Poetische Gegenwelten

Der Komparatist Norbert Miller bringt mit „Die künstlichen Paradiese“ ein lange geplantes Buchprojekt zu einem gelungenen Abschluss

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der aus Deutschland an den Ort seiner frühen Kindheit zurückgekehrte Graf Albano de Cesara lässt sich noch des Nachts auf die im Lago Maggiore gelegene Isola Bella rudern, um an ihrem höchsten Punkt mit verbundenen Augen den Sonnenaufgang zu erwarten. Als ihm dann zum passenden Zeitpunkt die Augenbinde abgenommen wird, bricht die lichtdurchflutete italienische Landschaft mit solch intensiver Kraft in sein Inneres, dass ihm die Welt wie neu geschöpft erscheint. Diesen Augenblick inszeniert Jean Paul in seinem Roman Titan mit sprachlichen Bildern höchsten Glücks angesichts der paradiesisch anmutenden Wirklichkeit, die wunderbarerweise noch in der Ferne die Kuppeln Roms ansichtig werden lässt. Was zunächst auf die Perspektive des Grafen bezogen ist, verselbständigt sich im Erzählen ins Allgemeine und stellt die sprachlich geschaffene Wunderlandschaft auch vor die Augen der Lesenden.

Jean Paul ist jedoch nicht der einzige Dichter, der poetische Gegenwelten schafft und einem prosaischen Geist entgegenstellt. Wo die Aufklärung die Welt ein gutes Stück entzaubert hat, zeigt sich eine Gegentendenz, die mit den Mitteln der Dichtung neuen Zauber sucht und das Exotische im Alltag, in paradiesischen Landschaften, märchenhaften Gegenwirklichkeiten oder drogeninduzierten Visionen findet. In Die künstlichen Paradiese. Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge stellt der emeritierte Komparatist Norbert Miller elf Dichter vor, deren Werke in diese künstlichen, kunstvollen Reiche der Fantasie führen. Die chronologisch geordnete Auswahl umfasst etwa einhundert Jahre und reicht von Nicolas Edme Restif de la Bretonne, der Mitte des 18. Jahrhunderts zu veröffentlichen begann, bis zu Adalbert Stifter und Charles Baudelaire im mittleren 19. Jahrhundert. Dazwischen finden sich deutsche, englische und französische Autoren und mit Edgar Allan Poe auch ein amerikanischer Schriftsteller.

Ist den betrachteten Werken gemeinsam, dass sie poetische Paradiese gestalten, ergeben sich freilich auch Unterschiede, die individuellen Einflüssen und Kontexten geschuldet sind. So kann das Wunderbare der Natur entspringen, deren überbordende Herrlichkeiten für die empfindsamen Seelen in den Werken Jean Pauls sichtbar werden und dem Traumhaften nahestehen – im Hesperus etwa, um ein weiteres Beispiel zu nennen, meint der betagte Emanuel, in Todeserwartung nach kurzer Ohnmacht im Paradies aufzuwachen. Sie können aber auch ins Unscheinbare des Alltags gemischt sein, wenn machtvolle Zauberreiche mit Nachtgeschirr (Der goldne Topf), Weihnachtsgaben (Nussknacker und Mausekönig) oder schnödem Gemüse (Die Königsbraut) verbunden sind, wie in den poetischen Märchenfantasien aus der Feder E.T.A. Hoffmanns. Andere Werke hingegen gehen auf die Wirkung von Rauschmitteln zurück: Am bekanntesten wohl ist die von Samuel Taylor Coleridge in seiner Biographia Literaria beschriebene Entstehungslegende zu dem lyrischen Fragment Kublai Khan, das sich einiger Gran Opium verdanke. In Gänze vor dem inneren Auge präsent gewesen, wäre der Text sicherlich vollständig zu Papier gebracht worden, wäre da nicht zum ungünstigsten Zeitpunkt jener unselige Geschäftsmann aus Porlock aufgetreten, um den Dichter so sehr in Beschlag zu nehmen, dass ihm die fehlenden Zeilen entfallen sind. Das wunderbare Xanadu jedoch lässt sich auch in der verknappten Beschreibung als äußerst prächtiger Ort denken.

