Ein Mann unter ständigem Rechtfertigungsdruck

Christian Meyer thematisiert in seinem Debütroman „Flecken“ Asexualität

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein Roman mit einem Begräbnis beginnt, folgt meist die Geschichte der oder des Beerdigten. So auch in Christian Meyers Debütroman Flecken, in dem die Vergangenheit der ehemaligen Freundin des Protagonisten Erik beleuchtet wird. Aber: Es ist nicht Neeles Geschichte, die im Mittelpunkt des Geschehens steht. Vielmehr lässt Meyer die Leser:innen teilhaben am Leben des asexuellen Erik. Und damit verbunden sind die vielen Fragen, die er an gesellschaftliche Konventionen stellt.

Erzählt wird aus der personalen Perspektive Eriks. Abwechselnd in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit wird das Leben der Hauptfigur geschildert. Neele scheint neben seinem besten Freund Bruno die einzige Person zu sein, die ihn und seine Zweifel an Geschlechtsrollenbildern ernst nimmt. Erik beschäftigen nämlich Fragen nach der „richtigen“ Männlichkeit. Er wächst in der kleinen verschlafenen Ortschaft Flecken auf, einem Mikrokosmos mit festgefügten Gesellschaftsstrukturen und Geschlechtervorstellungen. An diesen Ort kehrt er nach dem Suizid Neeles zurück, wodurch Flashbacks bei ihm ausgelöst werden, die seine Entwicklung, sein Zweifeln an sich selbst, nachzeichnen. Mit niemandem sonst kann sich Erik in seinen Jugendjahren so ehrlich und frei unterhalten wie mit Neele:

Ich meine es ganz ernst. Ich finde es furchtbar, ein Mann zu sein. Oder besser gesagt, als Mann von dieser Gesellschaft gelesen zu werden – mit all den Erwartungen und Zuschreibungen. Es wäre so schön, würde man Menschen einfach in die Schublade Mensch stecken, anstatt in die für Frau und Mann.

Man könnte beinahe annehmen, dass Plädoyer und Botschaft den Roman zu einer Art engagierter Literatur machen. Zuweilen spricht Erik in seinen Monologen sämtliche Kerngedanken der Geschlechterforschung aus. Insofern verwundert es auch nicht, wenn er in Gegenwart Neeles erklärt, wer Judith Butler ist. Obendrein zitiert er die Philosophin, als würde sein Zweifeln an klassischen Männlichkeitsbildern vom Erwerb eines akademischen Grades abhängen. Doch die Gesprächsszenerie ist eine andere: Beim Reden greift Erik zwischendurch in die Schale mit den Erdnussflips oder die Unterhaltungen finden auf der Couch statt, obwohl er sich zugleich von einem Spielfilm berieseln lässt. Dass Erik dabei oft selbst sogenanntes Mansplaining betreibt, mutet wie ein geschickter ironischer Kniff Meyers an.

Die zahlreichen Gespräche zwischen Erik und Neele erinnern an den Platonischen Dialog. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass Platons Dialoge sowie der Mythos der Kugelmenschen bei Erik explizit Erwähnung finden, denn als asexueller Mensch setzt er auf die platonische Liebe, „die höchste Form der Liebe, die im Leben überhaupt erreicht werden kann.“ Im patriarchalen und sexualisierten Mikrokosmos sieht sich Erik vor allem als Heranwachsender unter ständigem Rechtfertigungsdruck. Und so ist es tröstend, dass Erik mit zunehmenden Alter als asexueller Mensch ernster genommen wird, etwa von dem lesbischen Pärchen Merle und Paula.

Meyer legt Erik beim Monologisieren, Erklären und Reflektieren erschöpfend viele Worte in den Mund. Manche Dialoge hätten durch Kürze mehr überzeugen können. Zwar hält der Autor einen grundsoliden Erzählton, sprachlich hätte er sich jedoch spielerischer, unkonventionellerer Ausdrucksmöglichkeiten bedienen können, um die Kritik und Absage an Konventionen auch auf Ebene der Sprache zu untermauern.

Nichtsdestoweniger ist die Darstellung des Protagonisten gelungen. Selbst wenn Erik in seiner überhöhten Larmoyanz teilweise überzeichnet wirkt, so zeigt er dennoch, dass auch Männer unter der von ihm verachteten „männlichen Kultur" leiden und gegen gesellschaftliche Erwartungen ankämpfen müssen. In den Rückblenden wird etwa beleuchtet, dass selbst Erik sich männlicher Gruppendynamik angeschlossen hat. Die sogenannten „Blue Boys“ sind für Neele „ein Paradebeispiel für patriarchale Strukturen und die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts gewesen.“ Dass sich Erik schon als Jugendlicher in dieser misogynen, heteronormativ patriarchal agierenden Gruppe fehl am Platz fühlte, liegt auf der Hand. Antworten und Ausdrucksmöglichkeiten findet er in der Literatur, vorzugweise bei Annette von Droste-Hülshoff und Theodor Storm, die er bei Gelegenheit gerne zitiert. Im Rahmen des Konfirmationsunterrichts findet er im Römerbrief des Neuen Testaments zudem eine Textstelle, die er als Rechtfertigung für sein Desinteresse an Sexualität heranzieht.

Meyer problematisiert in Flecken nicht die Asexualität. Vielmehr wird mit den Augen Eriks das kleinbürgerlich-patriarchale Denken über Geschlechter-Klischees in ihren absurden Erscheinungsbildern offengelegt und längst verstaubten Maskulinitätsbildern, die sich über Saufspiele, dem Erzählen von Frauen- und Schwulenwitzen und männlichem Gebalze definieren, eine Absage erteilt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christian Meyer: Flecken.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2022.
300 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783863913175

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