Nachrichten vom Dach der Welt

Reinhold Messner bietet in „‘Gehe ich nicht, gehe ich kaputt.‘ Briefe aus dem Himalaya“ spannende Einblicke in die faszinierende wie auch gefährliche Welt des Höhenbergsteigens und die Geschichte des Alpinismus

Von Bernhard JudexRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Judex

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mein Bergsteigen ist mehr kultureller Natur als sportliche Lebensäußerung. […] Bergsteigen als Spaziergang durch die Erdgeschichte sowie Vertiefung in die Natur des Menschen.“ Diese Sätze aus der Einleitung in Reinhold Messners neuester Publikation, einer eindrucksvollen Sammlung von Briefen und Tagebucheintragungen aus 50 Jahren seiner Himalaya- bzw. Karakorum-Expeditionen, aber auch von Briefen anderer berühmter Bergsteiger, die seit dem 19. Jahrhundert die höchsten Gipfel der Welt zu bezwingen suchten, könnte man als Understatement auffassen. Angesichts der gewaltigen, gemessen an den Erfahrungen eines durchschnittlichen Alpinisten unvorstellbaren Anstrengungen, die in den ausgewählten Dokumenten stets deutlich zutage treten, wäre dies durchaus naheliegend. Keine einzige der in dem Buch erwähnten Extremtouren mit ihrer unvergleichbar faszinierenden und zugleich befremdenden Herausforderung an Kondition, Konzentration, technisches Können und nicht zuletzt menschlichen Überlebenswillen kann ernsthaft als „Spaziergang“ gelten. In diesem Sinn wäre selbst ihr Anspruch, eine „sportliche Lebensäußerung“ zu sein, stark untertrieben. Doch lässt man sich als Ersatz für die rauschhaften Höhenerlebnisse dieser regelrecht wahnwitzigen Unternehmungen, um die höchsten Punkte unserer Erde zu erklimmen, auf das Abenteuer des Lesens der vorliegenden Dokumente ein, so kann man erahnen, dass es dem Südtiroler Bergsteiger ebenso wie seinen Vorgängern um durchaus mehr als um das Sammeln von Gipfelsiegen und Rekordleistungen gegangen ist.

Reinhold Messner hat als Erster alle 14 Achttausender bestiegen, zum Teil im Alleingang. Im Unterschied zu den namhaften Pionieren aus der Frühzeit des Alpinismus bis hin zu den 1950er-Jahren – wie Albert Mummery, Willy Merkl, Willo Welzenbach, Karl Wien, Maurice Herzog oder Hermann Buhl, von denen er zahlreiche Briefe und Notizen ihrer Expeditionen wiedergibt – gelang Messner dabei nicht nur der Verzicht auf Sauerstoff aus Flaschen, sondern durch die Innovation des sogenannten „Alpinstils“ eine völlig neuartige Technik für das Höhenbergsteigen. Anstelle der aufwändigen sowie kostspieligen Unternehmungen früherer Himalaya-Begehungen mit einem Dutzend Teilnehmer, begleitet von Forschern und einer Heerschar an Trägern und Helfern, reduzierten Messner und seine Teams die Ausstattung auf das Allernotwendigste. Freilich musste man sich an diese Vorgehensweise, die ein rasches Aufsteigen erlaubte, erst langsam herantasten. Deutlich wird dies etwa in einem Brief vom August 1975, der die Besteigung des Gasherbrum I mit Peter Habeler schildert:

Nach ausreichender Höhenanpassung wollen wir über zwei – drei Biwaks zum Gipfel und mit zwei Biwakierungen zurück ins Basislager. Ohne den Weg vorzubereiten, ohne Hochlager, ohne Trägerunterstützung. Natürlich ohne Sauerstofflaschen, die viel zu schwer wären, um schnell genug steigen zu können. Diese Logistik ist getragen vom Verzicht: Verzicht auf alles Überflüssige. […] Das Experiment, das wir wagen, ist nicht riskanter als eine schwerfällige Expedition mit zehn oder mehr Teilnehmern. Im Gegenteil sind die Gefahren geringer, denn nur wir beide werden ausgesetzt sein, ausgeliefert der dünnen Luft und den Gefahren oberhalb des Basislagers.