Manche Gegenorte werden namentlich eingeführt, etwa das poetische Reich ‚Atlantis‘ in Hoffmanns Der goldne Topf, dem Märchen aus der neuen Zeit, worin der tollpatschige Studiosus Anselmus mit der schönen Serpentina nun ein „Rittergute“ bewohne, aber auch die Märchenreiche ‚Urdargarten‘ und ‚Hirdargarten‘ in Prinzessin Brambilla. Gemeinsam mit seinem Freund Ludwig Bauer hat Eduard Mörike das mythische Inselreich ‚Orplid‘ ausfantasiert und Edgar Allan Poe die titelgebende monomane Parkanlage in seiner Erzählung The Domain of Arnheim beschrieben. In Adalbert Stifters Nachsommer fungiert das Rosenhaus des Freiherrn von Risach mit seinem Garten als biedermeierliche Gegenwelt, die Nutzen und Schönheit miteinander verbindet.

Das Traumhafte kann sich jedoch auch in den Alltag mischen. Häufig bietet dabei der Orient einen exotischen Sehnsuchtsraum. Die Übersetzungen der orientalischen Märchensammlung der Tausendundeinen Nacht von Antoine Galland etwa regen nicht nur die Fantasie Restifs an, der als okzidentale Version des Kalifen Harun al Raschid in autofiktionaler Vermischung der Welten durch die Straßen des nächtlichen Paris streift und von seinen ins Wunderliche gesteigerten Begegnungen in Les Nuits de Paris, ou le Spectateur nocturne berichtet, sondern auch der junge Thomas De Quincey ist von der Märchenwelt des Orients (vor der Übersetzung durch Edward Lane in England als „The Arabian Nights’ Entertainment“ erschienen) beeindruckt. Der französische Lyriker und Journalist Gérard de Nerval setzt seine exotistische Begeisterung schließlich in die Tat um und bricht zu Jahresbeginn 1843 zu einer Orientreise auf, die zuvor schon durch extensive Lektüre vorbereitet worden ist. In Konstantinopel taucht er euphorisch in die Welt des Osmanischen Reichs ein, saugt das Leben auf, das wie eine Mischung aus Traum und Wirklichkeit erscheint, und nimmt es mit zurück nach Paris, um daraus „die Inspiration für seine dichterischen und publizistischen Aktivitäten“ zu ziehen. Noch der junge Charles Baudelaire schiffte sich als Achtzehnjähriger nach Indien ein, bleibt danach allerdings lieber in Paris. Die Erfahrung der exotischen Gegenwelt hat außer in dem Gedicht L’Invitation au voyage kaum Niederschlag gefunden. Statt der natürlichen Paradiese richtet sich sein Interesse eher auf die künstlichen: Les Paradis artificiels. Opium et Haschisch lautet der Titel seines Essays über Rauschmittel, dem schließlich – in thematischer Erweiterung – der Titel der vorliegenden Monographie entlehnt ist.

Norbert Miller stellt diese literarischen Paradiesdarstellungen in genauer Lektüre vor und verortet die Werke in ihrer Entstehungszeit, indem er auf Einflüsse und Kontexte eingeht. Die aus der Fremdsprache übersetzten, meist längeren Zitate werden unten auf der Seite im Original wiedergegeben, so dass man sie problemlos abgleichen kann. Obwohl die einzelnen Kapitel nebeneinanderstehen und jeweils verschiedene Paradiesfantasien präsentieren, zeigen sich doch deutliche Querverbindungen und geistige Beziehungen zwischen den vorgestellten Autoren. Der „tief in der deutschen Mentalität verwurzelte“ Gérard de Nerval etwa kann als „Mittler“ zwischen den Literaturen gelten. Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ aus dem Siebenkäs war Vorbild für die Sonette „Le Christ aux Oliviers“ in de Nervals Sonettfolge Les Chimères; sein Roman Aurélia, ou le Rêve et la Vie weist zudem einen deutlichen Bezug zu E.T.A. Hoffmanns Ritter Gluck auf, wenn zu Beginn gesagt wird, dass der Eintritt in das Traumreich durch Tore aus Elfenbein führe. Ein inhaltlich näherer Anklang an besagte Hoffmann-Stelle findet sich auch in Charles Baudelaires Künstlichen Paradiesen, zusammen mit einer Formulierung, die auf Gotthilf Heinrich Schuberts Die Symbolik des Traums anspielen könnte. Im Gegensatz zu Hoffmanns Erzählung, die Baudelaire aus der französischen Übersetzung bekannt sein dürfte, ist Schubert unübersetzt geblieben und könnte von de Nerval vermittelt worden sein. 

