Da geschah es. In dem Moment.

Die chilenische Autorin Lina Meruane erzählt in ihrem Roman ,,Rot vor Augen“ vom plötzlichen Erblinden

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geplatzt. Dunkles Blut. Dieses Gesicht. Stolpernd. Morgen …. dies sind die Überschriften der ersten fünf Kapitel, ein jedes nur eine bis zwei Seiten lang. Stakkatoartig erzählt die chilenische Autorin Lina Meruane (*1970), die seit mehr als zwanzig Jahren in New York lebt und lehrt, eine persönliche Erfahrung: Seit langem hatten die Ärzte ihr gesagt, in ihren Augen ticke eine Zeitbombe, Adern könnten platzen, sie könne vorübergehend oder für immer erblinden. 

Und nun war es geschehen, auf einer Party. Was folgt, immer in diesem drängenden, poetischen wie präzisem Ton, ist zum einen die Geschichte der  vorübergehenden Erblindung, zum anderen die messerscharfe Analyse, was die Krankheit mit einem Menschen macht, mit seinem Alltag, vor allem mit der Liebesbeziehung. Gerade erst hatten ihr Freund und sie beschlossen, in eine etwas größere Wohnung umzuziehen und das gemeinsame Leben zu stabilisieren. Die Ich-Erzählerin, Lucina oder Lina, möchte die Pläne nicht umstürzen, es ginge auch gar nicht, denn die Möbelpacker stehen bereit. Aber wie kann man Normalität wahren, wenn nichts mehr normal ist?

Ohne einen Anflug von Larmoyanz  wechseln die Kapitel, in denen die Autorin ihre Ängste, Zweifel, Unsicherheiten und die Besuche beim Spezialisten beschreibt mit jenen, die den quälenden Selbstbefragungen gelten: Wird die Liebe halten, wird sie diese Situation überdauern, ohne Schaden zu nehmen? Wird sie jemals wieder schreiben können, das Buch beenden, das halb fertig in der Schublade liegt? Die Erzählerin gerät in eine extreme Abhängigkeit von ihrem Partner Ignacio, eine Lage, die ihr unbekannt ist und die sie innerlich ablehnt, obwohl sie jede Hilfe braucht. Der Arzt empfiehlt  ihr, einige Wochen bei der Familie in Santiago zu verbringen, während sie auf eine Besserung oder eine Operation wartet. So lernen wir die Eltern kennen, beide sind Ärzte, die zwei Brüder, erfahren Details über das komplizierte Verhältnis der Autorin zu ihrer Mutter, ein paar Erinnerungen aus der Kindheit,  die ewigen Unterhaltungen am Mittagstisch über Krankheiten und Patienten, die Fahrten ans Meer.  Ignacio stößt nach seinen Vorträgen in Argentinien hinzu, aber Lina hatte ihn gezwungen, sie während dieser Zeit nicht anzurufen, er solle in Ruhe entscheiden, ob er ein Leben mit einer möglicherweise blinden Partnerin wirklich aushalten wolle.

Allmählich ändert sich die Beziehung: die Kranke wird psychologisch und emotional stärker, vielleicht durch ihre offenkundige physische Schwäche, und so verlangt sie Mögliches und auch Unmögliches von Ignacio, es entwickelt sich ein permanenter Liebeskampf. Zurück in New York, folgt die Operation, das bange Warten.

Lina Meruane macht aus diesem Roman über eine „Krankheit“ ein packendes  Leseerlebnis:  Verstörende Bilder, ironische Sentenzen, brillante intellektuelle Kommentare, und alles wird mit einem Tempo erzählt, dass der Leser manchmal innehalten möchte,  um sich über die Schönheit eines Satzes, alles herausragend übersetzt von Susanne Lange, zu freuen. Rot vor Augen erhielt mehrere Auszeichnungen, wie den Premio Sor Juana Inés de la Cruz in Guadalajara/ México und  den Anna Seghers Preis. Zurzeit lebt die Autorin als Gast des DAAD in Berlin und beendet einen neuen Roman. Darauf freuen sich ihre Leser schon jetzt, denn die Autorin zählt zu den hochtalentierten Stimmen ihrer Generation.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Lina Meruane: Rot vor Augen. Roman.
Aus dem chilenischen Spanisch übersetzt von Susanne Lange.
Arche Verlag, Hamburg 2018.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783716027660

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