungskamera, die zur Lösung des Verbrechens beiträgt. In einem märchenhaften Finale bringt schließlich das geschundene Hündchen seinen Peiniger zu Fall. Dessen Strafe ist dann auch nicht weltlicher, sondern symbolischer Natur, während das Tier seinen Lebensabend im benachbarten Nonnenkloster verbringen darf. Stärkerer Fokus liegt hingegen auf den Nebenfiguren. Außer neuen Erkenntnissen zu Alvise wird bekannt, dass sich der Chefpathologe Ettore Rizzardi in den Ruhestand verabschieden wird. Im Nachfolgeroman dann spielen der Labortechniker Enzo Bocchese und seine Leidenschaft für antike Götterstatuetten sowie die aus Neapel stammende Kommissarin Claudia Griffoni eine größere Rolle.
Feuerprobe greift das Thema der Jugendkriminalität auf, das in Italien unter dem Stichwort sogenannter ‚Babygangs‘ seit einigen Jahren immer wieder in den Schlagzeilen auftaucht und in früheren Brunetti-Romanen Leons bereits nebenbei Erwähnung gefunden hat (etwa in Geheime Quellen, dem 29. Fall). In Wie die Saat, so die Ernte wiederum diskutieren die Polizisten einen brutalen Zusammenstoß zweier Jugendgruppen, bei dem ein schwerverletzter Zwölfjähriger zurückgeblieben ist. Die Erzählinstanz rekapituliert die gesellschaftlichen Entwicklungen, indem sie die Delinquenz aus Ladeneinbrüchen während der Corona-Zeit herleitet:
[…] dann aber hatten diese jungen Burschen – manche gerade mal zwölf Jahre alt – den Spaß an der Sachbeschädigung verloren und sich unterhaltsameren Formen von Gewalttätigkeit zugewandt. Wie die meisten Raubtiere bevorzugten sie schwächere Opfer; ideale Ziele waren junge Frauen oder notfalls Jungen in ihrem Alter, solange diese ihnen zahlenmäßig unterlegen waren.
Die ambivalente Darstellung der Babygangs, die einerseits (in der Übersetzung zumindest) altertümlich als ‚Burschen‘ bezeichnet, andererseits mit ‚Raubtieren‘ verglichen werden, setzt sich in Feuerprobe fort.
Hier haben sich zu Beginn zwei dieser ‚Babygangs‘ über soziale Medien hochgeschaukelt und treffen nördlich des Markusplatzes auf der Piazzetta dei Leoncini zusammen, wo die kleinen Löwen (‚leoncini‘) übereinander herfallen. Weil dies allerdings nachts zum Wachwechsel geschieht, sind bald schon sieben Polizisten vor Ort, um die eben noch aufgeputschten Jugendlichen in eingeschüchterte Kälbchen zu verwandeln und sie wie „Cowboys“ auf die Wache zu treiben, wo auch alle 22 ohne Fluchtversuche ankommen. Der Jüngste von ihnen nässt sich auf dem Weg dorthin sogar ein. Hier begegnen sie zudem Sergente Macaluso, der aufgrund seiner Passion für den amerikanischen film noir der 40er und 50er Jahre („Die mit den harten Jungs“) dafür sorgt, dass die zuvor mit Eisenstangen bewaffneten Mini-Gangster widerstandslos und ohne Widerworte ihre Handys abgeben. In dieser unplausibel wirkenden Boomer-Fantasie werden die rebellischen Jugendlichen, die eben noch ein Optikergeschäft geplündert haben, auf einmal sonderbar handzahm. Verstärkt wird das durch die deutsche Übersetzung, wenn die „boys“ des Originals an einer Stelle zu „Knaben“ mutieren.
So bleibt das beschauliche Venedig von allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen in Italien zwar nicht verschont, in diesem Venedig jedoch gilt noch das Wort und der gestrenge Blick der Älteren. Bis zum frühen Morgen haben zudem die mehr oder weniger entsetzten Eltern ihre bislang offenbar nicht vermissten Kinder abgeholt. Nur der Vater eines Jungen, Orlando Monforte, ist als einziger nicht auf der Polizeiwache aufgetaucht. Aus Mitleid und weil sie den gleichen Heimweg hat, nimmt sich die Kommissarin Claudia Griffoni Orlandos an, bringt ihn nach Hause und stößt damit weitere Verwicklungen an. Mit seinem Vater, einem dekorierten Helden aus dem Irakkrieg, webt sich die Vergangenheit in den Roman: Es geht um einen Selbstmordanschlag 2003, bei dem es im südirakischen Nasiriya neunzehn italienische und neun irakische Tote zu beklagen gab. Es geht zudem um Heldenmut und um Antikenhehlerei. Die Handlungsstränge der Jugendgewalt und des Antiquitätenhandels werden mit dem Überfall auf den Renaissancefiguren sammelnden Kriminaltechniker Bocchese verbunden. Nachdem er bereits über das respektlose Verhalten eines benachbarten Teenagers geklagt hat, wird er in seiner Wohnung überfallen, schwer verletzt, wobei auch – viel schlimmer für ihn – einige seiner kostbaren Statuen mutwillig beschädigt werden.
Auch ohne Mordermittlungen entwickelt der Roman eine Dynamik, die sich vor allem daraus speist, dass Brunetti in die einzelnen Erzählstränge involviert ist, insofern es um Menschen geht, mit denen er arbeitet und befreundet ist. Gleichzeitig spielt der Roman mit moralischer Empörung, indem wohldosierte Ungerechtigkeiten eingeführt und – stärker als im Vorgänger – mit unsympathischen Figuren verbunden werden. Neben dem machtversessenen Teenager Gianpaolo Porpora, dem Anführer des „Löwen“ genannten Jugendgang-Rudels, taucht mit Beniamino Cresti ein widerlicher Avvocato auf, der sich auf Griffoni eingeschossen hat. Trotz des zentralen Themas geht es allerdings weniger um Ursachen und Ausprägungen von Jugendgewalt, sondern eher um andere Fragen, etwa den Wert der Kultur. Das Aufhänger-Thema der Babygangs ermöglicht allerdings einen spannungs- und ereignisreichen Kriminalroman.
In den jüngsten Romanen Leons erwachen die Geister der Vergangenheit zu neuem Leben. In Wie die Saat, so die Ernte sind das die politisch aufgeladenen Zeiten der Achtziger. Soziale Fragen und Kapitalismus durchziehen unterschwellig den Text, wobei sich die größten Redenschwinger aus Brunettis Studienzeit für das Geld entschieden haben und inzwischen höchste Ämter besetzen. Die tödlichen, begraben geglaubten Fehler früherer Tage holen die Figuren jedoch in beiden Büchern ein. Daneben schleichen sich nebenbei eingestreute soziopolitische Tendenzen in den Text, wenn man im älteren Roman erfährt, dass der eine das Lega-Blatt La Verità abonniert, ein anderer in eine Bar mit faschistischen Dekorationen gestolpert ist. In Feuerprobe dann übt sich ein blonder Nachwuchsdemagoge in massenpsychologischer Manipulation, um schließlich in Nacht und Zukunft zu verschwinden. Auch wenn mit Wie die Saat, so die Ernte ein ruhiger, klassischer Kriminalroman vorliegt, zeigen sich doch dunkle Vorahnungen, die spätestens mit dem jüngsten Roman erkennen lassen, dass sich die Zeiten ändern. Auch in Venedig.
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