Mit Coleridge kommt ein anderer Strang poetischer Paradiese hinzu. Das mit William Wordsworth begonnene Gemeinschaftsprojekt der Lyrical Ballads wird bald zum Anlass einer Kontroverse, da sich Wordsworth zuletzt mit den fantastischen und ins Schauerliche ragenden Balladen Coleridges nicht mehr anfreunden konnte, die seiner eigenen Idee des Romantischen zuwiderliefen. The Rime of the Ancyent Marinere und vor allem das nie ganz vollendete Langgedicht Christabel leiten dunklere Paradiesfantasien ein – von Mary Shelley heißt es, dass sie bei Lord Byrons Vortrag der letztgenannten Ballade in jenem berühmten Literatursommer 1816 entsetzt den Raum verlassen habe. Steht die Schauerthematik bei der Darstellung Hoffmanns noch nicht im Vordergrund, zeigt sie sich dafür deutlicher bei Charles Nodier, der unter anderem mit den Gothic-Novellen Smarra, ou les Démons de la Nuit und La Fée aux Miettes das Schauergenre – von ihm selbst ‚le fantastique sérieux‘ genannt – in die französische Literatur einführt. Den Lyrical Ballads verdankt auch das lyrische Werk Poes sehr viel, das bei Miller mit der Ballade The Raven vertreten ist. Noch die Opium- und Rauschmitteltexte von Thomas De Quincey und des von ihm beeinflussten Charles Baudelaire weisen auf Coleridge zurück und führen nicht nur die fantasieanregenden Rauschzustände vor, sondern gehen auch auf die Schattenseiten des Konsums ein.

Miller greift in seinem beeindruckenden, knapp 900 Seiten starken Band einige Themen und Autoren auf, mit denen er sich in seiner langen und verdienstvollen Forscherkarriere beschäftigt hat, und hätte dabei problemlos noch weitere ergänzen können; Théophile Gautier beispielsweise, dessen Name im Umkreis des Pariser Club des Hachichins fällt, oder William Beckford, dem er 2012 eine Monographie gewidmet hat, hätten sich unter anderem problemlos mit einem je eigenen Kapitel einfügen können und tauchen so nur am Rande auf. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit poetischen Paradiesen, den leuchtend schönen wie den düsteren Gärten der Literatur, hätte selbst in der Beschränkung auf die hier vorgestellten rund einhundert Jahre durchaus weiteren Stoff geboten, wovon man doch immerhin in anderen Texten Millers lesen kann.

Michael Krüger erinnert sich in einem Vorwort zu der Essaysammlung Paradox und Wunderschachtel anlässlich des 75. Geburtstags von Norbert Miller 2012 an eine Notiz, die er als damaliger Lektor des Hanser Verlags 1976 anfertigte: Die zu diesem Zeitpunkt geplanten Projekte mit Miller würden sich wohl alle nicht realisieren lassen, sollte sich dieser entschließen, „sein Großprojekt über die Künstlichen Paradiese in Angriff zu nehmen.“ Für 1978 schließlich war das Buch angedacht, ist dann aber offensichtlich über anderen Aufgaben nicht realisiert, sondern in verstreut erschienenen Texten verfolgt worden. Mehr als 40 Jahre später liegt das fertiggestellte Werk nun aber doch in der damals von Miller gewünschten „Ausstattung (nämlich üppige)“ und „Erscheinungsweise (nämlich ganz wundervoller Einzelband)“ vor. Inhaltlich mag sich über die Jahre manches verschoben haben, das Ergebnis der Jahrzehnte langen Arbeit aber kann sich sehen lassen.

Millers komparatistische Beschäftigung mit der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und seine wissenschaftliche Expertise in diesem Themenbereich erlauben nicht nur den souveränen und kenntnisreichen Umgang mit den literarischen Texten dieser Zeit, sondern ermöglichen auch – im Verbund mit einem eleganten Stil – eine gleichermaßen unterhaltsame wie bereichernde Lektüre, die von Jens-Malte Fischer nicht zu Unrecht als „Summe eines Gelehrtenlebens“ beschrieben worden ist. 

Titelbild

Norbert Miller: Die künstlichen Paradiese. Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
887 Seiten , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352445

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch