Migration als moralische Herausforderung

Kurz vor seinem Tod hat Zygmunt Bauman in einem Essay über Migration und Panikmache die Angst vor Flüchtlingen analysiert

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

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Auf der Flucht war Zygmunt Bauman selbst mehrfach: Von Polen floh der Soziologe mit seiner jüdischen Familie vor den Nazis in die Sowjetunion. Nachdem er 1968 aus der kommunistischen Partei ausgetreten war, ging er nach Israel bis er schließlich einen Ruf an die University of Leeds erhielt. Dort blieb er bis zu seinem Tod im Januar 2017 und schrieb mit über 90 Jahren einen seiner letzten, erhellenden Essays.

Dass die eigenen Erfahrungen als Flüchtling das Mitgefühl gegenüber anderen Flüchtlingen stärken mögen, mag man kaum bestreiten. Doch keine Erfahrung als Geflüchteter rechtfertigt kaum die mangelnde Empathie gegenüber den Menschen, die uns momentan um Hilfe bitten, die – wie der Originaltitel des Essays, Strangers at Our Door, bekräftigt – zurzeit an unsere Türen klopfen.

Um genau diese Gleichgültigkeit gegenüber den Flüchtlingen geht es Bauman in seinem Essay, der den roten Faden in der Gemengelage der verschiedenen aktuellen Probleme sucht und findet und nach einem Grund für diese von Papst Franziskus angeprangerte „globalisierte Gleichgültigkeit“ forscht. Migration wird für ihn vor allem zu einer moralischen Herausforderung. In der momentanen „Flüchtlingskrise“ erkennt Baumann unter Rückgriff auf Hannah Arendts „Negation der Moral“ eine moralische Neutralisierung, nämlich eine „Adiaphorisierung“ des Themas Migration: „Migranten und das, was man mit ihnen macht, werden nicht unter moralischen Gesichtspunkten bewertet.“ Flüchtlinge werden als Krankheitsüberträger, Profiteure der europäischen Sozialsysteme oder als Terroristen wahrgenommen.

Diese Unterstellungen führten zu einer Entmenschlichung und diese wiederum bringe einen Ausschluss „aus der Kategorie der legitimen Träger von Menschenrechten“ mit sich. Dass Asylrecht und Auswanderungsfreiheit Rechte aller sind und dass – wie Kant schon erklärte – „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“ scheint man gerne zu verdrängen, besonders dann, wenn es um einen „Aufnahmestopp“ oder eine „Obergrenze“ der Flüchtlinge geht. Einerseits moralische Verantwortung, andererseits ihre Ablehnung gegenüber bestimmten Menschen – diese Ambivalenz der Wahrnehmung, auch als „kognitive Dissonanz“ bekannt, scheint nach Bauman ein grundlegendes Problem unserer Gesellschaft zu sein.

Ebenso hellsichtig interpretiert Bauman die gegenwärtige „Politik der Versicherheitlichung“ am Beispiel Ungarn oder Frankreich. Sicherheitspolitik, Panikmache und das gezielte Schüren von Ängsten entpuppen sich als Ablenkungsmanöver, um von den eigentlichen Problemen, wie die mangelnde Garantie hochwertiger Arbeitsplätze, Zuverlässigkeit und Stabilität des sozialen Status, effektiver Schutz vor sozialem Abstieg und Sicherheit vor Verletzungen der Würde, abzurücken. Der Flüchtling wird damit zum Sündenbock für die Probleme des Westens. Er wird zum Schuldigen, zum Beispiel für den unsicheren Arbeitsplatz, der allerdings schon in Gefahr war, unabhängig von der Flüchtlingskrise.

Die Appelle Orbans („Alle Terroristen sind Migranten“) oder Hollandes („Wir müssen sicherstellen, dass niemand hereinkommt, um Verbrechen jeglicher Art zu begehen“) intensivieren nicht nur Ängste, sondern rufen zum Widerstand gegen einen zum Feind erklärten Gegner auf. Problematisch ist die Gleichsetzung von Migrationsproblemen und nationaler Sicherheit laut Bauman auch, da damit Ziele von al-Qaida, wie das Schüren islamfeindlicher Gefühle, unterstützt werden.

Die Angst der Gesellschaft, die auf die von Beck ausgerufene Individualisierung zurückzuführen sei, sorge schließlich auch für das „Gespenst des starken Mannes“ bzw. für ein „Gespenst der starken Frau“, das dem Wunsch nach nationaler Einheit neue Hoffnung schenkt. Ein Trugschluss, wie Bauman, den Historiker Eric Hobsbawm zitierend, feststellt, denn „ethnische Gemeinschaften und Gruppen in modernen Gesellschaften sind vom Schicksal zur Koexistenz verurteilt“. Nur als imaginäre Gemeinschaft hat Nation Bestand. Der Ausweg ins Nationale ist eine Schimäre, aber trotzdem für viele eine Lösung.

Migration ist so alt wie der Mensch selbst, schließlich waren die ersten Menschen bereits Nomaden. Was derzeit gerne als altes Problem dargestellt wird, ist in einiger Hinsicht aber doch neu. Nicht zuletzt lässt sich die Angst vor den Migranten auch als Angst vor dem eigenen Unglück interpretieren: Sie verkörpern Unsicherheit und den Zusammenbruch einer Ordnung. Diesen „Boten des Unglücks“, wie Brecht sie nannte, öffnet man nicht gerne die Tür, denn ihre Ankunft wirft die Frage nach der eigenen prekären Situation und einer möglichen Flucht auf: In einer unsicheren Welt kann jeder zum Flüchtling werden.    

Viele Gedanken Baumans sind selbstverständlich nicht neu, doch scheint ihr Erinnern nötig, um die Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher und politischer Reaktionen zu entlarven. Wenn es allerdings um die Lösung der Probleme geht, bleibt die Antwort des Soziologen doch sehr in der elementaren Breite: Bauman setzt Hoffnung auf ein Verstehen, auf eine Horizontverschmelzung im Sinne Gadamers, das Gespräch betrachtet er als Königsweg, die Verweigerung des Dialogs als Hindernis. Wie dieses Gespräch allerdings funktionieren kann oder soll, verrät er nicht. Seine Schlussfolgerung, dass es keinen anderen Ausweg aus dieser Krise als die Solidarität zwischen den Menschen gebe, könnte ebenso vom Papst stammen. Immerhin: Wo ein Glaube ist, ist hoffentlich auch ein Weg.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Zygmunt Bauman: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
124 Seiten, 14,40 EUR.
ISBN-13: 9783518072585

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