Liest man im Vergleich dazu etwa die Briefe von Hermann und Robert von Schlagintweit an Alexander von Humboldt, der den beiden Naturforschern 1855 im Auftrag des preußischen Königs und der Ostindischen Kompanie ihre Reise nach Indien und bis in das Hochgebirge vermittelt hatte, oder des Briten Mummery, der 1895 mit einem Expeditionsteam erstmals den Nanga Parbat besteigen wollte, so werden die Unterschiede deutlich und man taucht ein in die spannungsgeladene wie auch tragische Geschichte unzähliger, meist erfolgloser Versuche der Gipfeleroberung. Ohne Mummerys Vorhaben und seine Verdienste, auf die auch Messner in einem Brief anlässlich seiner eigenen Erstbesteigung des Nanga Parbat 1978 selbst eingeht, zu schmälern, so wirken dessen anfangs euphorische Mitteilungen angesichts des Ausgangs der Unternehmung geradezu naiv: „Wohl wird die dünne Luft uns zu schaffen machen, aber schaden kann sie uns auch nicht“, heißt es etwa, oder: „Ich glaube kaum, daß uns der Nanga mit ernsthaften bergsteigerischen Schwierigkeiten kommen wird.“ Am 23. August 1895 erreicht das letzte Lebenszeichen Mummerys die Außenwelt, ehe er und zwei Sherpas für immer im Gletschereis verschwinden – die ersten unzähliger weiterer Opfer dieses gefährlichen Gipfels. Schon bald sollte er zum „Schicksalsberg der Deutschen“ werden, nachdem die großangelegte Himalaya-Expedition 1934 mit dem Tod ihres Leiters Willy Merkl sowie weiterer Bergsteiger und Träger endete. Eine 1937 vom Dritten Reich finanzierte Unternehmung forderte ebenfalls den Tod ihres Leiters Karl Wien – von ihm sind in Messners Textsammlung Tagebücher seiner Kangchendzönga-Besteigung 1931 wiedergegeben – sowie 15 weiterer Bergsteiger und Sherpas durch eine Lawine. Erst dem Tiroler Hermann Buhl gelingt 1953 die erfolgreiche Besteigung des „Nanga“. Sie führte jedoch zu einem Konflikt bis hin zum Gerichtsprozess zwischen Buhl und dem autoritären Expeditionsleiter Karl Herrligkoffer, mit dem später auch Reinhold Messner eine juristische Auseinandersetzung führen sollte.

Vor dem Hintergrund dieser alpinhistorischen Ereignisse, die im vorliegenden Brief- und Aufzeichnungsband auch meist nur am Rande angedeutet werden, in deren Bann man aber automatisch gezogen wird, erhebt sich Messner keineswegs über die Leistungen seiner Vorgänger oder Mitstreiter – neben Peter Habeler sei hier Hans Kammerlander stellvertretend für viele andere genannt. Tragisch genug ist auch der in der Öffentlichkeit vielfach diskutierte und unterschiedlich dargestellte Tod Günther Messners beim Abstieg an der Diamirflanke 1970. Erst viele Jahre später findet man im ausgeaperten Gletscher sterbliche Überreste des Verunglückten, was Reinhold Messner 2005 endlich die Gewissheit gibt, dass sein Bruder von einer Lawine verschüttet wurde und ihm im Rahmen einer Feuerbestattung die Möglichkeit gibt, endgültig Abschied zu nehmen.

Im Zentrum der Briefe und Tagebucheinträge Messners und seiner kühnen Vorstreiter steht immer wieder das Verhältnis zwischen der Sehnsucht des Bergsteigens selbst, dem unabänderlichen Reiz des Abenteuers, bislang für unmöglich gehaltene Routen zu entdecken und damit ein Stück Alpingeschichte zu schreiben, sowie der Sehnsucht nach Hause zurückzukehren. Dort warteten die Lieben daheim oft Wochen, ja Monate, auf Nachrichten aus der Ferne: Damals wurden Briefe von Läufern dem nächstgelegenen Ort übergeben, um über viele Wege und schließlich per Luftpost die Empfänger zu erreichen. Zugleich erzählen die Briefe, wie Messner selbst schreibt, „das Höhenbergsteigen meiner Zeit – mit meinen Briefen aus den letzten fünfzig Jahren –, und sie sind, ergänzt um Schlüsselbriefe aus erster Hand aus 200 Jahren Himalaya-Sehnsucht, wohl die authentischste Form der Berichterstattung aus dem Schneeland.“

Vor allem mit den Briefen nach 2010 eröffnet sich dabei auch ein sehr kritischer Blick auf die Entwicklung des Alpinismus – seine touristische Vermarktung, die gerade in Nepal oder Pakistan zur Existenzgrundlage vieler Einheimischer geworden ist. Messner, der seit vielen Jahren ein Hilfsprojekt für die Bergvölker des Himalaya betreibt, sieht dabei zwei einander gegenüberstehende Formen als Problem: zum einen den „Pistenalpinismus“ großer Reiseveranstalter, die Jahr für Jahr Tausende von zum Teil ungeübten Bergsteigern anlocken, die es ohne die moderne Infrastruktur in der Komfortzone und die Hilfe der Sherpas allein nie auf die Gipfel der Achttausender schaffen würden, zum anderen das „parasitäre Bergsteigen“ vieler einzelner Individualtouristen, die sich der vorgegebenen Routen bedienen und so den Unmut der Bergführer auf sich ziehen. Beides führe zur Zerstörung der einzigartigen, majestätischen Bergwelt am Dach der Welt und habe „das traditionelle Bergsteigen ad absurdum geführt“.

Dass man sich der großen Faszination der Gebirge, nicht zuletzt des Himalaya und Karakorum, nur schwer entziehen kann, belegt dieser Band auf das Eindrucksvollste. Gerade in Zeiten eingeschränkter Reisemöglichkeiten wie momentan bringen uns Bücher wie Messners Briefe aus dem Himalaya ein einzigartiges Stück Welt, das zu betreten wohl ohnehin besser ein stilles Geheimnis bleiben und mit mehr Bewusstsein und Demut vor der Natur erfolgen sollte, aber auch die schicksalhafte Geschichte des Alpinismus näher.

Titelbild

Reinhold Messner: »Gehe ich nicht, gehe ich kaputt.«. Briefe aus dem Himalaja.
Malik Verlag, München 2020.
288 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783890295022

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